Hans Mendl
Helden dürfen Menschen sein
„Opfer“ - „Loser“ - „Versager“ - das sind synonyme Schimpfwörter, die sich in der jugendsprache seit der Jahrtausendwende breitmachen. Gemeint sind Jugendliche, die sich nicht ausreichend wehren, die Schwäche zeigen und somit dem Konzept von Härte, Durchsetzungsvermögen und Männlichkeit nicht entsprechen. Hier scheint weit über die Jugendkulturen hinaus eine gesamtgesellschaftliche Vorstellung vom idealen Menschen durch, die durch Erfolg, Stärke und Vitalität gekennzeichnet ist.
Medial wird dieses Konzept noch verstärkt: TV-Formate wie „Deutschland sucht den Superstar“ oder „Germany's Next Topmodel“ zeigen öffentlich Prozesse eines systematischen Aussiebens, der Demütigung von Menschen und einer dichotomen Aufspaltung in Gewinner und Verlierer. Auch die sozialen Netzwerke sind Identitätskonfigurations-Maschinen, in denen sich Kinder und Jugendliche möglichst von ihren guten und besten Seiten her präsentieren. Und wie die Öffentlichkeit mit vom Sockel gestoßenen Denkmälern verfährt, verdeutlicht der gnadenlose Umgang mit scheiternden öffentlichen Persönlichkeiten.
Díametral zu diesen gesellschaftlichen Entwicklungen, die das Leitbild des großen und starken Helden aufrechterhalten, hat man sich in der Pädagogik und auch in der Soziologie von starken, eindeutigen und durchgängigen Helden-Konzepten verabschiedet. In der Pädagogik ist seit Ende der 60er-Jahre ein „Ende der Vorbilder“ (Margarete Mitscherlich) zu beobachten, eine Distanzierung von den großen und unantastbaren Helden, die als „peinliche Überbautypen“, „pädagogische Götter- speisen“ und „pädagogischer Lebertran“ (Siegfried Lenz) betrachtet wurden. Solche Leitbilder widersprachen den Wertvorstellungen von Emanzipation, Autonomie und Selbstentfaltung (Vgl. ausführlicher Mendl 2005, 7-14).
Wenn seit der Jahrtausendwende eine Renaissance der Vorbilder zu verzeichnen ist, so hängt dies mit einer realistischen Sicht auf die Welt zusammen, die als unübersichtlich, bedrohlich und orientierungslos erlebt wird. Der Mythos der Moderne, der selbstbestimmte Mensch könnte sich aus eigenen Kräften eine stabile Identität stiften, hat sich längst verflüchtigt. Orientierungsmarken außerhalb der eigenen Person verleihen dem Einzelnen in einer schnelllebigen und unsicheren Zeit Sicherheit. Doch an welchen Personen sollen sich Kinder und Jugendliche auf dem Marktplatz der Postmoderne orientieren - an den getunten Fernsehstars, den gefakten Promis oder den retuschierten Models?
Dass die nahen Vorbilder weit bedeutender im Prozess des Sich-Orientierens und Lernens sind, ist inzwischen bekannt und empirisch gesichert. An erster Stelle stehen die Eltern, zu denen Kinder und Jugendliche heute weitgehend eine befriedete Beziehung haben, dann folgen die local heroes in der eigenen Umgebung, die verdeutlichen, dass man sich in unserer Gesellschaft in ganz bestimmten Segmenten des Lebens und manchmal auch nur punktuell altruistisch für andere engagieren kann: die Hochwasserhelfer in den Flutkatastrophen des vergangenen Jahres, die ehrenamtlich Tätigen in Vereinen und Sozialeinrichtungen, die mutigen Menschen in Konfliktsituationen des Alltags. Der kleine, nicht der große Held liefert Orientierungsmarken für die eigene Entwicklung; denn wer Stabhochsprungweltmeister werden will, legt nicht beim ersten Sprung schon die Latte auf über fünf Meter.
Solche kleinen Vorbilder entsprechen einer Pädagogik des nächsten Schritts. Auch die Soziologie liefert Hinweise, dass man sich vor einer Idealisierung und Überhöhung von Lebensbiografien hüten sollte: Von der Vorstellung Erik Eriksons, dass mit der Jugendphase der Prozess der Identitätsbildung abgeschlossen sei, hat man sich schon längst entfernt. Die Identitätsbildung heute erweist sich als ein äußerst fragiler Prozess, als eine Balance zwischen personaler und sozialer Identität. Unter den Signaturen der Postmoderne wird die Vorstellung eines in sich ruhenden, mit sich über Zeit und Raum hin konsistenten Subjekts zunehmend bezweifelt: Das Subjekt ist weit brüchiger und weit weniger selbstbestimmt, als man meint! Soziologen machen angesichts diverser lebensweltlicher Fragmentarisierungs-Erfahrungen die Tendenz hin zu einer Patchwork-Identität aus: Man ist gezwungen, aus einer Vielzahl von Lebensentwürfen auszuwählen und eine dynamische, wandelbare und häufig brüchige Identität zusammenzubasteln („bricolage“, „Patchwork-Identität“, „multiple Identität“). Dies zeigt sich beispielsweise auch darin, dass man einen Berufswechsel heute nicht mehr wie früher als Indiz für ein berufliches Scheitern ansieht, sondern als Ausdruck von Lebendigkeit und Wandlungsfähigkeit. Identitätsbildung spielt sich demnach in der Dynamik von Wirklichkeit und Möglichkeit ab: In der Auseinandersetzung mit den Erzählungen fremder Biografien und dem gleichzeitigen Blick auf die eigene, der man sich erzählend vergewissert („narrative Identität“), wird das Leben (neu) strukturiert, werden Zusammenhänge hergestellt und Widersprüche integriert. Aufgabe schulischer Lernprozesse ist es, diese fragilen Prozesse einer Identitätsbildung zu unterstützen.
Inhaltsverzeichnis
1. EINFÜHRUNG 1–2
2. DIDAKTISCHE HINWEISE 3–12
3. MATERIALIEN 13–32
Woran orientiere ich mich? 13–19
m1 Die Top 10 der Lebensziele
– Vergewisserung über die eigenen Lebensziele (Ranking).
m2 „Ich bin der Beste!“
– Stellenausschreibung mit Blick auf optimierte Selbstdarstellung.
m3 „Bevor ich morgens schnell bei Facebook reinguck ...“
– Präsentation in sozialen Netzwerken.
m4 Kontaktanzeige
– Optimierte Selbstdarstellung für eine Kontaktanzeige.
m5 Niederlagen im Alltag
– Lernen, mit Niederlagen konstruktiv umzugehen.
Biblische Vorbilder 20–23
m6 Kain [Nur auf der CD-ROM]
m7 Moses
– Text- und Bildanalyse als Zugang zum Begriff der „Berufung“.
m8 König David
– Textarbeit zum (vorbildlichen) Umgang mit Schuld.
m9 Hiob
–Textarbeit zum Verständnis von Trost und Hoffnung.
m10 Paulus
– Bibeltextvergleich zur Bewertung einer Person.
m11 Der Gott der Christen [Nur auf der CD-ROM]
Menschen wie du und ich? 24–30
m12 Elisabeth von Thüringen
– Fiktive Zeitungsmeldung mit einer Parallele zu Elisabeth.
m13 Franz Jägerstätter
– Text- und Fotoinfo über einen Kriegsdienstverweigerer.
m14/1 Nikolaus Groß
– Rollenspiel zur Konsequenz eines couragierten Widerstands.
m14/2 Nikolaus Groß
– Der Abschiedsbrief von 1945.
m15 Walter Bichlmeier
– Beispiel für die Recherche mit der Local-hero-Datenbank.
m16 Dominik Brunner
– Beispiel für Zivilcourage.
m17 Peter Saller
– Organspende und Krankheit als Feld der Bewährung.
m18 Samuel Koch [Nur auf der CD-ROM]
Vorbild sein 31–32
m19/1 Vorbild sein (Folie 1)
m19/2 Vorbild sein
– Zwischen Leitbildern, Vorbildern, Helden, Heiligen, Idolen und Stars unterscheiden.
m19/3 Vorbild sein (Folie 2)
m20 Gebrochene Biografien – Vorbilder?
– Übertragung des bisher Erarbeiteten auf die eigene Person.