Ulrike Lissek / Arnhild Nachreiner
Turmbau zu Babel
Von menschlicher Hybris
Der schon etwas abgegriffen wirkende biblische Text vom Turmbau erscheint zunächst als wenig attraktiver Gegenstand für Jugendliche der Jahrgangsstufe 9/10. In der Regel erleben Schüler und Schülerinnen ihren „Erstkontakt" mit dieser Perikope durch die narrative Darbietung im Grundschulalter. Der Text hat auch bei nicht kirchlich sozialisierten Kindern einen hohen Bekanntheits-grad, da er schon fast sprichwörtlich ist. „Es ist eine Geschichte, die man eben mal so gehört hat. Ich wusste gar nicht, dass die aus der Bibel ist", so reagierte ein Schüler auf meine Nachfrage. Wie also kann dieser alttestamentliche Text für Schülerinnen und Schüler dieser Jahrgangsstufe relevant werden? Wie kann die bereits bekannte Nachricht wieder Interesse gewinnen? So lauteten die Ausgangsfragen unserer Überlegungen.
Es schien uns zunächst wichtig, die Perikope, den Text selbst neu ins Spiel zu bringen. Dies soll durch die Beschäftigung mit einer Interlinearübersetzung erreicht werden, die dazu beiträgt, dass der Text nicht schnell konsumiert werden kann, sondern erlesen werden muss. Die damit einhergehende Verzögerung des Leseprozesses lenkt den Blick auf das Detail. Dieser Kontakt wird vertieft durch die vergleichende Sichtweise, die den Text von einer gängigen Übertragung und Deutung für Kinder abgrenzt.
Im nächsten Schritt haben wir geplant, die Schülerinnen und Schüler in die Rolle von Forschern hineinzunehmen: Sie erfahren, welche unterschiedlichen Gesichtspunkte der Analyse in diesen wenigen Versen Anwendung finden können. Sie sollen Einblick in die Beschaffenheit von mythologischen Texten, ihrer Sprachform und Perspektive der Betrachtung gewinnen und schließlich kann deutlich werden, dass sich hier sogar eine weitere, eine ätiologische Intention anschließt, die die Entstehung von unterschiedlichen Sprachen als Strafe für die Vermessenheit der Menschen deutet. Weiterhin können sie die Perspektive von Archäologen einnehmen und erfahren, dass es historische Wurzeln für diesen Mythos gibt, dass sowohl die Stadt als auch der Turm in der Realität existierten und ein aktueller Forschungsgegenstand der Archäologie sind. In leistungsfähigen Lerngruppen kann auch ein linguistisches Phänomen, die Volksetymologie, illustriert werden. Den Abschluss bildet ein exemplarischer Einblick in die historisch-kritische Forschungsarbeit von Theologen.
Die Deutung der Geschichte scheint auf der Hand zu liegen: Die Menschen hatten sich übernommen, sie waren vermessen, unverschämt in ihrem Geltungsdrang und wurden von Gott wieder auf ihr normales, kommunikationsgestörtes Maß zurechtgestutzt. So oder ähnlich haben es viele bereits gehört. In der eingehenden Beschäftigung mit der Perikope wurde deutlich, dass der Begriff der Hybris der antiken griechischen Mythologie entstammt und kein Begriff ist, der der Gedankenwelt des Jahwisten zugrunde lag. Dennoch sind die Begriffe Hybris bzw. Vermessenheit untrennbar mit dem Text verknüpft. Die Erfahrung der unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten in Text und Bild, soll den Schülerinnen und Schülern dann die Möglichkeit zur kritischen Distanz bieten. So kann es möglich werden, dass eigene Fragen an den Text herangetragen werden, dass für die Lerngruppe deutlich wird, dass „Babel überall ist" (vgl. Literatur [Auswahl]). Dabei wird jedoch bewusst auf die Einengung auf eine ethische Fragestellung verzichtet. Es werden keine festen moralischen Werthaltungen mitgeliefert, die festlegen, „wann der Turm zu hoch ist". Die Bereitschaft innezuhalten, nachzudenken, wohin es für die Gesellschaft und die Menschheit gehen soll, hat hier Priorität.
Den Abschluss bildet die Deutungshypothese, dass das Pfingstereignis im Neuen Testament die Klammer zur Sprachverwirrung von Babylon darstellt. Dies kann sowohl in der Auseinandersetzung mit dem Bild von Sieger Köder als auch erweitert durch einen Kommentar geschehen.
Inhaltsverzeichnis
1. EINFÜHRUNG 1
2. UNTERRICHTSVERLAUF 2–8
3. MATERIALIEN 9–30
Babel biblisch 9–10
m1 Die Bibel wörtlich – Kennenlernen einer Interlinearübersetzung
m2/1 Gen 11,1-9 – Zwei Bibelübersetzungen im direkten Vergleich
m2/2 Salvatore Dali/Eberhard Grames (Folie 1) – Zwei künstlerische Umsetzungen des Turmbaus
Babel im Forschungslabor 11–19
m3 Der Mythos – Begriffsbildung/Begriffsbestimmung
m4 Warum, wieso, weshalb? – Begriffsbildung/Begriffsbestimmung
m5 Turmbau und kein Ende – Sachtext zu einem archäologischen Vorgang
m6 Das Wort im Wort – Begriffsbildung/Begriffsbestimmung „Volksetymologie“
m7/1 Ein Kommentar zu Gen 11,1-9 – Übung zur Exegese
m7/2 Ein Kommentar zu Gen 11,1-9 – Im engeren Kontext
m7/3 Ein Kommentar zu Gen 11,1-9 – Im weiteren Kontext
Deutungen des Babylonischen Turmbaus 20–30
m8 Hybris – sachlich – Begriffsbildung/Begriffsbestimmung „Hybris“
m9 Hybris – sprichwörtlich – Kurztexte zur Erschließung des Begriffs „Hybris“
m10 Fremd und doch vertraut – Ein Gedicht zum Begriff „Hybris“
m11 Turmbau – mal anders betrachtet – Karikaturen zum Begriff „Hybris“
m12 Hauptsache hoch hinaus – Textarbeit zur „Höhenangst“
m13/1 Sieger Köder: Pfingsten – Interpretationshilfe zum Folienbild 2
m13/2 Sieger Köder: Pfingsten (Folie 2)
m14 Vom Fischer und seiner Frau – Ein Märchen weitererzählen
m15 Aspekte der Hybris – Systematische Deutung der unterschiedlichen Aspekte von „Hybris“
m16 Collage aus aktuellen Schlagzeilen – Transfer in die Erfahrungs- und Erlebniswelt der Lernenden
m17 Reflexion – Evaluierungsbogen für die Unterrichtssequenz bzw. -einheit
4. IDEENBÖRSE 31–32
Verlagstext
Turmbau zu Babel - menschliche Hybris
Die Deutung der Geschichte scheint auf der Hand zu liegen: Die Menschen hatten sich übernommen, sie waren vermessen, unverschämt in ihrem Geltungsdrang und wurden von Gott wieder auf ihr normales, kommunikationsgestörtes Maß zurecht gestutzt. So oder ähnlich haben es viele bereits gehört. In der eingehenden Beschäftigung mit der Perikope wurde deutlich, dass der Begriff der Hybris der antiken griechischen Mythologie entstammt und kein Begriff ist, der der Gedankenwelt des Jahwisten zu Grunde lag. Dennoch sind die Begriffe Hybris bzw. Vermessenheit untrennbar mit dem Text verknüpft. Die Erfahrung der unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten in Text und Bild, soll den Schülerinnen und Schülern dann die Möglichkeit zur kritischen Distanz bieten. So kann es möglich werden, dass eigene Fragen an den Text herangetragen werden, dass für die Lerngruppe deutlich wird, dass "Babel überall ist". Dabei wird bewusst auf die Einengung hin auf eine ethische Fragestellung vermieden. Es werden keine festen moralischen Werthaltungen mitgeliefert, die festlegen, "wann und in welchem Sinne der Turm zu hoch ist". Die Bereitschaft inne zu halten, nachzudenken, wohin es für die Gesellschaft und die Menschheit gehen soll, hat hier Priorität.