Othmar Berg
Schuld und Versöhnung
Der Mensch im Spannungsfeld von Verfehlung und Versöhnung Einführung
„Schuld und Sühne" - wer kennt nicht — zumindest vom Hörensagen — den berühmten Roman Dosto-jewskijs. Heutigen Jugendlichen ist der Roman wahrscheinlich selten bekannt, doch das Thema taucht in ihrem Lebensumfeld vielfach auf. Vom so genannten „Park-Sünder" über den „Steuer-Sünder" bis hin zum „Kalorien-Sünder" und „Umwelt-Sünder" wird das Fehlverhalten der Mitmenschen in unserer Gesellschaft häufig mit dem Wort „Sünder" belegt. Im menschlichen Miteinander wird zwar oft nicht offen darüber gesprochen, doch jeder ist selbst schon mit Schuldvorwürfen konfrontiert worden. Wir machen uns ja meistens selbst Vorwürfe und spüren, dass da etwas nicht in Ordnung war und ist. Das Phänomen „Schuld" ist eng verbunden mit der Erfahrung des Scheiterns. Wer ist nicht schon oft in der Silvesternacht mit guten Vorsätzen in das neue Jahr gestartet und hat sich dann spätestens beim nächsten Silvesterfest eingestehen müssen, dass er die neuen Vorsätze nicht umgesetzt hat. Dies wird oft begleitet von dem Gefühl, ein Versager zu sein. Man macht sich selbst Vorwürfe. Scheitern und Schuld können in einen Prozess der Versöhnung und Vergebung münden, der Schuld auf- bzw. verarbeitet. Ein populärer Trend der Hirnforschung betrachtet die individuelle und kollektive Wahrnehmung von Schuld als Fiktionen (z. B. der Hirnforscher Gerhard Roth, Professor für Verhaltensphysiologie an der Universität Bremen, oder Wolf Singer). Theologen sind in die Diskussion eingetreten und versuchen die existenzielle Bedeutung der „Schuld" für unser Leben herauszuarbeiten. Zu beachten ist beim Gebrauch der Begriffe im Umfeld von „Schuld", dass es unterschiedliche Begriffsebenen gibt: die juristische Begriffsebene (Verbrechen - Strafe), die religiöse Begriffsebene (Sünde - Erlösung) und die existenzielle Begriffsebene (Schuld — Sühne). Des Weiteren ist zu differenzieren zwischen persönlicher Schuld und kollektiver Schuld sowie zwischen einem strukturellen, institutionellen und politischen Charakter der Schuld. Die personale Schuld ist meistens eindeutig feststellbar, da es einen Schuldner (Gläubiger) gibt, der für den eingetretenen Schaden, die übertrete-ne Norm, den missachteten Wert verantwortlich ist oder auf Grund seiner Gesinnung die geltenden Formen und Werte ablehnt. Mit der kollektiven Schuld verhält es sich ähnlich wie mit der personalen Schuld, allerdings mit dem Unterschied, dass hier der Schuldner (Gläubiger) eine Gruppe, Gesellschaft oder ein Volk ist. Beim Tatbestand der strukturellen Schuld kann der Schädiger und der Geschädigte sowie die übertretene Norm nicht eindeutig ermittelt und benannt werden. Auch die Unterscheidung zwischen „wirklicher Schuld" und „Schuld-Gefühlen" macht Sinn, da Schuld-Gefühle oft nicht primär im betroffenen Menschen, sondern sekundär entstanden sind.
Die Wahrnehmung von Schuld als strukturelle Schuld macht die religionspädagogische Auseinandersetzung mit der eigenen und der fremden Schuld problematisch. Der Verweis auf andere Instanzen und Faktoren, die zur eigenen Schuldentlastung dienen und auf die komplexe Verkettung vieler Schuld-Faktoren hinweisen, führt zu einer zunehmenden Unfähigkeit zu einem Schuldbewusstsein und einer Schuldwahrnehmung als Voraussetzung einer Schuldverarbeitung. Mangelndes Unrechts-bewusstsein scheint unsere Gesellschaft zu prägen. Schließt man den Aspekt der Erziehung zur Vergebung mit in die Überlegungen ein, wird die Sachlage noch komplizierter; denn Vergebung ist nur angesichts personaler Schuld, nicht aber struktureller Schuld möglich. Da die Menschen unserer Gesellschaft (Jugendliche und Erwachsene) Schuld zumeist eher als strukturelle deuten, verlernen sie den Prozess der Vergebung. Dies wirkt sich, da sich die Menschen kaum schuldig fühlen und selten Vergebung erfahren, auch auf das Gottes Verhältnis aus: Die Dimension der göttlichen Vergebung wird bzw. ist ihnen fremd.
Nach dem christlichen Verständnis ist das Verständnis von und für Schuld existenzial; es gehört zum Wesen des menschlichen Seins. Zudem ist nach christlichem Glaube die Erlösungsdimension untrennbar mit Gott verbunden. So unternimmt diese Ausgabe den Versuch, ausgehend von Alltagserfahrungen, die das Phänomen von Verfehlung und Versöhnung berühren, die Schülerinnen und Schüler mit Hilfe von biblischen Schuldgeschichten an das Thema heranzuführen, um die existenzielle Bedeutungsdimension zu vermitteln.
Im Alten Testament sind Schuld und Sünde eng miteinander verzahnt, weil Gottes Wille sich in der Tora (Weisung) auf das ganze Leben (vgl. Ex 20; Dtn 5) bezieht. Begründet ist dieser Zusammenhang im ersten Gebot, in dem der Abfall von Gott als Sünde bezeichnet wird - als die Grundverfehlung des Menschen schlechthin. Es wird auf die grundsätzliche Verantwortung Gott gegenüber verwiesen. Das Neue Testament geht davon aus, dass der Mensch sündig (geworden) ist. Johannes der Täufer fordert zur Umkehr auf und bietet die Taufe als Buße zur Vergebung der Sünden an. Jesus greift die Botschaft des Täufers auf und verkündet die freudige Botschaft vom Reich Gottes, welche die Aufnahme der Sünder in die Gemeinschaft mit Gott in Aussicht stellt und vorlebt (göttliches Heilshandeln : Tischgemeinschaft; Kreuzestod).
Wir verzichten auf die Beschäftigung mit der alttestamentlichen Urgeschichte, in der die Urschuld in analoger Weise zu struktureller Schuld beschrieben wird. Ebenso wenig wird die Theologie Johannes des Täufers und das Sakrament der Versöhnung behandelt. Wir beschäftigen uns hier ausdrücklich damit, das es eine Tendenz gibt: das individuelle Schuldbewusstsein ist defizitär. In der Bibel wird die Schuld-Thematik von der Vergebung her bedacht. Die Möglichkeit des Schuldeingeständnisses besteht jedoch nur dann, wenn die Festlegung auf die eigene Schuld nicht das letzte Wort bleibt. Deswegen sollte Schuld immer im Kontext von Vergebung/Versöhnung behandelt werden. Der Mensch neigt bei der Schuldverarbeitung zur Entlastung durch den Topos der strukturellen Schuld. Dies entpuppt sich als Scheinlösung und bedeutet keine wirkliche Ent-lastung. Für diesen komplexen Sachverhalt will dieses Themenheft die Schülerinnen und Schüler sensibilisieren und zugleich Wege der Versöhnung aufzeigen.
Didaktische Überlegungen
Die in dem vorliegenden Themenheft vorgestellten Materialien dienen dazu, Schülerinnen und Schüler entdecken zu lassen, wodurch der Mensch schuldig wird und wie ihn seine Schuld vor Gott und den Mitmenschen belastet. Ziel ist es, die Jugendlichen für den komplexen Zusammenhang von Schuld und Vergebung in der Bedeutung für das eigene Leben zu sensibilisieren. Und das in einer Zeit, in welcher der öffentliche Umgang mit Verfehlungen und Schuld oft fahrlässig erscheint; in einer Zeit, in der anscheinend niemand mehr persönlich zur Verantwortung gezogen werden kann bzw. persönlich seine Schuld eingesteht. Bei der Beschäftigung mit diesem Thema darf nicht verborgen bleiben, dass Schuld manchmal nicht wieder gutgemacht werden kann. Wichtig ist auch die Einsicht, dass man Schuld nicht selber ent-schuld-igen kann. Der Mensch ist diesbezüglich auf andere angewiesen. Ziel ist es, die Jugendlichen zu befähigen, mit dem Thema „Schuld und Vergebung" trotz des „gesellschaftlichen Gegenwinds" umgehen zu können. Deshalb liegt ein Schwerpunkt auf biblischen Versöhnungsgeschichten, welche die persönliche Schuld thematisieren, und ein zweiter auf aktuellen Bezügen, welche die heutige Lebenswirklichkeit berücksichtigen.
Methodisch bietet das Heft unterschiedliche Verfahrensweisen und Zugangsmöglichkeiten an, die neben der klassischen Textarbeit auch kreativen Ansätzen Raum geben, um den Schülerinnen und Schülern persönlichen Gestaltungsspielraum zu geben. So werden Rollenspiel, Gerichtsverhandlung, Malen und Zeichnen, Schaubilder bauen, Plakate entwerfen und Bildbetrachtungen neben unterschiedlichen Schreibaufträgen (Monolog; Dialog; Schreibgespräch, Ideenstern, Cluster, Platzdeckchen-Methode) berücksichtigt. Der Wechsel von Einzelarbeit, Partnerarbeit, Gruppenarbeit und Plenumsgesprächen berücksichtigt die unterschiedlichen Kommunikationsmöglichkeiten in einer Lerngruppe.
Inhaltsverzeichnis
1. EINFÜHRUNG
2. UNTERRICHTSVERLAUF
3. MATERIALIEN
Annäherung an das Phänomen „Schuld"
m 1 Schuldig werden - so alltäglich wie Hunger und Durst
m 2 Eine Geschichte, die ich unlängst gehört habe - Hass wahrnehmen
m 3 Du wurdest gezwungen? - Kein Ausweg aus der Verantwortung
m 4 Mut zur Umkehr - am Beispiel Mahatma Gandhis
m 5 Er umarmte ihn - eine chassidische Geschichte
m 6 Schuld bedrückt (Folie 1)
Zweite Annäherung: Schuld vergeben
m 7 Was ist Vergeben? - Annäherung an eine Tugend
m 8 „Das kann ich dir nie verzeihen!" - eine psychologische Deutung
m 9 Überdenkenswertes - Kann ich diesen Aussagen zustimmen?
m 10/1 Die Sünderin - Jesus überwindet Schuldzuweisung
m 10/2 Die Sünderin - Aus Schuld wird Heil Jakobs Geschichte, Gen 27-33
m 11/1 Die Geschichte Jakobs - „Du bist der Betrogene!"
m 11/2 Die Geschichte Jakobs - Jakobs Schicksal bis zur Heimkehr
m 11/3 Die Geschichte Jakobs - Das Wiedersehen nach vielen Jahren
m 11/4 Die Geschichte Jakobs - Der nächtliche Kampf
m 11/5 Jacob Epstein: Statue „Jakob und der Engel" (Folie 2)
m 11/6 Die Geschichte Jakobs - Eine Deutung des Kampfes
m 11/7 Die Geschichte Jakobs - Die Züge Gottes im Angesicht des anderen entdecken
Mit Schuld umgehen lernen
m 12 Versöhnungsspaziergang - eine sanfte Methode mit Tiefenwirkung
m 13 Im Irrgarten unserer Schuld - Auswege suchen und finden
4. IDEENBÖRSE