Liebe Leserin Lieber Leser
«Das Spiel ist aus! Die Erlösung! Das abstiegsgefährdete Team hat in der zweiten Halbzeit wie durch ein Wunder einen 0:3 Rückstand in einen 4:3 Sieg verwandelt. Die tot geglaubte Mannschaft drehte das Spiel, sie gab den Glauben nie auf, erwachte zu neuem Leben, ja sie feierte regelrecht Auferstehung und wendete das Schicksal zu ihren Gunsten. Die Elf suchte in den zweiten 45 Minuten konsequent ihr Heil in der Offensive, der Ball klebte wie magisch an den Füssen der Gelb-Schwarzen und sie zauberten göttliche Kombinationen auf den heiligen Rasen. Gerettet! Die Fans wähnten sich im Paradies und sie sangen noch Stunden nach dem Match ihre Lobeshymnen auf die Mannschaft und ihre Idole. Das Unmögliche war möglich geworden, das Team war der Hölle des Abstiegs entronnen.» In solcher Art werden in Spielberichten immer wieder religiöse Metaphern bemüht. Dieser Zugriff auf die Religion ist mehr als ein fauler Trick, sondern in ihm zeigt sich präzise, was ein Fuss-ballspiel ist und wie es wirkt: ein den Alltag verdichtendes und gleichzeitig diesen transzendierendes Ereignis. Aber ist Fussball deshalb bereits Religion?
Fussball ist zuerst einmal ein Spiel. Im ernst-heiteren Spiel mit seiner faszinierenden Mischung aus Absicht und Zwecklosigkeit, Arbeit und Kunst sowie Schwerkraft und Leichtigkeit genügt sich der Mensch selber, er braucht nichts anderes. Das ist das Geheimnis des Spiels, auch des Fussballs. Im Moment des Spielens mit dem unberechenbaren Ball, der auf zuweilen tückischem Grün mit den Füssen getreten, gehoben oder mit Effet ins Tor geschlagen wird, ist Gott wirklich rund. Ist das Spiel aus, ist der Zauber jedoch vorbei, und der Blick ist frei für undurchsichtige Transfergeschäfte, Rassismus und Vandalis-mus in den Stadien, globalisierte Sportartikelindustrie, nicht zuletzt gebrochene Hoffnungen und seelische wie körperliche Verletzungen.
Religion ist mehr als ein Spiel, mehr als eine selbstgenügsame Veranstaltung, mehr als ein regelkonform inszeniertes heiliges Theater. Allen Analogien zum Trotz: Gerade wenn die Religion auf den Nächsten und damit verbunden auf den ganz Anderen verweist, ist dabei der Mensch in seiner ganzen Existenz, seiner Fraglichkeit und Zerbrechlichkeit gefragt. Davon hat der Fussball keine Ahnung -Formkrise, Verletzung und Abstieg hin oder her.
Dennoch: jedes Spiel dauert neunzig Minuten, der Ball ist rund und die anderen kochen auch nur mit Wasser. Und so hoffen «wir» an der kommenden Fussball-EM auf das «Wunder von Portugal». Die Gegner der Schweiz heissen nämlich Frankreich, England und Kroatien.
Andreas Kessler
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