Zum Inhalt und zur Zielsetzung dieser Ausgabe:
Ein Fanatiker ist dem lateinischen Wortsinn nach ein von der Gottbeit ergrzffener, rasender und seiner selbst nicht mehr mächtıger Mensch. Im modernen Sinn versteht man unter Fanatismus das unduldsame, gelegentlich gewalttätige Eifern um eine religiöse oder politische Sache, die Unfähigkeit zur Verständigung mit Andersdenkenden und eine Neigung zu übermäßig einfachen Welterklärungen. Fanatismus ist also vorwiegend ein Beziehungsbegriff. Das Wort bezeichnet eine extreme, oft zerstörerische Beziehung zu Menschen, die in einer speziellen Weise anders sind als man selbst. Es bezeichnet aber auch eine negative Beziehung der eigenen Gruppe bzw. Gemeinschaft zu anderen Gruppen und Gemeinschaften.
Fanatismus zeigt sich bei einzelnen Menschen als auch in Gruppen. In beiden Fällen wird ein Feindbild kultiviert, das festlegt, wer anders ist als ich - oder als die eigene Gruppe - und wer infolgedessen abzulehnen ist. Auf diese Weise wird auch das Selbstbild des Menschen oder der Ausgangsgruppe als korrekt und rundum gut und damit identitätsstiftend festgelegt. So bestärkt sich ein Schwarz-Weiß-Denken: Positives Selbstbild und negatives Selbstbild bedingen sich gegenseitig. Oft wird die eigene Haltung mehr von den negativen Eigenschaften bestimmt, die man ablehnt, als von positiven Eigenschaften, die man sich selbst zuschreibt.
Theologisch bedeutsam ist ein Merkmal des religiösen Fanatismus, das man als Verlust der Transzendenz bezeichnen könnte. Die eigenen Ideen, die eigenen Interessen und der Gotteswille bzw. die kosmische Ordnung rücken so zusammen, dass sie nicht mehr unterscheidbar sind. Der unverfügbare Gott, christlich erst recht der verborgene Gott der Bibel, gehen dabei verloren. Damit wird das Selbst heilig und gut, es hat die Zustimmung Gottes. Die anderen werden folgerichtig zu Feinden Gottes. Auch politische Ideologien erzeugen eine ähnliche Denkweise, wenn das eigene Denksystem als absolut wahr und gut betrachtet wird, sodass die grundsätzliche Offenheit menschlicher Erkenntnisse dabei verloren geht.
FBI-Beamte fanden im Gepäck des Attentäters Mohammed Atta auf das World Trade Center (2001) detaillierte Anweisungen dazu, wie sich die Attentäter vor und bei der Tat verhalten sollen. Im Flugzeug sollten sie zu Gott beten, weil das Attentat für ihn geschehen würde. „Wie der allmächtige Prophet sagt, ist eine Tat für Gott besser als die ganze Welt. Immer wieder: Bete, bete, bete, damit du nicht schwankend wirst und aus Angst dein Vorhaben aufgibst. “Sie sollen ihre Herzen öffnen und den Tod im Namen Gottes willkommen heißen. Der Lohn für ihre Treue sei ganz nahe: „Öffne dein Herz, denn du bist nur einen letzten Moment entfernt von dem guten, einzigen Leben voller positiver Werte in der Gesellschaft von Martyrern. Schließlich, wenn alles vorbei ist, rufen Engel deinen Namen und tragen für dich ihre schönsten Kleider.“ (Zitiert nach: DER SPIEGEL 40, 1.10.2001, S. 36)
Umgangssprachlich wird der religiöse Fanatismus (weniger der politische) oft mit dem schillernden Begriff Fundamentalismus bezeichnet. Extremismus steht in der Umgangssprache für den politischen Fanatismus, früher auch Radikalismus. Von Terrorismus spricht man, wenn extreme politische Ziele mit Gewalt gegen Unbeteiligte durchgesetzt werden sollen. Die Fachbegriffe von Psychologie, Politologie und Soziologie haben, verglichen mit der Umgangssprache, eine enger definierte Bedeutung. Als Fachausdruck wird „Fanatismus“ vor allem in der Tiefenpsychologie benutzt (Psychoanalyse, Individualpsychologie nach Alfred Adler usw.). In der wissenschaftlichen Psychologie, in Soziologie und Politologie trifft man eher auf die verwandten Fachbegriffe Dogmatismus und Rigorismus, die in der Umgangssprache nicht vorkommen. (Das Unterrichtsmaterial m6/2 - CD-ROM/ EXTRA - kommt auf diese Begriffe zurück.)
Wenn Kinder und Jugendliche einer fanatischen Haltung begegnen - sei es in einem Medienbericht oder in einer Diskussion an der Schule -, erscheint sie ihnen meist als fremd. „So sind wir nicht, so können wir nie sein! Wer sind denn das für Menschen?" ist eine häufige Reaktion von Menschen, die sich selbst nicht als fundamentalistisch einschätzen. Deshalb ist es ein wichtiges Lernziel, anhand eigener Erfahrungen zu erkennen, dass Ansätze zum Fanatismus in menschlichen Beziehungen allgegenwärtig sind. Und es ist zusätzlich wichtig zu erkennen, dass als Unverbindlichkeit missverstandene Toleranz („Jeder macht eben sein eigenes Ding.“/ „Alle haben irgendwie recht.“) kein wirksames Mittel gegen Fanatismus ist. Im Gegenteil: Gleichgültigkeit gegenüber Fragen von Wahrheit und Recht bestärkt die fanatische Haltung. Ist es möglich, auf nicht fanatische, also auf abwägende und verständnisvolle Weise zu dem zu stehen, was man für wahr und richtig hält? Eine begründete, nachvollziehbare Antwort auf diese Frage zu finden, ist ein zentrales Lernziel.
Inhaltsverzeichnis
1. EINFÜHRUNG 1–2
2. DIDAKTISCHE HINWEISE 3–10
3. MATERIALIEN 11–32
Einführung 11–12
m1/1 „Fanatismus“ – was ist das denn eigentlich? [nur auf der CD-ROM/EXTRA]
m1/2 „Fanatismus“ – was ist das denn eigentlich? [nur auf der CD-ROM/EXTRA]
m2 Kann man Fanatismus an „Äußerlichkeiten“ erkennen? – Bildanalyse.
m3/1 „Echt fanatisch“ – oder (nur) ...? – Ab wann sprechen wir von „Fanatismus“?
m3/2 „Echt fanatisch“ – oder (nur) ...? [nur auf der CD-ROM/EXTRA]
Was meint man genau mit „fanatisch“?! 13–18
m4/1 Typen von fanatischen Menschen – Sachinformation: die drei Haupttypen von Fanatikern.
m4/2 Typen von fanatischen Menschen – Sachinformation ... (s.o.)
m5/1 Gesprächsunfähig: gestörte Kommunikation [nur auf der CD-ROM/EXTRA]
m5/2 Gesprächsunfähig: gestörte Kommunikation (Folie 1.1)
m6/1 Dem Fanatismus verwandte Begriffe – Was ist eine „überwertige Idee“?
m6/2 Dem Fanatismus verwandte Begriffe [nur auf der CD-ROM/EXTRA]
m7/1–2 Nur damit kein Missverständnis entsteht: Fundamentalismus [nur auf der CD-ROM/EXTRA]
m8 Wie entsteht Wirklichkeit? – Ein Gedankenexperiment zum Nachmachen.
Die fanatische Persönlichkeit 19–29
m9/1 Junge Salafisten als Beispiel für einen fanatischen Islamismus – Erfahrungen austauschen.
m9/2 Junge Salafisten als Beispiel für einen fanatischen Islamismus – (s.o.)
m10/1 Ein Prophet – Fanatische oder radikale Figuren im AT.
m10/2 Ein Prophet (Folie 2)
m11/1 Die Zeugen Jehovas als Beispiel für einen religiösen Fanatismus – Fallbeispiel analysieren.
m11/2 Die Zeugen Jehovas als Beispiel für einen religiösen Fanatismus – Sachinfo.
m12/1 Was ist eine Sekte? [nur auf der CD-ROM/EXTRA]
m12/2 Was ist eine Sekte? [nur auf der CD-ROM/EXTRA]
m13/1 Als politischer Extremist leben – Ein Aussteiger der rechten Szene.
m13/2 Als politischer Extremist leben – Detailanalyse rechtsradikalen Fanatismus.
m13/3 Als politischer ... – Auch eine antifaschistische Gesinnung kann fanatische Züge annehmen.
m14 Jesus – ein Radikaler? – Verstörende Verhaltensweisen im NT.
m15/1–2 Fanatismus im Internet – Beispiel für Cybermobbing und „Shitstorms“.
m15/3 Fanatismus im Internet (Folie 1.2)
m16 Fanatische Fußballfans – Untertauchen im Schutz der Gruppe.
Fanatismus – eine Sache des Standpunkts! 30–32
m17 „Fanatismus“ bedeutet für mich ... – Überprüfung der gesammelten Erkenntnisse.
m18 Aufruf gegen Fanatismus – eine Collage – Abschluss der Einheit mit einer gestalterischen Arbeit.