Karin Ardey
... und sie wunderten sich sehr
„Wunder gibt es immer wieder."
„Als aufgeklärter Mensch kann man doch nicht an Wunder glauben!"
Zwei Aussagen zum Thema „Wunder", die aufzeigen, zwischen welchen Extremen Einstellungen zur Existenz von Wundern und ihrer Glaubwürdigkeit vorzufinden sind.
Im Alltag von Wundern zu reden fällt uns dabei nicht schwer. Wir sprechen vom Wunder der Liebe, vom Wunder der Natur, vom Wunder, eine schwere Krankheit, einen Unfall überstanden oder einen neuen Arbeitsplatz gefunden zu haben, usw.
Mit Wundergeschichten umzugehen, wie sie in der Bibel überliefert sind, tun wir uns als so genannte aufgeklärte Menschen allerdings schwer. Alles, was mit der kritischen Vernunft nicht erklärbar ist und gegen sie spricht, wird als nicht wahr abgelehnt und ausgeklammert. Menschen, die an Wunder glauben, gelten als unrealistisch. In unserem Weltbild ist kein Platz mehr für die Möglichkeit eines Eingreifens von außen.
Den Menschen der Antike ist dieses Denken fremd. Sie rechnen noch mit göttlichen oder dämonischen Eingriffen in ihr Leben. Sie sind offen für unerwartete und überraschende Ereignisse. Für sie weisen Wunder ganz konkret auf das Wirken höherer, göttlicher Mächte hin. Wundertäter stehen in Verbindung mit ihnen und werden als herausragende Persönlichkeiten verehrt.
Wundererzählungen in der Bibel sind Gegengeschichten gegen Angst und Hoffnungslosigkeit, gegen Armut, Einsamkeit und Unterdrückung. Sie sind Ermutigungsgeschichten, die zu einer menschenwürdigen Gestaltung des Lebens beitragen und zum Protest aufrufen. Sie sind Glaubensgeschichten, die Vertrauen in die Möglichkeit von nicht erklärbaren, aber befreienden Erfahrungen schenken. In ihnen geht es um menschliche Grunderfahrungen.
Auch wenn die Wundergeschichten von konkreter Not und ihrer Überwindung sprechen, handelt es sich bei ihnen nicht um Tatsachenberichte. Im Handeln Jesu — der vorliegende Unterrichtsvorschlag beschränkt sich auf eine Auswahl von neutestamentlichen Wundererzählungen — haben sie eschatolo-gischen Charakter. Sie weisen schon hier und jetzt auf das Reich Gottes hin, in dem das „Böse" überwunden sein wird. Gleichzeitig sagen sie aus, dass durch Jesus von Nazaret dieses Reich Gottes schon begonnen hat, und unterstreichen die Messianität Jesu. Im Gegensatz zu anderen Wundertätern versteht Jesus sein Handeln als ein Handeln in Vollmacht Gottes und nicht als Dokumentation seiner persönlichen Kraft. Er will deutlich machen, dass sich Wunder überall dort ereignen können, wo Menschen sich in Liebe begegnen und im Vertrauen auf Gott handeln. Jeder Mensch, der liebt und glaubt, kann Wunder tun, denn er verändert Situationen ohne Hoffnung von Grund auf.
Ein synoptischer Vergleich der Wunderberichte zeigt, dass sie in ihrer Überlieferung viele Veränderungen erfahren haben. Dies belegt, dass es sich bei der Beschreibung von Jesu Wundertaten nicht um Augenzeugenberichte handelt. Sie sind nicht im Sinne moderner Berichterstattung zu sehen, die objektiv, neutral und nachprüfbar ist. Sie sind Predigten und Glaubenszeugnisse der ersten Christen. Sie bezeugen Jesus von Nazaret als den in der Hebräischen Bibel verheißenen Messias (vgl. Mt 11,2-6 mit Jes 3 5,3f und 61,1). Durch das Mittel der Erzählungen vom Wirken Jesu zeigte sich die Menschenfreundlichkeit Gottes und erschloss so Trost, Kraft und Hoffnung für die in Lebensschwierigkeiten stehenden ersten Christen, wenn sie sich im Glauben = Vertrauen auf diese Erzählungen einließen. So verstanden, gelten ihre Aussagen auch heute noch.
Da Wundergeschichten von Anfang an zum Grundstock biblischer Überlieferung, auch in der Hebräischen Bibel, gehören und einen wesentlichen Teil der Evangelien ausmachen - von Jesus werden 35 Wundertaten berichtet - dürfen sie, trotz aller scheinbarer Problematik, im Religionsunterricht nicht ausgespart werden. Schülerinnen und Schülern kann ihr kerygmatischer Sinn, d.h. ihre tiefenpsychologisch deutbare Symbolik, ihr im Glauben annehmbarer Hinweischarakter auf das Reich Gottes, das im Wirken Jesu sichtbar wird, ihr visionärer Charakter und ihr Trost-, Hoffnungs- und Protestaspekt, sowohl für die ersten Christen als auch für ihr eigenes Leben, nahe gebracht werden. Damit die Schülerinnen und Schüler die Wundererzählungen zu ihrer eigenen Lebens- und Erfahrungswelt in Beziehung setzen können, müssen sie allerdings dem Alter entsprechend elementarisiert werden.
Die Schülerinnen und Schüler, für die dieser Unterrichtsentwurf gedacht ist, befinden sich religionspsychologisch auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen. Zum einen werden sie die Wundererzählungen noch unkritisch für wahr halten, zum anderen werden sie sie als unrealistisch in Frage stellen. Es geht darum, ihnen ein Angebot zum Glauben zu machen, einem Vertrauen, das sich auf die Liebe Gottes und ihr ganzes Sein mit Kopf, Herz und Hand einlässt. Sie werden vor allen Dingen als Hoffnungsgeschichten erzählt, da sie so einen existentiellen Zugang und eine Identifikation anbieten und es ermöglichen, Mut zu fassen und das Leben persönlich zu gestalten.
Im Mittelpunkt der Erarbeitung der ausgesuchten Wundergeschichten steht dabei das Medium der Erzählung, das biblische Erzählen.(Bernd Kohlmann: Neutestamentliche Wundergeschichten, Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2002, S. 196/197)
Intentionen
Im Rahmen ihres bisherigen Religionsunterrichts haben die Schülerinnen und Schüler schon die eine oder andere Wundererzählung als Einzelgeschichte kennen gelernt. Im Rahmen dieses Unterrichtsvorschlages sollen sie die Erzählungen von Jesu Wundertaten als wesentlichen Bestandteil des Wirkens des historischen Jesu wahrnehmen. Ihnen soll, wenn auch nur ansatzweise und vorläufig, die Möglichkeit eröffnet werden, eigene Interpretationen zu finden, die sie befähigen, eigenverantwortlich und kritisch-konstruktiv mit einem biblizistischen Wunderverständnis umzugehen: Der Glaube an Gott ist nicht abhängig von einem Für-wahr-Halten der Wunder.
Dazu gehört, dass den Schülerinnen und Schülern der Zeichen- und Symbolcharakter der Wundergeschichten ganzheitlich erschlossen wird. So können sie für ihr eigenes Leben bedeutsam werden, indem sie die Erzählungen als Trost- und Hoffnungsgeschichten hören, aber auch als Protestgeschichten und Aufruf zum persönlichen Handeln verstehen lernen.
Der Einstieg ist bewusst nicht über eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff „Wunder" gewählt worden, sondern mit neutestamentlichen Heilungsgeschichten. Sie soll den Schülerinnen und Schülern eine positive Ersterfahrung im Umgang mit biblischen Wundergeschichten ermöglichen. Dennoch dürfen kritische Anfragen nicht ausgespart werden, damit der eigentliche kerygmatische Sinn der Wundererzählungen thematisiert werden kann. Dies geschieht vor allen Dingen durch die Behandlung von zwei Rettungswundern: Sturmstillung und Speisung der 5.000. Gegebenenfalls kann sich am Ende der Unterrichtseinheit eine kritische Auseinandersetzung mit dem Sprachgebrauch des Wortes „Wunder" im Alltag anschließen.
Inhaltsverzeichnis
1. EINFÜHRUNG
2. UNTERRICHTSVERLAUF
3. MATERIALIEN
Die gekrümmte Frau 14-19
m1 gekrümmt sein - Körperübung
m2 Die Heilung der gekrümmten Frau - biblische Nacherzählung (Lk 13,10-17)
m3 Gebeugt sein - aufrecht stehen
m4 Aufbau einer Wundergeschichte - Analysehilfe für Wundergeschichten
Die Heilung eines Blinden 20-21
m5 Die Heilung eines Blinden bei Jericho - biblische Nacherzählung (Mk 10,46-5)
m6 Blindenheilung (Folie)
m7 Synoptischer Vergleich dreier Blindenheilungen
Die Heilung eines Gelähmten 22-25
m8 Die Heilung eines Gelähmten - biblische Nacherzählung (Mk 2,1-12)
m9 Wir haben Gottes Spuren festgestellt - Lied
m 10 Steh auf, nimm dein Tuch - Anregungen zur Freiarbeit
m11 Sieger Köder: Jesus heilt Kranke" (Folie)
m12 Wunder - Zeichen des Reiches Gottes - biblische Texte zu Reich-Gottes-Vorstellungen
Die Stillung des Seesturmes 26-27
m13 Das Wasser steht mir bis zum Hals - Sprichwörter, Redewendungen
m14 Der Sturm auf dem See - biblische Nacherzählung (Mk 4,35-41)
m15 Im Meer der Angst die große Stille - biblische Nacherzählung (Mt 8,23-27)
Speisung der 5.000 28-31
m16 ... und alle wurden satt - Bibeltext (Mk 6,30-44) und Textvergleich
m17 Gebt ihr ihnen zu essen - Gedicht mit Texten der Hebräischen Bibel zur Speisung der 5.000
m18 Wenn das Brot, das wir teilen - Lied und Geschichte für eine Klassenfeier
m19 Wunder - Gedicht zur Interpretation von „Wunder"
m20 Glauben Sie an Wunder? - Aussagen zum Thema „Was ist ein/gibt es Wunder?"
4. IDEENBÖRSE 32