Liebe Leserin, lieber Leser
Wir haben den 100. Geburtstag von Dietrich Bonhoeffer zum Anlass genommen, eine Nummer über «Vorbilder» zu machen. Dabei wollten wir den Begriff des «Vorbilds» nicht vorbehaltlos übernehmen.
Die widersprüchlichen Aussagen von Kindern zur Davidsgeschichte im Beitrag von Prisca Senn widerspiegeln etwas von der Eigenart der biblischen Erzählkultur, die selbst im Blick auf leuchtende Gestalten wie David darauf verzichtet, das Bild eines in jeder Hinsicht moralisch integren Menschen zu zeichnen. Die Nähe Gottes zu den Menschen zeigt sich da, wo vom Ganzen - auch vom Schwierigen, Unvorteilhaften in einem Leben - gesprochen werden darf. Die verbreiteten Karikaturen von Mahatma Gandhi, erläutert Cornelia Vogelsanger im letzten Beitrag, sind Ausdruck einer Kultur, in der das Skurrile und das Heilige, das Hässliche und das Schöne oft sehr nahe beieinander wohnen: «Deshalb scheint man in Indien die Lächerlichkeit weniger zu fürchten als anderswo. Auch einfache Menschen strahlen oft eine unangreifbare Würde aus, die sich nicht aus einem Status ableitet, nicht aus Besitz oder der äusseren Gestalt, sondern aus dem Menschsein an sich.»
Dietrich Bonhoeffer ist sich sehr bewusst gewesen, wie viel er seinem privilegierten sozialen und geistigen Milieu verdankte. Einmal, während einer Wanderung, sagte er zu seiner Schwester Sabine: «Ich möchte einmal ungeborgen sein. Wir können die andern nicht verstehen. Bei uns sind immer die Eltern, die alle Schwierigkeiten erleichtern. Das gibt uns eine unverschämte Sicherheit.» Offenbar hat er bei aller Dankbarkeit auch empfunden, dass es etwas gab, was ihn von der Realität anderer Menschen trennte. Als sein Freund Lasserre einmal zu ihm sagte, er wolle ein Heiliger werden, entgegnete Bonhoeffer nachdenklich: «Und ich möchte glauben lernen.»
Im Zeichen des 100. Geburtstages wird in vielen Medien gefragt, wie politisch, demokratisch oder «heilig» Bonhoeffer gewesen sei (oder eben nicht!). Ihm selbst ging es wohl vor allem um das, was er «glauben lernen» nannte: die wachsende Bereitschaft, sich Menschen verschiedenster Herkunft zu öffnen und da zu sein, wo er gebraucht wurde. In dieser Haltung fand er schliesslich zu einer grossen inneren Gelöstheit und menschlichen Präsenz. «Bonhoeffer», schreibt ein Mitgefangener nach dem Krieg, «verbreitete um sich stets eine Atmosphäre des Glücks [...J und einer tiefen Dankbarkeit dafür, dass er überhaupt noch lebte.» In einem von Bon-hoeffers Gedichten heisst es: «Bin ich wirklich das, was andere von mir sagen?» Auch das Vorbild ist nur ein Bild.
Michael Zangger
Inhaltsverzeichnis
»» Zum Thema
Hansjakob Schibier
Dietrich Bonhoeffer - oder die Frage, ob es heute noch Vorbilder geben kann 3
»» Unterrichtsbeiträge
US/MS
Prisca Senn
Auch vom Schwierigen im Leben erzählen 7
Literatur zu Dietrich Bonhoeffer 16
MS/OS
Werner Milstein
Dietrich Bonhoeffer - Lebensbild 17
MS/OS
Michael Zangger, Rene Schärer, Andreas Hohn
«Von guten Mächten wunderbar geborgen» - Eine neue Melodie für ein bekanntes Lied 23
OS
Andreas Kessler
Menschen und Projekte, die hoffen lassen - der Alternative Nobelpreis 27
»» Religion und Kultur
Julia Hohn
Mahatma Gandhi - Der gewaltlose Rebell 29
Cornelia Vogelsanger
Mikey Mouse träumt vom indischen Bruder -
Bonhoeffer und Gandhi 30
Peter Weskamp
Medien 33