Gisela Sellin
Die Türkei im 20. Jahrhundert
Die Diskussion um die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union sowie die Folgen der türkischen Migration in die Bundesrepublik werfen Fragen nach den aktuellen Bedingungen in der Türkei und nach historischen Hintergründen auf. Zur türkischen Geschichtspolitik gehört es (u.a. mittels nationaler Feiertage, öffentlicher Huldigungen am Mausoleum Atatürks in Ankara sowie der Einbindung der Kinder und Jugendlichen) eine Identifikation mit einem glorifizierten Bild von Mustafa Kemal Atatürk herzustellen und dadurch die „Einheit"' einer multiethnischen und multireligiösen Nation zu erreichen. Atatürk selbst hat u.a. mit seiner mehrtägigen Rede vor dem Kongress der Volkspartei vom 15.-20. Oktober 1927 wesentlich dazu beigetragen. „Seine [Atatürks] Auslegung", so der Historiker Klaus Kreiser, „wurde sofort Bestandteil des offiziellen türkischen Geschichtsbildes. Mustafa Kemals Rolle wurde ins Überdimensionale gesteigert, die Rolle seiner Kampfgefährten herabgesetzt.“ (Kreiser 2003, S. 389) Zur staatlich verordneten Geschichtsvorstellung gehört ein parteiliches Bild von der Entstehung der Republik Türkei und ihrer Vorgeschichte. Beleg dafür ist z.B. die rigide Haltung des türkischen Staates gegenüber einer kritischen Aufarbeitung der „armenischen Frage", speziell die Charakterisierung der Vorgänge und Folgen der Deportation während des I. Weltkrieges als Völkermord wird nicht geduldet. (Vgl. auch Christian Schmidt-Häuer, „Wer am Leben blieb, wurde nackt gelassen", in: Die Zeit, Nr. 13, 23. März 2005). In den heftigen Reaktionen in der Türkei auf Kritik aus den multiethnischen und multireligiösen europäischen Demokratien (z.B. in deren Denunziation als „Christenclub“) hallt das Echo einer längst vergangenen Zeit. Nach Jürgen Gerhards zeigt der European Value Survey von 1999/2000 (mit nationalen Stichproben von mindestens je 1.000 Befragten) signifikante Unterschiede zwischen den alten und neuen EU-Ländern sowie den Aspiranten Bulgarien, Rumänien und der Türkei: So bejahen z.B. in der Türkei 66,1% der Befragten, dass man einen starken Führer benötige, der sich nicht „um das Parlament und Wahlen kümmern muss“, in den alten EU-Ländern sind dies nur 24,2%; in den alten EU-Ländern sind 69,8% nicht der Ansicht, dass Männer ein größeres Recht auf Arbeit haben als Frauen; in der Türkei sind dies nur 34,4% (Jürgen Gerhards, Europäische Werte: Passt die Türkei kulturell zur EU?, 2004, S. 16 ff.).
Die empirische Studie Youth and History von 1995 belegt – so Bodo von Borries –, dass sich Jugendliche aus türkischen Migrantenfamilien in ihren Werthaltungen „zwischen“ türkischen und deutschen Jugendlichen befinden: Sie zeigen spezifische Wertungen, wenn sie auf ihre eigene Rechtsstellung und Probleme als Migrantinnen und Migranten angesprochen werden. So fällt auf, dass türkische Migrantinnen und Migranten im Vergleich zu Türken und zu Deutschen eine „besonders niedrige Affirmation von Demokratie“ „ aufweisen. Von Borries erklärt dies damit, dass „Deutsch-Türken als ausländische Minderheit selbst kein Wahlrecht haben bzw. als Erwachsene bekommen werden“. (Bodo von Borries, Interkulturelle Dimensionen des Geschichtsbewußtseins, in: Bernd Fechler/Gottfried Kößler/Till Liebertz-Groß (Hrsg.): „Erziehung nach Auschwitz“ in der multikulturellen Gesellschaft. Pädagogische und Soziologische Annäherungen, Weinheim 2000, S. 119-139, hier: S. 132 f.) Umgekehrt kann auch bei deutschen Jugendlichen und Erwachsenen kein differenziertes Wissen über die Entwicklung und die Leistungen der Türkischen Republik, die Hintergründe des nationalen türkischen Geschichtsverständnisses sowie die Migration in die Bundesrepublik Deutschland vorausgesetzt werden. Ein interkultureller Geschichtsunterricht tut Not.
Die hier vorgestellte Unterrichtseinheit versucht hierzu einen Beitrag zu leisten, indem sie drei Absichten verfolgt: Zum Ersten sollen vorhandene Geschichtsbilder und Denkstrukturen argumentativ bearbeitet werden. Zum Zweiten soll durch die Thematisierung im Unterricht Kindern und Jugendlichen aus Migrantenfamilien der Respekt erwiesen werden, auf den sie als Mitglieder der bundesdeutschen Gesellschaft berechtigten Anspruch haben. Ein national fixierter Geschichtsunterricht schließt sie dagegen aus der „Mehrheitsgesellschaft“ und aus dem Unterricht aus, da sie zu dieser deutschen „Schicksalsgemeinschaft“ nicht gehören bzw. nur unter Selbstverleugnung gehören können. Die Einheit soll zum Dritten zu einem Geschichtsbewusstsein beitragen, dass der Faktizität der bundesdeutschen Einwanderungsgesellschaft Rechnung trägt.
Die Entwicklung eines interkulturell reflektierenden und reflexiven Geschichtsbewusstseins setzt voraus, dass die Widersprüchlichkeit historischer Entwicklungen und die Perspektivgebundenheit der Quellen, Sachurteile und Wertungen deutlich gemacht wird. […]
Inhaltsverzeichnis
ZUM INHALT 1-4
MATERIALIEN 5-25
Grundkurs: Entstehung und Aufbau der Türkischen Republik 5-20
1. Teil: Die Entstehung der Türkischen Republik 5-9
M 1.1 Die Türkei als Teil Europas? 5
M 1.3 Chronologie (1826-1914): Modernisierung und Krise im Osmanischen Reich 5
M 1.4 Die Türkei im Ersten Weltkrieg 6
M 1.5 Der Waffenstillstand 6
M 1.6 Anpassung oder Widerstand? 7
M 1.7 Strategie und Programm der Nationalen Bewegung 8
M 1.8 Chronologie (1881-1953): Die Entwicklung der Türkischen Republik und die Rolle Mustafa Kemals 9
2. Teil: Der Aufbau der Türkischen Republik 10-17
Außenpolitik: Von Sevres nach Lausanne 10-12
M 2.1 Die Türkei nach Sevres und in heutigen Grenzen (Karte) 10
M 2.2 Der Vertrag von Sevres (10.8.19 20) 11
M2.3 Der Vertrag von Lausanne (24.7.1923) 12
Verfassungsentwicklung und Verfassungswirklichkeit 13-14
M 3.1 Das Verfassungsgesetz vom 20.1.1921 13
M 3.2 Das Verfassungsgesetz vom 20.4.1924 13
M 3.3 Die Verfassungswirklichkeit 14
Bildungsreformen 15
M 4.1 Atatürk lehrt das lateinische Alphabet 15
M 4.2 Bildungsentwicklung 1927-1960 15
Frauenemanzipation 18-19
M 5.1 Frauenbild(er) 18
M 5.2 Mustafa Kemal zur Frauenfrage 19
M 5.3 Schülerinnen und Lehrerinnen 1960/61 19
M 5.4 „Vorbild im Männerstaat“ 19
3. Teil: Urteile über Mustafa Kemal Atatürk und den Erfolg der Reformen in der Türkei 20-21
M 6.1 Halil Gülbeyaz (Journalist), 2003 20
M 6.2 Hans-Lukas Kieser (Historiker), 2000 20
M 6.3 Udo Steinbach (Leiter des Deutschen Orient-Instituts), 1996 21
M6.4 Ernst Reuter, 1947 21
Erweiterungsmodul: Migration in die Bundesrepublik 22-26
M 7.1 Migration im Bild 22
M 7.2 Chronologie der Migration 22
M 7.3 Die Situation in der Türkei 1980er-Jahren 23
M 7.4 „Wie der türkische Arbeiter sich in einem fremden Land verhalten und seine Identität bewahren soll“ 23
M 7.5 Wer kam wann warum? Zwei Positionen 24
Folien
M 1.2 Territoriale Entwicklung: die Spätphase des Osmanischen Reiches Folie 1
M 1.9 Gedenktag 19. Mai Folie 2
Klausurvorschlag
Mustafa Kemals Aufruf an die Jugend (aus einer Rede von 1927) 25
UNTERRICHTSVERLAUF 26
LITERATUR 3. Umschlagseite
Verlagstext
"Geschichte betrifft uns" bietet Planungsmaterial für einen modernen und interessanten Geschichtsunterricht in der Sek. II unter Berücksichtigung der Klassen 9 und 10. Jede Ausgabe enthält: eine Einführung ins Thema, kopierfertige Vorlagen der Texte, Übersichten, Schaubilder, Karikaturen und Fotos, Vorschläge für den Unterrichtsverlauf, Tafelbilder und einen Klausurvorschlag. In jeder Mappe finden Sie außerdem zwei farbige OH-Folien.