Ulrike Baumann
Beziehungskisten
Zum Umgang mit Geschlechtlichkeit und Liebe im Religionsunterricht
Viele Ziele, die wir in unserem alltäglichen Leben verfolgen, haben ihren tieferen, uns häufig nicht bewussten Sinn darin, dass wir zwischenmenschliche Beziehungen aufbauen oder erhalten wollen. Sie sind für uns die Quelle, aus der sich Anerkennung, Vertrauen und Motivation herleiten. Es sind Beziehungen zu anderen Menschen, die unsere Identität begründen. Wir empfangen sie als ein Geschenk gerade in befreienden Begegnungen, die uns helfen, die Fixierung auf die eigene Person zu überwinden. Die von Jugendlichen zu bewältigenden Entwicklungsaufgaben führen bei ihnen aber nicht nur zu Bindungswünschen, sondern häufig zu Bindungsängsten. In der Zeit der Pubertät und Adoleszenz erfahren sie die „Doppelgesichtigkeit" der Bindung besonders deutlich: Sie ist einerseits Quelle des Glücks, andererseits durchleiden Jugendliche Phasen unerfüllten Bindungsverlangens, misslungene Bindungsversuche, Bindungsangst und Beziehungslosigkeit. Auch die Beziehung zu Gott ist in diese Erfahrungen einbezogen und die Bindung an ihn muss sich in diesem Feld bewähren, wenn die Jugendlichen sie über die Kindheit hinaus als bedeutsam erleben sollen.
Auf der Grundlage der biblischen Schöpfungserzählungen erkennt der Glaube in jedem Menschen ein Ebenbild Gottes. Genesis 1,27-28 zufolge segnet Gott Mann und Frau mit ihren je unterschiedlich geschaffenen Körpern. Er spricht sie als seine Partner an und will, dass sie partnerschaftlich miteinander leben. Aus dieser Gewissheit der Zuwendung Gottes können Freiheit und Fantasie zur eigenen Lebensgestaltung als Mädchen und Junge, Frau und Mann entstehen. Die Anregungen möchten dazu beitragen, dass Jugendliche die biblischen Grundlagen für partnerschaftliche Beziehungen verstehen, weil sie auch heute einen Raum der Lebensfreude eröffnen können. Dies kann nur im Kontext der anstehenden Entwicklungsaufgaben gelingen. In der Regel empfehlen die Lehrpläne, Fragen von Liebe und Partnerschaft in den Klassen 8 oder 9 zu thematisieren. Deshalb orientiert sich das hier angebotene Material vor allem an diesem Alter
Jugendliche wollen lernen, zu sich selbst zu stehen, mit ihren eigenen Empfindungen, Wünschen und Gedanken. Beziehungswünsche Jugendlicher werden im Rahmen von Aktivitäten in der Gleichaltrigengruppe besonders geweckt. Zugleich sind sie hier mit den Gefahren der Abwertung und Nichtbeachtung konfrontiert. Um sich davor zu schützen, leben viele intensiv im Raum der Freundschaftsbeziehungen; für Jungen und Mädchen spielt der beste Freund bzw. die beste Freundin im Kontext der Persönlichkeitsentwicklung eine entscheidende Rolle. Mit der Pubertät intensiviert sich aber auch das Interesse am anderen Geschlecht und Jugendliche beginnen, sich mit den Aufgaben sexueller Annäherung und intimer Kommunikation zu beschäftigen. Gerade in gemischtgeschlechtlichen Gruppen wollen sie die Rolle des Jungen und des Mädchens „gut" spielen und nichts „falsch" machen. Letztlich muss jeder Jugendliche in der Frage der geschlechtlichen Identität seinen eigenen Weg finden. Deshalb suchen manche Sicherheit in der Orientierung an Rollenklischees, andere neigen zu zwanghaften Verhaltensmustern. Die hier vorgeschlagenen Praxisanregungen wollen dazu beitragen, diesen Verhaltensweisen humorvoll zu begegnen und sie spielerisch zu unterlaufen. In persönlichen, intimen Begegnungen fehlt Jugendlichen oft die Sprache, um ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse zum Ausdruck zu bringen und die Gefühle des anderen aufzunehmen. Deshalb greifen die Vorschläge besonders die Frage der Sprache und des miteinander Sprechens auf. Sie wollen die Kommunikation in persönlichen Beziehungen fördern, auch mit Rückgriff auf die Sprache biblischer Texte.
In den Schulen ist heute eine koedukative Situation die Regel, die allerdings für Jugendliche anstrengend sein kann, wenn sie tabuisiert oder bagatellisiert wird und niemals explizit ein Thema ist. Die Überlegungen verstehen sich als Beitrag zu einer geschlechtsbezogenen Religionspädagogik und Schulseelsorge. Sie wollen zeigen, welche Lernchancen die koedukative Grundkonstellation eröffnet und wie dabei jungen- und mädchenpädagogische Gesichtspunkte produktiv zum Zuge kommen können. Trotz aller schulischen Angleichung können schon aus biologischen Gründen die Verhaltensweisen von Jungen und Mädchen nicht einfach gleich sein. Deshalb werden auch Vorgehensweisen angeregt, in denen Jungen und Mädchen jeweils einen Raum für sich haben und Beziehungen aus der Perspektive des jeweils eigenen Geschlechts bearbeiten können.
Kompetenzen bei Schülerinnen, Schülern, Lehrpersonen und Eltern
Das Material möchte folgende Kompetenzen bei den Schülerinnen und Schülern fördern:
- Unterschiede in den Geschlechtsrollen wahrnehmen und verstehen,
- Positionen verstehen, die Geschlechtlichkeit und Beziehungsfähigkeit als Ausdruck der Gottes-ebenbildlichkeit deuten,
- Gefühle und Wünsche in der Begegnung der Geschlechter altersangemessen wahrnehmen und zur Sprache bringen,
- sich in metaphorischer Sprache ausdrücken,
- Zeichen der Liebe erschließen und beurteilen,
- Reaktionen der Umwelt auf eine Liebesbeziehung erkennen und beurteilen,
- über den Gottesglauben als mögliche Stärkung der Liebesfähigkeit diskutieren.
Religionslehrerinnen und -lehrer sind in ihrer Professionalität gefordert, sich Jungen und Mädchen gegenüber bewusst zu verhalten. Wie reagieren sie auf Mädchen und Jungen und wie sind ihre Sympathien verteilt? Gerade beim Themenschwerpunkt „Beziehungsfähigkeit" werden sie auch in ihrem Verhalten als Frau und Mann wahrgenommen. Sie sind zur Auseinandersetzung mit sich und ihrer Geschlechtsrolle herausgefordert. Dabei müssen sie entscheiden, wie viel sie von sich persönlich zeigen und wo sie Distanz wahren wollen. Auch dazu sollen orientierende Anregungen gegeben werden.
Nicht zuletzt ändert sich mit der Pubertät die Beziehung zu den Eltern. Die anstehenden Wandlungsprozesse sind auf beiden Seiten mit befreienden und schuldhaften Aspekten verbunden. Die Eltern bleiben aber im Bereich der Beziehungsfähigkeit und Sexualität wichtige Ansprechpartner und behalten große Verantwortung. Bevor eine Unterrichtsreihe zu diesen Schwerpunkten beginnt, sollte z.B. bei einem Elternabend eine Annäherung zwischen allen Verantwortlichen herbeigeführt werden. Deshalb beziehen die Überlegungen auch Anregungen für Eltern ein.
Inhaltsverzeichnis
1. EINFÜHRUNG 1–2
2. DIDAKTISCHE HINWEISE 3–9
3. MATERIALIEN 10–31
So bin ich 10–16
m1 Ich bin ich – Kleidungsstücke und Gegenstände sagen etwas über mich aus
m2 Rollenspiele – unterschiedliche Verhaltensweisen von Jungen und Mädchen
m3 Ein Ebenbild Gottes – Mann und Frau als Geschöpf Gottes
m4 Albrecht Dürer, Adam und Eva (auch Folie 1) – die Zeitgemäßheit von Schönheitsidealen
m5 Erkenne dich selbst – eine Seite für Lehrerinnen und Lehrer
m6 Für Eltern – die Rolle als Bezugsperson
Liebevolle Worte finden 17–23
m7 Schneckentraum – wie kann ich Gefühlen Ausdruck verleihen?
m8 Beziehungskisten – Worte von Mädchen, Worte von Jungen
m9 Diesmal ist sie’s (Folie 2 und Arbeitsblatt) – Hilfen zur Bildbetrachtung
m10 Sexworträtsel – Reflexion über (un-)angemessene Worte
m11 Das Hohelied der Liebe – Gestaltungsmöglichkeiten zum Bibeltext
m12 Ein Liebesbrief von Gott – was macht mich besonders?
… und hätte die Liebe nicht 24–29
m13 Do you love me – really? – Collagen herstellen: Liebe ist …
m14 Schiller, Der Handschuh – Zeichen der Liebe!?
m15 Die Salbung – kreative Zugänge zu den Dimensionen der biblischen Geschichte Mk 14,3-9
m16.1 Ich & Ich, Dienen – ein Vergleich mit 1 Kor 13,1-8
m16.2 Nena, Liebe ist – Anregungen zur persönlichen Auseinandersetzung
Wenn die Liebe sichtbar wird 30–31
m17 Ernst L. Kirchner (Folie 1 und Arbeitsblatt) – In der Liebe stark werden
m18 Andere Länder – andere Sitten – Anregungen zu einer Umfrage: kulturelle Unterschiede
in den Geschlechterbeziehungen
4. IDEENBÖRSE 32