Liebe Leserin Lieber Leser
«Es stimmt nicht alles, was ich glaube», sagt die 10-jährige Silja in einem Radiointerview. Was meint Silja mit «stimmen»: beweisen können, richtig, überprüfbar sein, der Realität entsprechen? Glaubt sie zum Teil gar bewusst Falsches? Und wenn nicht alles stimmt, was sie glaubt, so doch offensichtlich einiges: was wäre das? Wie auch immer, im Satz von Silja wird ein Problem signalisiert, mit dem sich Kinder und Jugendliche im Laufe ihrer religiösen Entwicklung auf unterschiedliche Weise konfrontiert sehen: das vielschichtige Verhältnis von Glauben und Wissen.
Die Zeitschrift Der Spiegel titelte: «Jenseits des Wissens. Warum glaubt der Mensch?» Glauben und Wissen werden dabei als zwei sich gegenseitig ausschliessende Bereiche vorgestellt. Den alltäglichen Begriff von Wissen - oft reduziert auf naturwissenschaftliches Wissen - umgibt die Aura des Objektiven und Wahren. Spätestens seit dem letzten Jahrhundert ist jedoch klar, dass jegliches Wissen axiomatisch ist, d.h. auf Annahmen oder begrenzten Informationen aufbaut, die ihrerseits nicht mehr bewiesen oder hinterfragt werden können. Erst auf der Basis solcher gläubiger Annahmen kann fröhlich experimentiert, kombiniert sowie veri- und falsifiziert werden. Hinzu kommt, dass es Wissen als solches eigentlich gar nicht gibt, sondern es existiert nur als zwischen Menschen vermittelte Informationen, die je verschieden organisiert werden. Dieser Informationsaustausch kommt aber ohne Offenheit, Ehrlichkeit, Vertrauen (Glauben) nicht aus.
Der religiöse Glaube seinerseits kann schon nur deshalb nicht «Jenseits des Wissens» sein, weil er irgendeiner Form von Sprache (Bild, Text, Musik etc.) bedarf. Jede Sprache aber baut auf Wörtern und Begriffen sowie entsprechenden Verknüpfungsregeln auf, die man kennen muss, will man sie lesen und anwenden können. Sprachen sind jedoch nie statisch, sondern entwickeln sich. So auch die Sprache des Glaubens: Begriffe werden verfeinert, Erfahrungen und neues Wissen werden integriert. Gerade weil der Glaube für gewöhnlich den Anspruch hat, ein umfassendes Sinnkonzept zu bieten, muss er prinzipiell offen sein für neue Erkenntnisse psychologischer, historischer, naturwissenschaftlicher etc. Natur.
Die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Heftes wollen zeigen, dass eine platte Gegenüberstellung von Glauben und Wissen zum Verständnis des Problems weder hilfreich noch sachlich korrekt ist. Denn Glaube und Wissen sind keine gegensätzlichen Kräfte, sondern sie sind in unterschiedlicher Form Teil des dynamischen Projekts «Deutung von Welt».
Andreas Kessler
Inhaltsverzeichnis
Zum Thema
Helmut Hanisch
Religiöse Begriffsentwicklung als 3
Impuls zur Glaubensentwicklung
Catherine von Graffenried
«Es stimmt nid alles, woni gloube.» 8
Mensch und Umwelt
US
Franziska Schneider-Stotzer
Bildung: Von Wunderkraft 10
und Wunderzeichen
OS
Livius Fordschmid
Glaube und Wissen: Auflösung 13
eines Gegensatzes
Religion und Bibel
US
Vreni Merz
Vom Greifen zum Begriff 16
MS/OS
Markus Berger
Stufenbau des Kosmos: Einigt euch! 19
OS
Andreas Kessler
Jesus und Maria - historisch 25
Hansjakob Schibier
Muss Sara jetzt sterben? oder die 30
Geschichte vom ungläubigen Thomas
Andreas Hohn
Da also wohnt Gott 33