Liebe Leserin, Lieber Leser
Anfangs der 90er Jahre besuchte ich ein eindrückliches Projekt der Genfer Kirche auf dem Gelände des Flughafens «Geneve Cointrin». Ich erinnere mich noch genau an das Gebäude, wo sich alle illegal in die Schweiz eingereisten Personen einzufinden hatten: ein länglicher Blechcontainer, umgeben von Stacheldraht; der Zugang führte über eine Metallbrücke, an welcher beidseits des Aufgangs zwei Kameras angebracht und auf potentielle Neuankömmlinge gerichtet waren.
Vor diesem «bureau d'enregistrement» hatte die Genfer Kirche eine einfache Holzbaracke hingestellt, in welcher Tee und Suppe gekocht wurden. Die Ankommenden - was immer ihr Status und die Gründe für ihre illegale Einreise sein mochten -sollten als erstes nicht Kameras auf sich gerichtet sehen, sondern ein menschliches Gesicht. Sie wurden begrüsst und konnten sich vor der Auseinandersetzung mit Behörden und Papieren erst einmal für einen Moment hinsetzen, etwas essen oder trinken, ein paar Worte oder ein freundliches Lächeln austauschen. Mit einfachsten Mitteln wurde hier - vor allen durchaus notwendigen realpolitischen Überlegungen - ein grundlegender menschlicher Wert verteidigt: der Wert der Gastfreundschaft.
Was ist es, was uns Menschen wirklich nährt? Viele Religionen versuchen, die Glaubenden über Praktiken des zeitweiligen Fastens zum Nachdenken zu bringen und zur Einsicht, dass der Mensch — wie es in der Bibel einmal heisst — «nicht vom Brot allein» lebt. Doch auch das andere ist zu sagen: dass jene andere geistige Nahrung sich gerade im Alltag und somit auch im Umgang mit dem Essen zeigen und bewähren will. Essen ist so verstanden immer mehr als blosse Nahrungsaufnahme: In der Art und Weise, wie Menschen zusammensitzen und essen, zeigt sich auch etwas von den geistigen Grundlagen einer Gesellschaft.
Es fällt auf, dass pädagogische Zeitschriften in letzter Zeit voll sind von Beiträgen, welche sich auf das Thema «Essen» beziehen. Da ist von «Magersucht» oder «Übergewichtigkeit» die Rede, von «falscher Ernährung» oder sehr grundsätzlich von einem gewissen «Verfall der Esskultur». Es scheint, als sei das Essen zum neuralgischen Punkt geworden, an dem verschiedenste Probleme unserer Konsumgesellschaft aufbrechen. So gesehen lohnt es sich, den Blick auf eine religiöse Kultur zu werfen, in welcher das sich Essen immer auch mit Bewusstsein verbindet.
Michael Zangger
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