Liebe Leserinnen und Leser,
seit jeher ist Schule und Unterricht ein Ort des Lernens und des Lehrens, aber auch der Begegnung und Kommunikation. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Was sich allerdings geändert hat, sind die Menschen, die sich an diesem Ort »Schule« begegnen. Unsere Gesellschaft ist in den vergangenen Jahrzehnten bunter und vielfältiger geworden, Menschen mit ihren unterschiedlichen kulturellen und religiösen Wurzeln haben in Deutschland eine neue Heimat gefunden. Darunter auch viele Menschen muslimischen Glaubens, die selbstverständlich – wie sollte es auch anders sein – ihre Traditionen und Überzeugungen in unsere gesellschaftliche Wirklichkeit mit einbringen. Ein allmählicher und unerlässlicher Prozess der wechselseitigen Beeinflussung und Veränderung.
Die Kinder und Enkel dieser Generation neuer Einwanderer sind in unserem Land geboren, wachsen hier auf und besuchen die öffentlichen Schulen. Vor dem Hintergrund dieser demografischen Entwicklung stellt das interreligiöse Lernen, der interreligiöse Dialog nicht nur ein vielzitiertes Schlagwort dar, sondern beschreibt eine bleibende Herausforderung, der sich unsere ganze Gesellschaft stellen muss. Geht es doch um nichts Geringeres als das Einüben eines angemessenen, respektvollen und würdigen Umgangs miteinander. Die gesellschaftliche Perspektive ist dabei das Entscheidende: Es ist an der Zeit oder sogar längst überfällig, dass Menschen unterschiedlicher kultureller und auch religiöser Herkunft nicht mehr nur nebeneinander her leben, sondern miteinander leben lernen.
Einer der ganz wenigen gesellschaftlichen Orte, wo dies sinnvoll geschehen kann, ist die Schule. In sie müssen alle Menschen irgendwann einmal gehen, in einer ganz wichtigen und prägenden Entwicklungsphase ihres Lebens – als Kinder und Jugendliche. Was in dieser Zeit in der Schule im Blick auf die Wahrnehmung von und die Begegnung mit anderen Menschen in all ihrer Unterschiedlichkeit und auch Fremdheit gelernt und eingeübt wird, kann für ein Leben Bestand haben. Denn das Zusammenleben in einer zunehmend pluralistisch geprägten Gesellschaft vollzieht sich nicht konfliktfrei und ohne Probleme. Vorbei sind die Zeiten, in denen schöne Illusionen und Träume einer »gefühlten« multikulturellen Gleichmacherei jenseits aller gesellschaftlichen Wirklichkeit ihren Raum hatten. Es gibt Unterschiede zwischen Menschen, auch die Grenzen der Konfessionen – und der Religionen – haben nach wie vor ihre Bedeutung.
Gerade weil das so ist, kann das interreligiöse Lernen letztlich nur eine Aufgabe für die gesamte Schule sein, wie dies einige Beiträge in diesem Heft zu Schulprojekten im Rahmen des Wettbewerbs »Schulen im Trialog« der Herbert-Quandt-Stiftung eindrucksvoll belegen.
Auch wenn das interreligiöse Lernen von der ganzen Schule verantwortet werden muss, so hat doch der konfessionell begründete Religionsunterricht seine spezifischen Kompetenzen in Bezug auf die Wahrnehmung und Deutung aller Formen und Phänomene von gelebter Religion einzubringen. Denn der interreligiöse Dialog findet nicht zwischen abstrakten Größen wie zum Beispiel dem Christentum und dem Islam statt, sondern zwischen Menschen, die in diesen Religionen auf ihre je eigene, unverwechselbare Art und Weise beheimatet sind.
Um in diesen Dialog treten zu können, ist es unerlässlich, sich zur eigenen religiösen Identität - dem eigenen Glauben und der eigenen Überzeugung – zu bekennen. Nur dadurch wird dem Gegenüber ermöglicht, auf den Dialogpartner zu reagieren, ihn zu befragen – mehr noch: ihm tatsächlich zu begegnen. So, wie es der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber prägnant ausdrückt: »Alles wirkliche Leben ist Begegnung«. Damit wird erst ein gegenseitiges Verständnis möglich. Die Entdeckung und Erfahrung des Fremden und Unbekannten führt unweigerlich zur Vergewisserung des Eigenen. Das ist der qualitative Vorteil eines religiös beheimateten und motivierten Religionsunterrichts gegenüber einem Fach »Religionskunde«. In diesem Sinne wird ein pluralitäts- und zukunftsfähiger Religionsunterricht das interreligiöse Lernen und den interreligiösen Dialog als eine seiner zentralen Grundlagen ansehen. Deshalb wird mit Sicherheit auch in den kommenden Jahren dieses Thema auf der religionspädagogischen Tagesordnung bleiben.
Weitere Materialien, Internet- und Medientipps sowie Literaturhinweise zum Schwerpunktthema finden Sie in der Internet-Version dieses Schönberger Heftes unter www.rpz-ekhn.de.
In der Hoffnung, dass Sie, liebe Leserinnen und Leser, auch in dieser Ausgabe einige Anregungen für Ihren Unterricht finden, wünsche ich Ihnen im Namen der Redaktion eine besinnliche Adventszeit und ein gesegnetes Weihnachtsfest.
Björn Uwe Rahlwes
Inhaltsverzeichnis
Editorial
Björn Uwe Rahlwes 1
Pluralitätsfähiger Religionsunterricht in Europa:
Reise und Heimat, informativ und normativ
Harmjan Dam 2
»Das muss jeder für sich selbst entscheiden!«
Über den Umgang mit einer Killerphrase im Religionsunterricht
Dirk Alpermann 7
Den Koran in die Hand nehmen
Versuch einer Koraninterpretation im Unterricht einer Berufsschule
Volker Dettmar 9
Reden wir über das Gleiche?
Was verstehen die Religionen unter Glaube und Religiosität?
Hans-Martin Barth 11
»Der Kalender der Religionen« im Landkreis Gießen
Hintergründe und Ziele eines regionalen Projekts im interreligiösen Dialog
Bernd Apel 17
Ein Wettbewerb zum Thema »Schulen im Trialog« –
gefördert von der Herbert-Quandt-Stiftung
Gabriele Sies 18
Eine Website im Religionsunterricht gestalten
Ruth Haueisen 18
Die Ricarda-Huch-Schule in Gießen im Trialog der Kulturen
Sabine Roth-Nagel 20
»Schulen im Trialog – ein Weg zum friedlichen Miteinander«
Karin Frisch 23
Eine gewerbliche Schule im interkulturellen Dialog
Manfred Schäfer, Sigrid Götz-Geisberger, Carl-Heinz Alsmeier 24
Der Schatz vor der Haustür – Eine religionspädagogische Entdeckungsreise
per CD-Rom zu drei bedeutenden Kirchen in der Frankfurter Innenstadt
Bernd Durst, Johannes Kalchreuter 26
Wegzehrung für Religionspädagogen
Hans Heller 29