Liebe Leserin Lieber Leser
eines Morgens, als ich ins Schulzimmer trat, waren die Schülerinnen und Schüler nicht auf ihren Plätzen, sondern hingen wie Trauben an den Fenstersimsen und blickten gebannt nach draussen; es war «mucksmäuschenstill» im Raum. Als ich näher trat, drehte sich ein Schüler um und sagte flüsternd: «Schauen Sie mal, da draussen!» Auf dem Ast eines nahen Baumes sass ein Eichhorn und nagte emsig an irgendetwas herum. Die ganze Zeit über hatte es die Ohren gespitzt und schien hellwach; es drehte ständig seinen Kopf und versicherte sich nach allen Seiten hin, ob keine Gefahr drohte; und immer wieder unterbrach es plötzlich und unvermittelt seine Tätigkeit und wechselte blitzschnell in zwei, drei gekonnten Sprüngen seinen Standort. Ich weiss nicht, was ich mir damals als Thema der Religionsstunde vorgenommen hatte; aber jenen Augenblick eines zwanzigfach angehaltenen Atems sehe ich heute noch deutlich vor mir.
«Für mich ist ein Eichhörnchen ein Teil von mir», sagt die zwölfjährige Marijana aus Emmenbrücke im Religionsunterricht (S. 25), «Eichhörnchen haben Angst vor uns Menschen, weil sie denken, dass wir ihnen etwas antun ... ich finde es schrecklich, wenn ein Eichhörnchen eingesperrt wird.»
Es ist der beharrlichen Aufklärungsarbeit von Tierschutzorganisationen zu verdanken, dass das Leiden der Tiere in der Hölle von Versuchslaboren, Fleischproduktionshallen und Schlachthöfen zunehmend sichtbar wird und ins gesellschaftliche Bewusstsein einzudringen beginnt. Immer mehr Menschen realisieren, dass wir das Leiden, das wir Tieren zufügen, indirekt auch uns selbst antun. Diese wichtige ethische Debatte rührt auch an die religiösen und philosophischen Fundamente unserer Kultur: «Wollen wir das Besondere des Menschen überdenken», sagt der Philosoph Dominique Lestel, «so müssen wir zunächst unseren Frieden mit den Tieren schliessen.»
Die vorliegende Nummer will Sie anregen, im Religionsunterricht etwas zu diesem Versöhnungsprozess beizutragen: durch kritisches Überdenken der Schattenseiten unserer religiösen und ethischen Traditionen und durch den Versuch, gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen auf jenen Schöpfergeist zu hören, der durch die Tiere zu uns spricht. «Wenn ich Eichhörnchen sehe», sagt Marijana, «dann bin ich glücklich. Eichhörnchen sind wendig und haben Freude am Leben und dafür habe ich sie gern.»
Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre
Michael Zangger
Inhaltsverzeichnis
>>> Zum Thema -Theologie
Michael Zangger
Der Kranich am Himmel weiss... 4
>>> Religionswissenschaft
Cornelia Vogelsanger
Geist, Mensch und Hund 9
>>> Christentum - Legenden
Erich Jooss
Ein Hauch von Paradies 11
>>> Literatur- Fabeln
Stephan Wyss
Nützliches und Unnützes von der Nachtigall 14
>>> Entwicklungspsychologie
Elisabeth Frick-Tanner
Martina und die stummen Fische 20
>>> Praxisbeispiele
Markus Berger-Senn
Eichhörnchen ein Teil von mir 24
Ursula Kilchenmann
Erweiterte Hauswirtschaft 26
Rahel Siegentaler
Religion mit Stallgeruch 27
>>> Menschen
Interview mit Jürg Spielmann
Führen im Geführt-Werden 28
>>> Impressum 35
Bestelltalon