Dieter Tiemann
Franzosen und Deutsche
Als Karl der Große herrschte, gab es noch keine Franzosen und keine Deutschen. Die Geburt der beiden Völker ist vielmehr das Ergebnis eines langen historischen Prozesses, der mit dem Zerfall des Frankenreiches beginnt und im zehnten bis elften Jahrhundert abgeschlossen ist. Über diesen Befund dürfen allerdings bedeutsame Ereignisse aus der Zeit davor nicht ignoriert werden. Dazu gehören etwa die Straßburger Eide (842) und der Vertrag von Verdun (843). Während des Mittelalters entfalteten sich Kontakte zwischen Franzosen und Deutschen im Wesentlichen auf dem Feld der Kultur. Die Architektur der Gotik verbreitete sich von Nordfrankreich aus über ganz Europa. Französische und deutsche Ritter begegneten sich auf ihren Kreuzzügen und trugen damit zur Herausbildung eines einheitlichen Habitus der damaligen Kampfeliten bei. Geistige Strömungen kannten keine Grenzen; so lehrte der Scholastiker Albertus Magnus (um 1193-1280) sowohl in Köln als auch in Paris.
Eine politische Dimension erhielten die deutsch-französischen Beziehungen durch andauernde Konflikte um Burgund, jenem ausgedehnten Herzogtum, das Karl der Kühne (1467-1477) zu einem Zwischenreich ausbauen wollte, dessen Erbe dann aber an die Habsburger fiel. Der daraus resultierende Gegensatz zur französischen Krone eskalierte unter Kaiser Karl V. (1519-1558), der zugleich König von Spanien war. Diese habsbur-gische Umklammerung mündete in die langfristige Strategie der französischen Könige, die Macht der Habsburger im Reich zu schwächen. Im Westfälischen Frieden (1648) wurde das Ziel erreicht: Frankreich konnte jederzeit Einfluss auf die Politik im Reich ausüben und die deutschen Fürsten stiegen zu souveränen Landesherren auf.
Unter Ludwig XIV. (1661-1715) setzte eine expansive französische Deutschlandpolitik ein. Das Vordringen zum Rhein erreichte mit der Annexion Straßburgs (1681) einen gewissen Höhepunkt. Im Pfälzischen Erbfolgekrieg (1688-1697) lösten die von französischen Truppen verursachten Zerstörungen (u.a. das Heidelberger Schloss und der Dom zu Speyer) erste antifranzösische Bekundungen in der betroffenen Bevölkerung aus. Als prägender für die deutsch-französischen Beziehungen des 17. und 18. Jahrhunderts erwies sich jedoch ein Kulturtransfer, der Frankreich zum Modell in Politik (Absolutismus), Wirtschaft (Merkantilismus), Kultur (Umgangssprache in der deutschen Oberschicht: Französisch) und Architektur (Versailles) aufsteigen ließ. Mit der Französischen Revolution von 1789 kamen die Ideen der Freiheit, Gleichheit und nationalen Solidarität auch in die zersplitterte deutsche Staatenwelt. Freilich sahen die Deutschen sich bald darauf weniger als Nutznießer jener weltumspannenden Ideale denn als Opfer napoleonischen Eroberungsdranges. Als unter den Schlägen der französischen Armeen das Alte Reich untergegangen war, entstand in den Köpfen deutscher Intellektueller ein Nationalismus, der seine Kraft aus der Feindschaft zum westlichen Nachbarn schöpfte. Ernst Moritz Arndt etwa forderte den Hass auf die Franzosen als Mittel zur Erzeugung und Erhaltung eines Zusammengehörigkeitsgefühls der Deutschen. Demgegenüber verstummten zwar nicht die frankreichfreundlichen Stimmen (Börne, Heine, Rüge), aber die Meinungsführerschaft gewannen schließlich doch die frankophoben Ressentiments. Währenddessen wuchs in Frankreich unter dem Einfluss des Deutschlandbuches der Madame de Stael (1810/14) das wohlwollende Interesse am östlichen Nachbarn. Zahlreiche französische Geistesgrößen fuhren über den Rhein, um dort jene literarischen, philosophischen und wissenschaftlichen Anregungen zu finden, die sie im eigenen Land vermissten.
Das alles änderte sich schlagartig in den Kriegen von 1866 und 1870/71. Jetzt sahen die Franzosen im Osten nicht mehr das Land der Dichter und Denker, sondern der kühlen Strategen und einer barbarischen Soldateska. Die Kaiserproklamation vom 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles wurde als Erniedrigung empfunden, während die Deutschen sich im Sieg über den „Erbfeind" sonnten. Für Jahrzehnte gehörte der deutsch-französische Gegensatz zu den Grundpfeilern der europäischen Politik. Auf beiden Seiten verbreitete sich die Zwangsvorstellung der Unausweichlichkeit eines erneuten Waffenganges - bei den Franzosen, um Revanche zu nehmen und insbesondere das verlorene Elsass-Lothringen wiederzugewinnen, bei den Deutschen, um die ewige französische Bedrohung endgültig auszuschalten. Eine solche Atmosphäre trug nicht unwesentlich zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges bei, ein Krieg, der vier Jahre auf französischem Boden ausgetragen wurde und Frankreich an den Rand seiner Existenz brachte. Nicht von ungefähr sprechen die Franzosen von der „Grande Guerre", dem großen Krieg, und begehen den Tag des Waffenstillstands am 11. November 1918 bis heute als Gedenktag. Unmittelbar nach dem Sieg fielen die französischen Forderungen entsprechend hart aus. Im Versailler Vertrag von 1919 sahen die Deutschen ein ihnen vor allem von Frankreich auferlegtes „Diktat", das es so schnell wie möglich zu revidieren galt. Rheinland- und Ruhrbesatzung schürten den Hass. Der in den Locar-no-Verträgen 1925 von Briand und Stresemann angestrebte deutschfranzösische Ausgleich scheiterte bald an den national-nationalistischen Lagern in beiden Ländern. Nachdem Hitler in Deutschland an die Macht gekommen war, beschwor er zwar bei jeder Gelegenheit den Frieden, bereitete aber tatsächlich den Krieg vor. 1940 wurde Frankreich Opfer dieser Aggressionspolitik und blieb vier Jahre unter deutscher Besatzung. Die nationalsozialistischen Rassisten zeichneten das Bild eines dekadent-degenerierten Frankreich, das von Negern und Juden unterwandert werde. 1945 gehörte Frankreich zu den vier Hauptsiegermächten. Es erhielt eine Besatzungszone im Südwesten Deutschlands und einen Sektor von Berlin. Seine Politik unter General de Gaulle, Haupt des Widerstandes gegen die Deutschen im Krieg und Regierungschef vom Herbst 1944 bis Anfang 1946, war darauf angelegt, die deutsche Gefahr ein für alle Mal zu bannen und den französischen Einfluss in Deutschland auf Dauer zu sichern. Zugleich startete ein Umerziehungsprogramm, das die Deutschen mit den Untaten des Nazi-Regimes konfrontierte und das aus autoritätsgläubigen Befehlsempfängern (selbst)kritische Demokraten machen wollte. Die (west)deutsch-französische Aussöhnung nach Gründung der Bundesrepublik - die Beziehungen zwischen Frankreich und der DDR sind ein besonderes Kapitel, das hier nicht thematisiert werden kann - wurde möglich, weil mehrere günstige Faktoren zusammenkamen. Allgemein hatte sich die Einsicht der Sinnlosigkeit früherer Kriege durchgesetzt. Initiativen einzelner Personen und verschiedener Organisationen sorgten für ein besseres wechselseitiges Verständnis. Die Regierungen in Paris und Bonn waren von der Notwendigkeit einer deutsch-französischen Annäherung überzeugt, was de Gaulle (französischer Staatspräsident 1958-1969) und Adenauer 1963 zum Ab-schluss des bis heute gültigen Elysee-Vertrags veranlasste. Nicht zuletzt drängten die politischen Rahmenbedingungen (Ost-West-Konflikt) und wirtschaftliche Zwänge zum Zusammengehen. Franzosen und Deutsche sind Partner geworden, was indes Konkurrenz auf manchen Gebieten nicht ausschließt.
Inhaltsverzeichnis
ZUM INHALT 1
MATERIALIEN 3
1. Teil: Gegenwart und Vergangenheit
M 1.1 Stereotypen 3
M 1.1.1 Licht und Schattenspiele 3
M 1.1.2 Das Bild des anderen im Wandel der Zeit 3
M 1.2 Ausschnitte der historischen Wirklichkeit 4
M 1.2.1 Die bilateralen Beziehungen bis zum Zeitalter der Französischen Revolution - ein Überblick 4
M 1.2.2 Der erste Rheinbund 4
M 1.2.3 Das Edikt von Potsdam 5
2. Teil: „Erbfeinde"
M 2.1 Abneigung und Sympathie 6
M 2.1.1 Volkshass 6
M 2.1.2 De l'Allemagne 6
M 2.1.3 Ein Brief aus Paris 7
M 2.1.5 Aktualitäten 8
M 2.1.6 Hass auf Preußen-Deutschland 8
M 2.1.7 Beseitigung der französischen Gefahr 9
M 2.2 Rheinideologie und Ruhrbesatzung 10
M 2.2.1 Deutschlands Strom 10
M 2.2.2 Rheingrenze 10
M 2.2.3 Die „Wacht am Rhein" 11
M 2.2.4 Note der französischen Regierung vom 11. Januar 1923 12
M 2.2.5 „Hände weg vom Ruhrgebiet!" 12
M 2.2.6 Zwischenspiel Locarno 13
M 2.2.7 „Im Namen der Zivilisation ..." 13
M 2.3 Streitobjekt Elsass-Lothringen 14
M 2.3.1 „Habitants de l'Alsace! - Bewohner des Elsasses!" 14
M 2.3.2 „Proclamation - Verkündigung" 15
M 2.3.3 „Hinaus mit dem welschen Plunder" 16
3. Teil: Partner und Konkurrenten
M 3.1 Schwieriger Neuanfang 16
M 3.1.1 Nach dem Sieg 16
M 3.1.2 Französische Sicherheitsinteressen 17
M 3.1.4 Bundeskanzler Adenauer in einem Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit" Ende 1949 17
M 3.2 Aussöhnung 18
M 3.2.1 Partnerschaftsurkunde 18
M 3.2.2 Gemeinsame Erklärung und deutsch-französischer Vertrag 19
M 3.2.3 Meinungsumfragen 20
Folien
M 2.1.4 Im Etappenquartier vor Paris 1871 Folie 1
M 3.1.3 „Augen auf!" - Plakat der französischen Militärregierung aus der frühen Nachkriegszeit Folie 2
Klausurvorschlag
Sehen Sie in der Geschichte von Franzosen und Deutschen eher
Gemeinsamkeiten oder eher das Trennende? 20
UNTERRICHTSVERLAUF 21-30
LITERATUR 3. Umschlagseite