Vorwort
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Leid ist ein Aspekt allen Lebens. Die menschliche Kulturgeschichte zeigt eine große Bandbreite von Lebens- und Weltentwürfen, die in je verschiedener Weise dem Leid begegnen bzw. sich dem Leiden zu entziehen versuchen. Für Christen, für Moslems wie für Juden ist persönliches oder überliefertes Leid im Diesseits nur punktuell linderbar, nicht aber gänzlich zu beseitigen. Die Buddhisten entziehen sich - ganz verkürzt gesagt - dem Leid (oder der Frustration), indem sie sich in eine bestimmte Grundhaltung , dem Leben gegenüber einüben. Diese Grundhaltung besteht darin, einzusehen, dass alles um uns herum unbeständig und nur Übergang ist. Nach buddhistischer Überzeugung entsteht Leid, wenn wir dem Fluß des Lebens widerstreben und uns an feste Formen klammern, seien es Menschen, Dinge, Ereignisse oder Ideen. Durch Meditation und Versenkung kann man das "menschliche" Widerstreben ablegen.
Die Frage nach den Wurzeln des Leidens beinhaltet stets einen anthropologischen und für Gläubige auch einen theologischen Aspekt.
Die Anthropologie fragt nach der Beschaffenheit des Menschen als von Natur aus gutem oder schlechtem Wesen. Das Ergebnis dieser Analyse ist vielschichtig, da sich die Menschen als Verursacher wie Leidende zeigen.
Schlägt der Christ die Bibel auf, um nach dem Wesen des Menschen zu fragen, erfährt er, dass der Mensch die Krone der Schöpfung ist, ausgestattet mit einem freien Willen und der Aufgabe, die übrige Schöpfung zu "verwalten". Doch die Möglichkeit, sich frei für das Gute zu entscheiden, scheint den Menschen zu überfordern. Sobald eine Versuchungssituation entsteht, reicht die Widerstandskraft nach aller Erfahrung oftmals nicht aus. Schon das erste Menschenpaar, Adam und Eva, erliegt in der christlichen Urgeschichte dieser Schwäche.
In der theologischen Tradition hat die Erfahrung, dass die Entscheidungsfreiheit zu Leid und Unheil führt, kritische Fragen über das Wesen Gottes und seiner Schöpfung ausgelöst, die der Philosoph Leibnitz im siebzehnten Jahrhundert unter dem Titel "Theodizee" als Dilemma des Schöpfers systematisierte. Sehr verkürzt konnte man die Fragestellung so beschreiben: Wenn Gott doch der Allmächtige ist, wie ist dann von ihm all das Leid in der Welt zu verantworten? Müsste nicht er - als Allmächtiger - handeln, eingreifen? Ganz besonders, da er doch als Allgütiger wie niemand sonst an diesem Leid (mit-)leiden müsste? Der Handlungsspielraum Gottes ist jedoch eingeschränkt durch die Willensfreiheit des Menschen. Wie also kann Gott, wie können wir dieses Dilemma aushalten? Die Frage nach der Ursache oder gar dem Sinn des Leids, das weder mittelbar noch unmittelbar durch den Menschen verursacht wird, ist nur ein anderer Blickwinkel dieser einen Frage, an der sich Theologen wie Philosophen "die Zähne ausbeißen": Woher kommt das Leid; wem nützt es; warum lässt Gott es zu, oder schickt er es gar? An diesen Fragen, die uns auch die Schüler/innen stellen, ist schon mancher mit allzu glatten oder ausweichenden Antworten gescheitert. Wie bei kaum einer anderen theologischen Fragestellung geht es hier ans "Eingemachte" auch der Lehrerinnen und Lehrer, gerade weil sich allzu einfache Erklärungsversuche von allein verbieten oder sich schnell als widersprüchlich erweisen. Vielleicht ist den Schülerinnen und Schülern an dieser Stelle lediglich zu vermitteln, dass es Lebens-Fragen gibt, die man fragend aushalten muss; deren "Lösung" vielleicht erst mit zunehmender Reife möglich wird. Unser Material versucht dafür Denkansätze zu eröffnen.
Didaktische Überlegungen/Zielsetzungen
In jeder Lerngruppe wird es Schüler/innen geben, die bereits in ihrem noch jungen Leben schon viel (persönliches) Leid erfahren und durchlitten haben. Andere dagegen lassen Leid nicht so sehr an sich heran. Die Toten, die in einer Woche "über den Bildschirm gehen", sind nicht mehr zu zählen. Katastrophen und Kriegsnachrichten sind an der Tagesordnung. Hinzu kommt noch der "erdachte" (fiktive) Terror immer brutalerer Kino- und Fernsehproduktionen. Die alltägliche Anhäufung von Leid kann abstumpfen. Es zeigt sich nicht nur in der Schule, dass es schwieriger wird, junge wie alte Menschen für die Auslöser, Ursachen und Folgen von Leid empfänglich zu machen. Je stärker eine möglichst "coole" Haltung in ist, desto schwieriger wird es, über Gefühle überhaupt offen zu reden, unabhängig davon, ob diese "Coolness" echt oder nur vorgetragen ist. Dabei sind es gerade oft Jugendliche, die das Elend der Welt empört, die sich für die Abschaffung von Folter, Unterdrückung und sozialer Ungerechtigkeiten einsetzen und für den Frieden "auf die Straße gehen". Jugendliche kritisieren sehr offen (religiöse) Erklärungsversuche, die hinter diesem Elend noch einen Sinn glauben rechtfertigen zu müssen. Genau an dieser Stelle ist die Christin/der Christ als Religionslehrer/in gefragt:
Sie/Er ist aufgefordert, mit allen Kräften innerweltlich auf das transzendente Reich Gottes hinzuarbeiten. In diesem Fall heißt das, das einzigartige Geschenk des Christentums herauszuarbeiten, das darin besteht, dass jeder Mensch, alle Kreatur aufgehoben und angenommen ist von einem liebenden Gott, der alle Fehlschläge, alle Irrwege, alle Trauer und Enttäuschung, alles Leid wandeln wird in eine vollkommenere Wirklichkeit, zu der alle berufen sind.
Diese Unterrichtsreihe hat folgende Ziele:
Die Schüler/innen sollen sich mit Fragen auseinander setzen, die angesichts des Leides in der Welt entstehen. In einem weiteren Schritt sollen sie sich mit Antworten beschäftigen, die die christliche Religion zu geben vermag. Es wird sich zeigen, dass es - auch für einen Gläubigen - keine Patentantworten gibt. Dennoch lohnt es sich, die zahlreichen theologischen Denkmodelle zu betrachten, weil nur sie die Schwierigkeit und Ernsthaftigkeit der Frage herauszustellen vermögen. Man kann versuchen, die Schüler/Innen affektiv zu erreichen, indem man sie mit Menschen konfrontiert, die in der Lage sind, ihr Leid mit Hilfe des Glaubens (und ihrer Lebenserfahrung) so weit zu bewältigen, dass sie nicht daran zerbrechen oder zerbrochen sind.
Inhaltsverzeichnis
1. EINFÜHRUNG UND DIDAKTISCHE ÜBERLEGUNGEN/ZELSETZUNGEN
2. UNTERRICHTSVERLAUF
3. MATERIALIEN
Einführung
M1"Leid" - und nochmals Leid - Was man in Internet-Suchmaschinen so alles unter Leid findet
M2 Collage - Bilder des Leids
M3 Fallbeispiele - Dreimal konkretes Leid
Der Mensch und das Leid
M4 Barmherzigkeit: ein anderes Wort für Mitleid - Mitleid: eine Tätigkeit oder ein Anstoß?
M5 Leid als Sensation - Freude am Leid anderer? - Sensationsgier
M6 Leid - durch Menschen verursacht - Bewußtes und Unbewußtes
M7 Leid durch "höhere" Gewalt - Wer ist für Leid verantwortlich?
M8 Vom Leiden erlöst - Trost für Angehörige; Wunsch nach Sterbehilfe
M9 Glück - Das Gegenstück zum Leid? - Angst vor Zerstörung des Glücks - Bewältigung von Leid
M10 Hängen Schuld und Leid zusammen? - Kollektives Leiden Unschuldiger für die Sünden anderer?
Die Christen und das Leid
M11 Hilfe bei Leid durch die Psychotherapie oder beim Seelsorger? - Gesprächsrunde
M12 "Die Zeit heilt alle Wunden?" - Drei Fallbeispiele
M13 Zufall - Schicksal - Vorsehung - Gottes Wille: Begriffsabgrenzungen
M14 Theodizee: Rechtfertigung Gottes - Einführung in das klassische Dilemma der Theodizee
M15 Leiden in der Nachfolge Christi: Je größer das Leid, desto sicherer das Himmelreich?
M16 Stellvertretendes Leiden Christi: Für uns gestorben -
Warum Stellvertretung nicht in allen Dingen möglich ist
M17 Folie: Leid hinterlässt Spuren
4. ZEITAUFGABEN
5. OFFENER UNTERRICHT/IDEEN
6. TAFELBILDER