Karin Ardey
Was ist "evangelisch"?
Warum im Heft mit der Fragestellung „Was ist evangelisch?" Ist die Betonung eines evangelischen Selbstverständnisses nicht kontraproduktiv zu dem, was gesellschaftlich ganz anders gedacht und gefordert wird? Geht es angesichts der weltweiten Probleme Umweltzerstörung, militärischer Auseinandersetzungen, Unterdrückung von Minderheiten und Andersdenkender, Globalisierung, ... nicht eher um das Christsein schlechthin? Sicher bildet das Christentum im Hinblick auf die anderen Weltreligionen von seinem Fundament, der jüdischen Überlieferung und der Anerkennung des Jesus von Nazareth als dem Messias, dem Christus, eine Einheit. Doch tritt es in zumindest zwei verschiedenen Glaubensrichtungen auf: der römisch-katholischen Kirche und den Kirchen der Reformation. Vieles verbindet und macht gemeinsames politisches und diakonisches Reden und Handeln möglich und notwendig.
Im Selbstverständnis, im gelehrten und im gelebten Glauben jedoch bestehen zum Teil große Unterschiede. Kinder und Jugendliche haben das Recht in ihrer Konfession beheimatet zu werden. Dazu gehört auch das Kennenlernen der Unterschiede. Gleichzeitig besteht aber auch die Pflicht, sich im Dialog mit der Meinung des bzw. der Andersdenkenden auseinander zu setzen, sich infrage stellen zu lassen und eigene Ansichten zu prüfen. Vielfalt muss keine Ängste auslösen, sondern kann sich gegenseitig befruchten und neue Perspektiven eröffnen.
Eine Gruppe von evangelischen Religionslehrerinnen und Religionslehrern wünschte sich für eine Fachtagung das Thema „Was ist evangelisch?" Sie hatten den Kindruck, dass bei ihren Schülerinnen und Schülern ein Gefühl der Beliebigkeit in Bezug auf ihre persönliche Konfession vorherrschte und sie hatten die Sorge, dass diese Beliebigkeit durch den Religionsunterricht noch verstärkt werden könnte. So entstand der Gedanke, einen Unterrichtsvorschlag zu entwerfen, der eine Beheimatung in der evangelischen Konfession ermöglicht. Das Material soll nicht dazu dienen, Gräben zwischen den Konfessionen zu vertiefen oder zu schaffen. Es soll vielmehr dazu führen, die eigene Identität zu entwickeln und die Dialogfähigkeit zu stärken. Es soll Unterschiede benennen, aber gleichzeitig den Blick auf die Gemeinsamkeiten schärfen. Von daher ist es sinnvoll, ein ähnliches Unterrichtsvorhaben zur gleichen Zeit im katholischen Religionsunterricht durchzuführen. Der Unterricht kann dann am Ende durch ein ökumenisches Vorhaben zusammengeführt werden.
Die Frage: „Was ist evangelisch?" ist allerdings nicht eindeutig zu beantworten. Wenn es auch zwei Hauptströmungen innerhalb des Protestantismus, die lutherischen und reformierten Kirchen, gibt, so haben sich doch viele verschiedene Richtungen herausgebildet. Sie sind durch regionale Traditionen, durch die Sprache und durch politisch-gesellschaftliche Entwicklungen geprägt worden. Trotz der vielen verschiedenen E,rscheinungsbilder gibt es aber grundlegende Gemeinsamkeiten, die die evangelischen Kirchen verbindet. Sie alle haben ihre Wurzeln in der Reformation des 16. Jahrhunderts. „Die Reformation wollte die Kirche allein auf die Bibel ausrichten, die Bedeutung der Predigt, der individuellen Glaubensüberzeugung und der christlichen Gemeinden stärken und Christinnen und Christen ermutigen, ihre eigene, auf Christus bezogene Glaubensorientierung zu finden." (Uwe Rieske)
Der evangelische Theologe Uwe Rieske nennt sieben „evangelische Überzeugungen", welche für ihn die evangelische Identität ausmachen:
1. „Evangelisch ist, dass Kirche sich auf ein Bekenntnis gründet."
Die Urkunde des Protestantismus ist die confessio augustana (das Augsburger Bekenntnis) von 1530. In diesem Dokument werden die Grundlagen der evangelischen Lehre zusammengefasst, die bis heute gültig sind.
2. „Evangelisch ist die Freiheit eines Christenmenschen."
Diese Freiheit bedeutet eine große Unabhängigkeit, die allerdings in der tätigen Nächstenliebe ihr Maß und ihre Grenzen findet.
3. „Evangelisch ist, dass das Wort des Evangeliums die gemeinsame Basis ist."
Die Bibel ist der Maßstab für den gelebten Glauben, an ihr muss sich jegliches Reden und Handeln messen lassen.
4. „Evangelisch ist, dass Ämter nur eine auf Zeit verliehene Funktion darstellen."
Für die evangelischen Kirchen gilt das Priestertum aller Gläubigen. Einige werden besonders ausgebildet, um ein Amt auszuüben. Aber alle können an den Entscheidungen über die Arbeit der Kirche mitwirken und entscheiden. Die Stimmen der ehrenamtlich und hauptamtlich Tätigen sind gleichberechtigt.
1. „Evangelisch ist, dass Entscheidungen im Konsens getroffen werden."
Alle Beschlüsse, die das Leben in Kirche und Gemeinde betreffen, werden durch Einzelne und Gremien vorbereitet, auf verschiedenen Ebenen diskursiv und argumentativ bearbeitet und durch gemeinsame, mehrheitliche Beschlüsse entschieden. Dies kostet häufig viel Zeit.
6. „Evangelisch ist, dass Christinnen und Christen zugleich Sünder und Gerechtfertigte sind."
Menschen leben in der Welt, so wie sie ist. Sie sind als Geschöpfe Gottes mit einem freien Willen ausgestattet. Immer wieder versuchen sie, Begrenzungen zu überwinden. So werden sie schuldig. Gleichzeitig sind sie durch Jesus Christus vor Gott gerechtfertigt. Diese Erfahrung verdichtet sich in ihrem Glauben.
7. „Evangelisch ist, dass konfessionelle Unterschiede keine Trennung bedeuten müssen."
Weil nach evangelischem Verständnis keine Übereinstimmung in „Zeremonien und Kirchenordnungen" bestehen müssen, sondern eine sachgemäße Predigt und Austeilung der Sakramente entscheidend ist, sind die evangelischen Kirchen offen für die Ökumene.
Diese Grundsteine evangelischen Selbstverständnisses haben ihre Auswirkungen auf das Bewusstsein und das Handeln evangelischer Christinnen und Christen. Sie sind geprägt von ihrer Eigenverantwortlichkeit und ihr Eigenständigsein. Sie erfahren sich als unmittelbar von Gott selbst angesprochen und ihm direkt verantwortlich. Einzig und allein Jesus Christus nimmt die Rolle des Mittlers ein. Selbstbestimmung und die Freiheit sind allerdings kein Selbstzweck. Sie dienen nicht der Selbstverwirklichung, sondern sie verpflichten zur tätigen Nächstenliebe. Evangelische Christinnen und Christen verwirklichen ihren Glauben unter den Bedingungen dieser Welt. So sind sie nicht ausgenommen von Irrtümern und Versagen. Die Eigenständigkeit kann zu übergroßer Betonung der persönlichen Autonomie führen. „Sie verbindet sich mit einer starken Distanz zur Kirche. Für katholische Christen ist Kirche Heimat, ein bergender Raum. Für Evangelische ist Kirche eine notwendige Institution vor allem für diakonische und erzieherische Aktivitäten. Als Lebensraum fällt Kirche für viele aus." (Prof. Günter Böhm)
Bis heute steht die Predigt im Mittelpunkt des Gottesdienstes. Häufig werden dort nur die kognitiven Fähigkeiten der Zuhörerinnen und Zuhörer angesprochen. Nur in wenigen Fällen wird der Mensch mit all seinen Sinnen einbezogen. Auf diesem Gebiet kann und muss die evangelische Kirche von der Ökumene lernen.
Als Letztes sei noch die Gefahr eines ethischen Rigorismus genannt. Wenn der Glaube ernsthaft mit der Lebensführung verbunden wird, legen Protestanten häufig einen zu hohen Maßstab an sich selber an. Dies kann zu einer etwas freudlosen Lebenshaltung führen, die sich bewusst von allen weltlichen Vergnügungen fernhält.
Inhaltsverzeichnis
1. EINFÜHRUNG
2. UNTERRICHTSVERLAUF
3. MATERIALIEN
Zugang zum Begriff 11-13
ml Mama, was ist evangelisch? - Erzählung
m2 Evangelisch ist,... - Vorurteile und Gewusstes sammeln
m3 Evangelische Christen sind „Protestanten" - Erzählung: Worauf bezieht sich der Begriff?
Evangelische Glaubenslehre 14-18
m4 Martin Luthers Erkenntnis - Erzählung zu Luthers (neuem) Gottesbild
m5/l Die „vier Säulen" des evangelischen Glaubens - Wissenskarten
m5/2 Die „vier Säulen" des evangelischen Glaubens - Zugänge aus der Lebenswelt
m6 Luther predigt den gekreuzigten Christus/Luther im Weinberg (Folie 1)
Auswirkungen der Reformation 19-26
m7 Die Bibel in deutscher Sprache - Bibelübersetzung in konkreten Beispielen
m8 Alle Menschen sollen den eigenen Glauben verstehen können - Kleiner Katechismus Luthers
m9/l Philipp Melanchthon - der „Lehrer Deutschlands" - Die Reformation war Teamwork
m9/2 Philipp Melanchthon - der „Lehrer Deutschlands" - Melanchthon im Schatten Luthers
m10/1 Das Augsburger Bekenntnis: Urkunde des evangelischen Glaubens - Erzählung
m10/2 Das Augsburger Bekenntnis: so ging es weiter - Luther im Bann
m10/3 Das Augsburger Bekenntnis: bis heute prägend - Definition „Bekenntnis"
m11 Noch ein Bekenntnis - die Barmer Erklärung als Beispiel für die Bewährung in der Welt
Gelebter Glaube 27-31
m12 Von der Freiheit eines Christenmenschen - Erzählung
m13 Tante Lisa engagiert sich im Presbyterium - Entscheidungen im Konsens treffen
m14 In einer evangelischen Kirche - in einer katholischen Kirche - Begehung vor Ort
m15/1 Typisch evangelisch - typisch katholisch - Übersicht auf dem Hintergrund „Ökumene"
m15/2Typisch evangelisch - typisch katholisch? (Folie 2)
m15/3Typisch evangelisch - typisch katholisch - Ergebnissicherung
4. IDEENBÖRSE