Dieter Tiemann
Das Bismarck-Reich
Das 1871 gegründete zweite Kaiserreich war verfassungsrechtlich ein Bund von 25 deutschen Staaten, indem Preußen mit rund zwei Dritteln des Territoriums ein erdrückendes Übergewicht behielt. Die Bundesstaaten hatten weitreichende Autonomierechte und übten über den Bundesrat ihre Beteiligung an der Reichs-Gesetzgebung aus. Der nach allgemeinem und gleichem (Männer-)Stimmrechtgewählte Reichstag verabschiedete Gesetze, hatte das Budgetrecht (Ausnahme: Militär-Haushalt) und konnte die Regierung mittels Anfragen kontrollieren; er hatte keinen unmittelbaren Einfluss auf die Zusammensetzung der Regierung. Die war nämlich nur vom Vertrauen des Monarchen abhängig. An der Spitze dieses unter preußischer Hegemonie stehenden Bundesstaates – zugleich ein Macht- und Militärstaat, ein Rechtsstaat, ein Obrigkeitsstaat und ein Verfassungsstaat mit einem parlamentarischen System – stand der Deutsche Kaiser. Wilhelm I. übertrug Otto von Bismarck (1815-1898) die Regierungsgeschäfte des Reichskanzlers, und dieser blieb über den Tod des Monarchen hinaus (1888) bis zum Jahr 1890 in diesem Amt. Daneben blieb er preußischer Ministerpräsident und führte den Vorsitz im Bundesrat. In Bismarck konzentrierte sich also die Exekutive des Reiches, und die beiden Jahrzehnte, in denen er diese Positionen innehatte, sind entscheidend von ihm geprägt worden. Bismarck stand vor gewaltigen Herausforderungen, die von der Herstellung der inneren Einheit bis zur Absicherung des jungen Reiches im System der europäischen Großmächte reichten. Im Hochgefühl des Sieges über Frankreich erlebte Deutschland zunächst einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung, der nicht zuletzt durch die französische Kriegsentschädigung von fünf Milliarden Francs stimuliert wurde. Diese „Gründerzeit“ endete jedoch abrupt. Mitte der siebziger Jahre begann eine lange Phase wirtschaftlicher Stagnation. Erst 1890 wurde das Investitionsniveau von 1873/74 wieder erreicht. Die politischen Konsequenzen des ökonomischen Prozesses zeigten sich ab 1878 in Bismarcks Abkehr von den Liberalen und ihren wirtschaftlichen Vorstellungen sowie in der Hinwendung zu den konservativen Kräften und der damit verbundenen Schutzzoll-Strategie zur Abschirmung der deutschen Landwirtschaft und Industrie vor ausländischer Konkurrenz. Beherrschendes innenpolitisches Thema der siebziger Jahre war der sogenannte Kulturkampf. Ganz allgemein wurde unter dem Begriff der Kampf der deutschen Kultur gegen die undeutschen „ultramontanen“ (d.h. jenseits der Berge im Vatikan beheimateten) Mächte verstanden. Konkret ging es um den Konflikt zwischenstaatlicher Autorität und katholischem Einfluss im Deutschen Reich. Mit einer Reihe von Gesetzen („Kanzelparagraph“, Verbot des Jesuitenordens, „Brotkorbgesetz“ usw.) sollte der Katholizismus als politischer Machtfaktor ausgeschaltet werden. Am Ende erwiesen sich alle diese Maßnahmen als kontraproduktiv, denn sie förderten den Zusammenschluss der Katholiken im Reich, und das Zentrum – die Partei des politischen Katholizismus – verdoppelte seine Mandate. Ab 1876 lenkte Bismarck allmählich ein. Zwei Attentate auf Wilhelm I. im Jahr 1878, die fälschlicherweise der Sozialdemokratie zur Last gelegt wurden, gaben Anlass für das Sozialistengesetz, das neben dem Verbot einschlägiger Vereine, Versammlungen und Druckschriften sowie Ausweisungsmöglichkeit für Agitatoren auch die Ausrufung des Ausnahmezustandes in „gefährdeten Bezirken“ vorsah. Es verbot allerdings nicht die Wahl sozialdemokratischer Abgeordneter, sodass deren parlamentarische Arbeit, wenn auch unter erschwerten Bedingungen, möglich blieb. Die Bekämpfung der Sozialdemokratie hatte Bismarck auf seine Fahnen geschrieben, weil deren internationalistischen, republikanischen, atheistischen und revolutionären Bestrebungen seinen eigenen politischen Überzeugungen (und des ihn tragenden politischen Milieus im Reich) diametral entgegengesetzt waren. Brechen konnte er die Arbeiterbewegung damit nicht – im Gegenteil, 1890, im Jahr der Nichterneuerung des Sozialistengesetzes, stieg die Sozialdemokratie zur stärksten Partei im Reichstag auf. Aus sozialer Verantwortung, aber auch, um die Arbeiter von der Sozialdemokratie fernzuhalten, führte Bismarck in den achtziger Jahren erste Komponenten einer dann in den folgenden Jahrzehnten immer weiterausgebauten (und heute auf dem Prüfstand stehenden) Sozialversicherung ein. Diese Anfänge staatlicher Sozialpolitik, Kehrseite antisozialistischer Repression, boten den Arbeitern bescheidenen Schutz vor den Risiken des Lebens (1883 Krankenversicherung, 1884 Unfallversicherung, 1889 Invaliditäts- und Altersversicherung). Als Instrument zur Bekämpfung der Sozialdemokratie hat sich aber auch diese Seite von Bismarcks Innenpolitik nicht bewährt. Insgesamt ist sie dadurch gekennzeichnet, dass sie auf Sozialisten, Liberale) und deren Stigmatisierung als „Reichsfeinde“ setzte.
In seiner Außenpolitik ging es Bismarck darum, die durch die Reichsgründung geschaffene neue Mächtekonstellation in Europa für alle Beteiligten erträglich zu machen. Die geopolitische Lage Deutschlands im Zentrum des Kontinents erforderte zudem die Sicherung des neuen Reiches durch dessen Einbindung in das europäische Mächtesystem. Seine außenpolitische Grundlinie hat der Kanzler im berühmten „Kissinger Diktat“ von 1877 skizziert Polarisierung und Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsgruppen (Katholiken, Verhinderung einer gegen das Reich gerichteten Allianz („cauchemar des coalitions“), Vermittlung bei Konflikten zwischen anderen Mächten und bis zu einem gewissen Grade deren Förderung, um sie so von einem Bündnis gegen Deutschland abzuhalten, Kriegsvermeidung. Dabei stand immer auch der Gedanke im Vordergrund, Frankreich dauerhaft zu isolieren und so von einem Revanchekrieg abzuhalten. Der Berliner Kongress 1878 bot Bismarck Gelegenheit, als „ehrlicher Makler“ zwischen den in Balkanfragen tief zerstrittenen Mächten Osterreich-Ungarn, Russland, Osmanisches Reich und Großbritannien aufzutreten. Mit einer Reihe von Verträgen (u. a. 1879 Zweibund, 1881 Dreikaiserbündnis, 1882 Dreibund, 1887 Rückversicherungsvertrag) schuf er dann ein immer komplizierteres Bündnissystem, das im Grunde nur funktionierte, solange es keinen Krieg gab. Seine Nachfolger haben sich schnell davon verabschiedet und anstelle seiner Politik der Selbstbeschränkung und des subtilen Austarierens der eigenen Möglichkeiten ungenierte deutsche „Weltpolitik“ betrieben.1890 entließ der junge Kaiser Wilhelm II. den alten Kanzler. Unmittelbarer Anlass war der Konflikt um die Frage des direkten Ministervortrags beim Monarchen. Der auf persönliches Regiment erpichte Monarch duldete im Grunde keine Autorität neben sich. Weiterer Anlass der Entlassung waren gegensätzliche Auffassungen in der Behandlung der sozialen Frage und der Sozialdemokratie: Während Bismarck für eine Verschärfung des Kampfes eintrat, wollte Wilhelm II. sich als Monarch der inneren Versöhnung profilieren (was ihn nicht hinderte, wenige Jahre später einen um so schärferen antisozialdemokratischen Kurs einzuschlagen). Im Grunde ging es um einen Machtkonflikt, der von einem Generationenkonflikt und einem Konflikt über alte und neue Ziele deutscher Politik genährt wurde. Die Mehrheit der Deutschen nahm Bismarcks Sturz bei allem Respekt für die Leistungen des „Reichsgründers“ mit Erleichterung auf. Sie sah in dem Kanzler das Symbol der Stagnation, einer überlebten Ordnung sowie alter und unwirksamer politischer Methoden. Der Wechsel in der Regierung wurde weitgehend als Aufbruch in eine neue Zeit, in eine glänzende Zukunft verstanden. Inwieweit Bismarcks Nachfolger sein Erbe verspielt haben, inwieweit Bismarck selbst schon die Wurzeln späterer Desaster der deutschen Geschichte gelegt hat, sind Fragen, die von den Historikern bis heute kontrovers diskutiert werden.
Inhaltsverzeichnis
ZUM INHALT 1
MATERIALIEN 3
1. Teil: Grundlagen
M 1.1 Konstitution, Territorium, Chronologie 3
M 1.1.1 Verfassung 3
M 1.1.2 Grenze des Deutschen Reiches von 1871 3
M´1.1.3 Zeittafel 4
M 1.2 Das Selbstverständnis der Deutschen im Bismarckreich 5
M 1.2.1 Unzeitgemäße Betrachtungen 5
M 1.2.2 Gedenkblatt 5
M 1.2.3 „Volk in Waffen" 6
2. Teil Innenpolitik
M 2.1 Gründungsfieber und große Depression 6
M 2.1.1 Erinnerungen an die Gründerzeit 6
M 2.1.2 Berichte 7
M 2.1.3 Wirtschaftsdaten 8
M 2.2 Kulturkampf 8
M 2.2.1 „Die ultramontane Partei ..." 8
M 2.2.2 Gesetze 9
M 2.2.3 Canossasäule auf dem Burgberg zu Harzburg 10
M 2.2.4 Modus vivendi 11
M 2.3 Sozialistengesetz und Sozialgesetzgebung 12
M 2.3.1 „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" 12
M 2.3.2 Auswirkungen 13
M 2.3.3 Kaiserliche Botschaft vom 17.11.1881 14
M 2.3.4 Konkretisierung 15
3. Teil: Außenpolitik
M 3.1 Außenpolitische Grundsätze 18
M 3.1.1 Kissinger Diktat 18
M 3.1.2 Reichstagsrede Bismarcks vom 19.2.1878 19
M 3.2 Praktische Politik 20
M 3.2.2 Bismarcks Bündnissystem 20
M 3.2.3 Dreibund 20
M 3.2.4 Rückversicherungsvertrag 21
4. Teil: Das Ende der Ära Bismarcks
M 4.1 Bismarcks Entlassung 22
M 4.1.1 Entlassungsgesuch 22
M 4.1.2 Dropping the Pilot 23
M 4.2 Rückblick und Ausblick 24
M 4.2.1 Ein neuer Kurs 24
M 4.2.2 Die Sicht eines Sozialdemokraten 24
Folien
M 3.2.1 Der Berliner Kongress Folie 1
M 4.2.3 Das Banner der Humanität Folie 2
Klausurvorschlag
Zwei Historikerstimmen 25
UNTERRICHTSVERLAUF 263
LITERATUR 3. Umschlagseite