Liebe Leserin, lieber Leser
Im Zweifelsfall dominiert bei Jugendlichen die Kategorie: "Naturwissenschaft widerlegt Gott" (Martin Rothgangel, S. 320). Denn die Autorität der Wissenschaften beherrscht das gesellschaftliche Monopol des Weltwissens. Für eine neuerliche Zuspitzung sorgen Neurobiologie und Hirnforschung. Mit Farbeinführungen in die Neuronen und feinsten Strommessungen kann man das Gehirn in einzelnen Regionen kartieren. Entpuppt sich das Geistige im Menschen als Trugbild von Neuronenschaltungen? Das Religiöse als Schläfenlappenphänomen? Schule ist konkreter Ort des öffentlichen Diskurses. Mögen andere Fächer neue Forschungsergebnisse als Tatsache präsentieren, der Religionsunterricht erfährt sie vielfach als Konfrontation. Oder ist alles nur eine Frage der sauberen Unterscheidung von naturalistisch beobachtbaren Gehirnprozessen und einer philosophisch-weltanschaulichen Deutung? Sieht Jürgen Habermas richtig, wenn er feststellt: "Der szientische Glaube an eine Wissenschaft, die eines Tages das personale Selbstverständnis durch eine objektivierende Selbstbeschreibung nicht nur nicht ergänzt sondern ablöst, ist nicht Wissenschaft, sondern eine schlechte Philosophie"? Zwei Beiträge stehen im Mittelpunkt des Heftthemas "Gehirn und Geist": Kai Vogeley folgt, durchaus die philosophischen Grundentscheidungen im Auge, dem Postulat kausaler Geschlossenheit, indem er, wissenschaftlich exakt, segmentierten Forschungszweigen nachgeht. Hans Dieter Mutschler hingegen, Widerpart des Spezialisten, antwortet aus generalisierender Sicht. Ein spannender Disput, freilich nicht zu Billigpreisen für nachvollziehendes Lesen und Bedenken. Was aber hat davon nun wirklich in der Schule Platz? Eva Zoller zum Beispiel bereitet den Boden für ein Nachdenken mit Kindern. Sie weckt das Staunen über Denken als geistigen Vorgang, etwas im Kopf "wirklich" zu machen. Sie macht das Bekannte zum Unbekannten und bricht damit die Fallen fraglos hingenommener Selbstverständlichkeiten auf.
Wilhelm Albrecht
Schriftleiter
Inhaltsverzeichnis
316 Gehirn und Geist - "Abseitsfallen" aus religionspädagogischer Sicht
Martin Rothgangel
Wie ein Dialog zwischen Naturwissenschaft und Theologie gelingen kann.
321 Religiosität im Kopf
Hans-Ferdinand Angel
Was neuere Forschungen zur "Neuropsychologie des Religiösen" sagen.
327 Die neuralen Grundlagen menschlichen Selbstbewusstseins
Kai Vogeley
Wie das Phänomen des Selbstbewusstseins im Gehirn entsteht.
334 Ist der Mensch eine neurokybernetisch programmierte Maschine?
Hans-Dieter Mutschler
Die Sprengkraft des Leib-Seele- bzw. Gehirn-Geist-Problems.
341 Wie kommen Gedanken in meinen Kopf?
Eva Zoller
Mit Kindern über ein erstaunliches Phänomen nachdenken.
346 "Das Rätsel des Bewusstseins" in der Sekundarstufe II
Peter Göpfert
Das Buch von Colin McGinn als Lektüre in der Oberstufe.
350 Literaturbericht: Geist und Materie
Hans Goller
Neuere Veröffentlichungen über das Verhältnis von Geist und Gehirn.
354 Kunst auf der Suche nach dem "real life"
Claudia Gärtner
Zeitgenössische Kunstwerke, die sich mit Entwürfen des Menschseins auseinander setzen.
362 Akzent
Jan Heiner Schneider
Wunden, die nicht heilen dürfen: Missbraucht für den "Heiligen Krieg".
364 Gefunden und notiert
366 Konfessionelle Kooperation - eine neue Zauberformel?
Tübinger Projektgruppe
Über die Bedeutung konfessioneller Kooperation für Kinder und Lehrende.
375 Die Kooperierende Fächergruppe
Katja Boehme
Ein Modell für den Religionsunterricht der Zukunft auf dem Prüfstand.
383 Im Blick: Jugendarbeit
Klaus Ritter
"Happyluja" - Spaß und Sinn im Europapark.
386 Literaturbericht: Naturwissenschaft - Theologie - Religionspädagogik
Ulrich Kropac
Neuere Publikationen über Wege des Dialogs.
390 Impressum