Vorwort
Die Erfahrung eines mehr oder weniger starken Gefühls, das mir die Übereinstimmung oder aber auch die Abweichung meines kandelns oder Denkens von geltenden Geboten oder eigenen Idealen anzeigt, kennt jeder Mensch. Schon Sokrates sprach von einer "inneren Stimme", dem Daimonion, das ihn leitete und warnte und ihm zuletzt dazu verhalf, auch angesichts von Lebensgefahr standhaft zu bleiben.
Die Deutung und Bewertung dieser Gewissenserfahrung ist indes vielfältig. Christen, aber auch Angehörige anderer Religionen, deuten das Gewissen häufig als Stimme Gottes, die sie mahnt, das Böse zu unterlassen und das Gute zu tun. Darin drückt sich die Erkenntnis aus, dass trotz der entwicklungspsychologisch zu erklärenden Prägung des Gewissens das Phänomen dieser "inneren Stimme" an sich letztlich unverfügbar bleibt; sie folgt einem Gesetz, das der Mensch sich nicht selbst gegeben hat (vgl. "Gaudium et spes"). Dabei wird das Gewissen verstanden als der aus der Tiefe der menschlichen Existenz kommende Ruf zur Einheit mit mir selbst; im Nichtbefolgen dieses Rufes liegt die Gefahr der inneren Zerrissenheit, ja letztlich die Gefahr, sich selbst zu verlieren. Ist nun im christlichen Glauben Christus zum Grund meiner Existenz geworden, so verwirklicht sich die angesprochene Einheit in der Gemeinschaft mit diesem, d.h. der lebendige Christus wird zu Ursprung und Ziel meines Gewissens. in der evangelischen Theologie (z.B. Bonhoeffer) greift hier die Rede von dem durch Christus befreiten Gewissen. In dieser Deutung ist das Gewissen ein positives Phänomen, das dem Menschen Orientierung geben will, um in Einheit mit sich selbst, aber auch mit Gott und seinen Mitmenschen zu leben und zu handeln.
Dass in den Menschenrechten (Art. 1 und 18) und im Grundgesetz (Art. 4 und 38) Freiheit und Unverletzlichkeit des Gewissens geschützt werden, verdankt sich entsprechend der Einsicht, dass es die Einheit der Person gefährdet, gegen das Gewissen zu handeln bzw. handeln zu müssen.
Das Hörenlernen auf das eigene Gewissen impliziert die Frage nach Kriterien, anhand derer ich mein Gewissen prüfen kann. Diese Funktion haben klassischerweise die Gewissensspiegel übernommen, die sich z. B. nicht seiten an den Zehn Geboten orientierten. Das Doppelgebot von Gottes- und Nächstenliebe gibt ebenso eine Maxime für das eigene Handeln vor. Auch im Grundgesetz oder in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte kann man auf die Suche nach solchen Kriterien und Grundwerten gehen, die auch den Jugendlichen zur Orientierung verhelfen können.
Untrennbar verbunden mit dem Phänomen des Gewissens ist die Frage nach dem Umgang mit eigener und fremder Schuld. Die Einsicht der eigenen erkannten Schuld kann oft schmerzhaft sein; die Erzählung von David und Natan bietet ein biblisches Beispiel dafür. Umso tröstender ist die im Glauben erfahrene Zusage, dass ehrlich bereute Schuld Vergebung finden kann und mit der Sünde nicht etwa der Sünder selbst verworfen wird. Die Konsequenzen des schuldhaften Verhaltens werden dabei nicht verharmlost, wie auch die Erzählung von der Strafe für David und seine Familie zeigt. Die katholische Kirche findet in dem heute eher unpopulären Sakrament der Beichte ein sichtbares und wirksames Zeichen für die Vergebungsbereitschaft Gottes, die auch unserem eigenen Tun Vorbild geben sollte. Gerade angesichts der eigenen Schuld hat der christliche Glaube eine positive und ermutigende Botschaft.
Didaktische Überlegungen/Zielsetzungen
Angesichts der von den Medien immer wieder beklagten Jugendkriminalität, der Erfahrung von zunehmender Brutalität auch von Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen im Umfeld von Schule sowie der Entwicklung hin zur Vereinzelung mit der Gefahr eines steigenden Egoismus wird immer wieder die Frage laut, ob die Jugend mehr und mehr gewissenlos aufwachse. Tatsächlich fällt angesichts des Wertepluralismus in unserer Gesellschaft und den Ansprüchen, denen sich die Jugendlichen durch die Medien, aber auch weiter vermittelt durch die Peergroup, ausgesetzt sehen, eine Orientierung schwer. (Vgl. dazu auch die Beiträge zum Titelthema "Süßer Horror Pubertät" im Spiegel Nr. 22/28.5.01) Immer drängender wird die Frage: "Wer bin ich? Wer will ich sein?"
Genau hier erhält die vielleicht zunächst eher unpopulär anmutende Gewissensthematik ihre Brisanz. Fasst man das Gewissen nämlich als eine innere Stimme auf, die gerade die Einheit der Person und damit ihre Identität zu bewahren sucht, so leistet eine Erziehung, die die Jugendlichen ermutigt, auf diese innere Stimme zu hören, große Orientlerungshilfe. Gerade der RU kann hier durch seinen christlichen Standpunkt einen spezifischen und ermutigenden Beitrag leisten, wie die obigen Ausführungen andeuten wollten. Bei der Bearbeitung des Themas sollen daher ausgehend von Assoziationsräumen (M 1, 2, 5) und Erfahrungsbeispielen (M 3, 4, 8) neben einigen psychologischen Erkenntnissen zum Phänomen des Gewissens (M 7a/b, M 10) vor allem Annäherungen aus christlicher bzw. biblischer Perspektive an das Thema im Vordergrund stehen. Dabei sollte altersangemessen vor allem die orientierende Funktion des Gewissens, wie sie in "Gaudium et spes", Art. 16 beschrieben ist (M 6), im Vordergrund stehen. Die Ausführungen zur Entwicklung des Gewissens (M 9, 10) stehen dabei nicht im Widerspruch zur Auffassung des Gewissens als Stimme Gottes oder innerer Stimme, wie schon Sokrates es beschreibt (M 12), sondern können verstanden werden als eine Entwicklung hin zu immer größerer Kompetenz, diese Stimme im "Lärm" anderer Ansprüche und Erwartungen hören zu lernen. Der Notwendigkeit, den vernommenen Gewissensruf immer wieder zu prüfen, wird in der Frage nach möglichen orientierenden Werten und Regeln für das Gewissen Rechnung getragen. Die Frage möglicher Güterabwägung angesichts einer schwierigen Gewissensentscheidung sollte in diesem Zusammenhang anhand eines aktuellen Beispiels möglichst aus der Lebenswelt der Schüler/innen behandelt werden. Welche Konsequenzen das Befolgen des Gewissensrufes haben kann, verdeutlichen die Beispiele zum Thema "Gewissensfreiheit" (M 13). Die Auseinandersetzung mit biblischen Geschichten zu dieser Thematik (M 14 - 17) kann die Schüler/innen sensibel machen für den Umgang mit eigener und fremder Schuld - dies vor dem Hintergrund der christlichen Hoffnungsbotschaft, die auch dem Sünder den Weg zur Umkehr offen hält und Verzeihung von Schuld zusagt. Insofern kann der RU mit einer Einheit zum Thema "Auf das Gewissen hören lernen" die Jugendlichen auf ihrer Suche nach Identität, verbindlichen Werten und Orientierung ermutigen und unterstützen.
Inhaltsverzeichnis
EINFÜHRUNG
UNTERRICHTSVERLAUF
MATERIALIEN
Das Gewissen - Annäherung an einen Begriff
M 1 Ausschnitt aus dem Atlas der Erlebniswelten
Die Welt von Tun und Lassen
M2 Folie
Die Welt von Tun und Lassen
M3 Assoziationsnetz zum Gewissen
Sprichwörter und Redewendungen
Das Gewissen - Erfahrungen am Beispiel "Anna rennt"
M 4 Anna rennt
Ein Beispiel für die Erfahrung von Gewissen 1
M 5 Anna rennt
Ein Beispiel für die Erfahrung von Gewissen 2
Das Gewissen - Deutungen eines Begriff
M 6 Was ist das Gewissen?
Bilder
M 7 Das Gewissen, die Stimme
Eine Deutung aus christlicher Sicht Gottes
M 8/1 Das Gewissen, die verinnerlichten Regeln der Gesellschaft
Ein Gespräch mit Sigmund Freud
M 8/2 Ein tiefenpsychologisches Schema für das Gewissen nach Sigmund Freud
ES, ICH, ÜBER-ICH
M 9/1 Annarennt
Ein Beispiel für die Erfahrung von Gewissen
M 9/2 Anna rennt
Eine Analyse nach S. Freud
Entwicklung des Gewissens
M 10 Eltern, Freunde, Medien
Wer formt mein Gewissen?
M 11 Wie entwickelt sich das Gewissen?
Ein Stufenmodell nach Kohlberg
M 12 Was gibt meinem Gewissen Orientierung?
Woher kommen Regeln und Gebote?
M 13 Sokrates und das "Daimonion"
Ein glaubwürdiger Philosoph
Auf das Gewissen hören lernen - Fehler erkennen
M 14/1 Bildbetrachtung
David und Natan von Walter Habdank
M 14/2 David und Batseba
Tödlicher Verrat
M 14/3 Wie David sein Gewissen hört und seine Schuld erkennt
Gewissenserforschung
M 15 Vom Umgang mit eigener und fremder Schuld
Ein Gleichnis
IDEENBÖRSE
TAFELBILD