Liebe Leserinnen und Leser,
es kann manchmal so einfach sein, wenn man seinen Blick auf etwas anderes richten will. Das Mädchen auf unserem Bild hält einfach eine Klorolle vor das eine Auge, kneift das andere zu und schaut um sich herum. Wenn man ihre Freundin auf dem Bild sieht, hört man sie fast fragen: »Was siehst du?« »Siehst du etwas anders, als ohne Klorolle?« »Darf ich mal gucken?« Beide üben Wahrnehmungsfähigkeit.
Wahrnehmungskompetenz heißt, seine Sinne gezielt auf etwas lenken zu können. Beim Sehen bedeutet dies, bewusst sein Gesichtsfeld einzuschränken, bewusst die Perspektive
auf etwas zu richten, bewusst sein Sehvermögen zu schärfen oder zu erweitern, zum Beispiel durch ein Mikroskop oder ein Fernglas. Um gezielt zu sehen, muss ich aber eine Ahnung von dem haben, was ich sehen könnte. Wahrnehmen geht nicht ohne Denken und hängt darum untrennbar mit Deuten zusammen. Ich kann wahrnehmen, dass jemand eine Kerze vor der Statue einer jungen Frau mit einem Kind auf dem Arm anzündet. Ich kann es aber nur als religiös relevant wahrnehmen, wenn ich weiß, dass es sich um Maria mit dem Jesuskind handelt und weiß, was das Licht der Kerze bedeuten kann. Zum Beispiel, dass es ein Gebet symbolisiert, und dass der oder die Gläubige hofft, Maria möge als Mittlerin sein Anliegen bei Gott vorbringen. Wenn ich wahrnehme, dass ein Mann in einem wallenden schwarzen Gewand dreimal ein wenig Wasser auf ein Baby sprenkelt, muss ich etwas von der christlichen Taufe wissen, um es als religiöse Handlung wahrnehmen zu können.
Darum schulen wir im Religionsunterricht Wahrnehmungs- und Deutungsfähigkeit. Auf dieser Basis sind Urteilskompetenz, Kommunikations und Beteiligungskompetenz möglich. Alle fünf Kompetenzen befähigen
einen jungen Menschen zum Umgang mit Religion. Fähigkeiten, die er braucht, um sich in der Welt und in seinem Leben zurecht zu finden.
In diesem Schönberger Heft ist eines der Themen die Wahrnehmung, Deutung und Beurteilung des Anderen und Fremden. Der erste Beitrag von Bettina Michel und mir beschreibt eine gemeinsame Unterrichtsreihe von Ev. Religion und Ethik. Unter dem Titel »Der Andere bin ich« wird das Leben in der multireligiösen Gesellschaft thematisiert. Durch die Mischung von zwei sechsten Klassen konnte eine wirkliche Begegnung von jungen Menschen aus anderen Kulturen und Religionen stattfinden.
Ziel der Reihe war es, den Anderen als anders zu respektieren, das Andersartige als Bereicherung unserer Gesellschaft sehen zu können und zu wissen, wie Integration ermöglicht werden kann.
Auch das Groß-Gerauer Konfirmandenseminar »Leben mit Fremden« zielte darauf hin. Als Überschrift wurde ein Wort Jesu genommen: »Ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen« (Mt 25,35). In Groß-
Gerau, wo fast 50% der Einwohner einen Migrationshintergrund haben, begegnen die Konfis täglich »Fremden «. Vier Pfarrer/-innen aus Groß-Gerau möchten den Konfis helfen zu entdecken, warum und wie Kirche sich für diese Menschen engagiert und sie dazu ermutigen, sich selbst für Andere zu engagieren. An diesen beiden Artikeln sehen wir, dass ethische und religiöse Fragen in die gleiche Richtung denken und gemeinsam nach Lösungen für die Probleme der Menschheit suchen.
Auch die Schulfächer Ethik und Religion sind Partner und keine Konkurrenten. Dass dies in der Schule oft anders gesehen wird, beschreibt Lena Kristin Spies in dem Zwischenruf »Ethik versus Religion«. Als Referendarin für das Fach Ethik und als Christin, wird sie oft mit der Frage konfrontiert: »Sie unterrichten doch Ethik, wie können Sie dann ein Kreuz um den Hals tragen?« Ihre
Antwort lesen Sie auf Seite 8.
Im vierten Beitrag dieses Heftes stellt Dirk Kutting Überlegungen zu einem vergessenen religionspädagogischen Begriff an: die Ahmung. Gerade durch das Nachahmen entwickelt ein Kind ein bestimmtes Verhalten. Erziehung ist Abbildung durch Ahmung. In der Mitte des Heftes finden Sie
unser »PPP«. Das ist keine Power-PointPräsentation, sondern es werden Praxis, Projekte und Personen vorgestellt: Neues aus dem religionspädagogischen Tätigkeitsfeld der EKHN.
Woher haben Schülerinnen und Schüler in der 6. und 7. Klasse ihr Bibelwissen? Welche Geschichten
werden eigentlich zu ihren Lieblingsgeschichten? Diese Fragen haben Dr. Katharina Kammeyer und Prof.
Dr. Gerhard Büttner, Religionspädagogen an der TU Dortmund, empirisch untersucht. Ihren Befund finden Sie unter der Überschrift: Erfolgreiche Bibelperikopen und ihre Lernorte.
Im nächsten Artikel finden Sie einen Unterrichtsentwurf für die Grundschule von Magdalena Schulz
zum Schülerverhalten am 31. Oktober: Halloween und Reformationstag – Beides feiern?
Die Wegzehrung ist eine Kurzfassung der Predigt, die Christine Weg- Engelschalk bei ihrer Einführung als neue Studienleiterin des RPI hielt. Eine aktuelle Übersicht aller Mitarbeitenden
des RPI finden Sie auf Seite 26-27. Beachten Sie bitte auch die Informationen
zur Zeitschrift Religion 5-10 und den Interreligiösen Kalender für 2012 (danke, Bernd Apel!),
die diesem Heft beigelegt sind.
Harmjan Dam
Inhaltsverzeichnis
Der Inhalt:
-Editorial, Harmjan Dam
- »Der Andere bin ich« – Leben in der multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft, Harmjan Dam und Bettina MicheL
- Ethik versus Religion?, Lena Kristin Spies
- »Ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen« (Mt 25,35c). Konfi-Seminar zum Thema: Leben mit Fremden, Ursula Schoen, Jürgen Fuge, Bernd Lehr, Wolfgang Prawitz
- Erziehung ist Abbildung durch Ahmung. Überlegungen zu einem vergessenen religionspädagogischen Begriff, Dirk Kutting
- PPP: Praxis · Projekte · Personen. Neues aus dem religionspädagogischen Arbeitsfeld der EKHN, Harmjan Dam
- Erfolgreiche Bibelperikopen und ihre Lernorte – Woher 6. und 7.-Klässler/-innen ihr Bibelwissen haben und welche Geschichten zu Lieblingsgeschichten werden, Katharina Kammeyer und Gerhard Büttner
- Halloween oder Reformationstag? Eine Unterrichtsidee für die Grundschule, Magdalena Schulz
- Wegzehrung: Sprachverwirrung gegen Unmenschlichkeit, Christine Weg-Engelschalk
- Who is who im RPI?, Uwe Martini