Liebe Leserin, lieber Leser
Märchen bilden. Und das auf eine ungemein graziöse Art: indem sie uns verzaubern. Wir versinken in einer anderen Welt und finden uns darin selbst. Märchen enthalten Lebenswissen ohne von Weisheit zu triefen. Sie unterhalten uns ohne seicht zu sein. Sie bestärken mit Zuversicht ohne Krisen und Dunkelheiten zu leugnen. Und sie geben uns eine Menge zu imaginieren, zu denken, zu fühlen. Die Beiträge zu diesem Themenschwerpunkt, den Monika Jakobs und Rainer Oberthür besorgt haben, umspannen klug Reflektiertes, Pädagogisches und praktisch Methodisches. Märchen werden als »große Gegenstände« religiösen Lernens geschätzt. Darüber gibt es seit den 1970er-, 80er-Jahren keinen Streit mehr. Vermögen sie aber auch Glaubenlernen (direkt) zu befördern? Hubertus Halbfas spricht in seinem Beitrag (S. 265ff) den Märchen sprachlich-symbolische, das eigene Selbst klärende und spirituelle Erschließungskräfte zu. Darauf kann Glaubenlernen keinesfalls verzichten. Aber es liegt auch nahe, zwischen dem Märchenhaften und dem Kerygma zu unterscheiden. Märchen gehen mit Wirklichkeit spielerisch um und sie machen Zuhörer wie Leserinnen bereit, Grenzen zu entgrenzen und Lebenswahrheiten tiefer im Herzen zu bergen. Sie sind darin »federleicht« – und das ist das Wunderbare an ihnen. Aber, und darauf möchte ich hier hinaus, sie erheben keinen Geltungs- oder Heilsanspruch. Damit stellt sich in der Postmoderne, die das Ästhetische gegenüber dem Historischen bevorzugt, die Frage nach der Wahrheit des Märchens und der Wahrheit des Glaubens neu. Worin liegt deren Differenz? Einerseits gehören Gott und Teufel nicht genuin in das Märchen (Max Lüthi); andererseits sind fast alle Märchen Erlösungsmärchen (Lutz Röhrich), so lese ich in der »Enzyklopädie des Märchens« (Bd. 9, 1999) bei Marco Frenschkowski, dem Verfasser des Stichwortes »Neues Testament«. Für ihn beantwortet sich meine Anfrage so: »Das Märchen artikuliert eine fundamentale Sehnsucht des Menschen nach der Vereinigung von Transzendenz und Immanenz, die sich eng mit christlicher Eschatologie verbindet.
Wilhelm Albrecht
Schriftleiter
Inhaltsverzeichnis
THEMA: Märchen
160 Wenn Frau Holle die Bibel liest
Monika Jakobs
Märchen und Bibeltexte haben vieles gemeinsam.
165 Warum Märchen im Religionsunterricht?
Hubertus Halbfas
Drei Argumente für den Einsatz von Märchen im Religionsunterricht.
171 Von den resilienten Heldinnen und Helden im Märchen lernen
Helga Zitzlsperger
Märchenfiguren zeigen eine erstaunliche Unverwundbarkeit: Was macht sie so stark?
180 Von der Maus, die sich in eine Fledermaus verwandelte
Brigitta Schieder
Konkrete Vorschläge für den Umgang mit einem indianischen Märchen.
183 Märchen als Schlüssel zu religiösem Denken
Christoph Dohmen-Funke
Märchen können helfen die eigene Position im Leben und Glauben zu finden.
189 Wie Märchen unsere Wirklichkeit erfahrbar machen
Hermann-Josef Perrar
Methodische Zugänge zur erzählten Welt der Märchen.
196 Thema Märchen - ein Literaturbericht
Christoph Dohmen-Funke
Welche Publikationen sind religionspädagogisch besonders interessant?
199 Im Blick: Gemeindekatechese
Thomas/Thomas Hoffmeister-Höfener/Kiefer
Fragen an einen Geschichtenerzähler.
204 Akzent
Karsten Henning
Kurz gefilmt: EMO
206 Gefunden und notiert
Norbert Mette
208 »Home on the Road« - Religionsunterricht als Reiseerfahrung
Bert Roebben
Ein guter Lernprozess ist abenteuerlich wie eine gute Reise.
214 Die Sachen klären und die Menschen stärken!
Karl Heinz/Marion Schmitt/Schöber
Zwanzig Jahre lang war Karl Heinz Schmitt Vorsitzender des DKV: ein Interview.
218 Im zeitlosen Moment der Verwandlung
Wilhelm Albrecht
Blütenstaub, Bienenwachs, Milch und Reis sind die Stoffe des Künstlers Wolfgang Laib.
223 Die Religiösen Kinderwochen 2003
Dorothea Dubiel
»Mehr, als du glaubst, verbindet uns«.
224 Dokumentation religionspädagogischer Promotions- und Habilitationsvorhaben
Ehrenfried Schulz
Ein Überblick über aktuelle religionspädagogische Forschungsarbeiten.
226 Literaturbericht
Dorothee Hölscher
Der Katholische Kinder- und Jugendbuchpreis 2003
230 Bücher
234 Impressum
Materialbrief RU 2/2003
Tabu - Darüber spricht man nicht! Unterrichtseinheit zum Thema »Die Welt ist nicht in Ordnung«