Liebe Leserin Lieber Leser
Ich kann mich noch sehr gut erinnern, wie ich als kleiner Junge zusammen mit Freunden, alle bewaffnet mit langen Haselruten, auf die Turmmauern der Ruine des römischen Kastells in Irgenhausen kletterte und von dort oben den Blick über die Felder, das nahe Riet und den Pfäffikersee schweifen Hess: Wir spielten nicht «Ritter», wir waren Ritter. Natürlich liegen zwischen der Welt der Römer und derjenigen der Ritter zumindest einige hundert Jahre. Doch dies interessierte uns zu dieser Zeit nicht. Wir erfassten Urbilder: die «Burg», den «Turm», den «Krieger». Den Stoff dazu bezogen wir aus Heldengeschichten, welche uns einen gewissen Stolz lehrten und die Überzeugung, dass es sich lohnt, für etwas zu kämpfen. Wann geht diese Fähigkeit verloren, intuitiv den Geist eines Ortes zu erfassen und so unmittelbar zu uns sprechen zu lassen, dass er Leib und Seele durchdringt? Geht sie verloren?
Es brauchte andere Quellen, Kinderbücher wie das «Anneli», «Die schwarzen Brüder» oder auch biblische Erzählungen, um in mir langsam ein Gefühl dafür auszubilden, dass es in der Menschheitsgeschichte nicht nur Helden, sondern auch Verlierer gibt. Seither fingen die historisch bedeutsamen Orte an, anders, differenzierter zu mir zu sprechen: Ich konnte das Zwinglidenkmal neben der Wasserkirche in Zürich nicht mehr betrachten, ohne dass sich nicht gleichzeitig die Bilder von den Täufern dazwischenschoben, welche nur wenige Meter davon entfernt unten in der Limmat ertränkt worden waren.
Ich begann zu realisieren: Die Geschichte gibt es nicht. Es kommt darauf an, aus welcher Perspektive sie erfahren und gedeutet wird. Und auch dies: Es wird nie die ganze Geschichte erzählt. Die Auseinandersetzung mit Geschichte ist somit auch eine Suche nach Spuren anderer, bisher noch nicht erzählter Geschichten: etwa von Kindern, Frauen, Ketzern oder Immigranten - Menschen, die oft keine «Geschichte machen». Dieser alltags- und mentalitätsgeschichtliche Fokus bietet für Kinder und Jugendliche vielfältige Möglichkeiten, das Geschehen von damals mit eigenen Fragen und eigenem Erleben zu verbinden. Hinter den wechselnden Kulissen des Welttheaters wird etwas sichtbar von den grundlegenden Konflikten und Träumen, welche uns mit Menschen auch aus scheinbar weit entrückten Zeiten bleibend verbinden.
Michael Zangger
Inhaltsverzeichnis
>>>> Sprechende Orte
Michael Zangger
Religionspädagogische Einführung 3
>>>> Zum Thema
Rosa Crädel
Kirchengeschichte als Spurensuche 4
>>>> Kreuzwege / Karfreitagsprozessionen
Andreas Kessler
Orte des Leidens 8
>>>> Kirchliche Heimatkunde
Thomas Mauchle
Kirchengeschichte im Dorf 10
Markus Berger
Kirchengeschichte in der Stadt 13
>>>> Heimatkunde
Alfred Erismann
Orte gespenstischer Erzählungen 15
>>>> Hörspiel zur Alltagsgeschichte in der Reformationszeit
Hansjakob Schibler
Das Pestsäcklein - eine Liebe in Zürich zur Zeit der Reformation 19
Barbara Helbling
Quellentexte zum Hörspiel 20
>>>> Museumspädagogik
Prisca Senn
Von diesen Stätten wird bleiben: Der durch sie hindurchgeht, der Wind 22
>>>> Andere Religionen
Andreas Hohn
Mein Weg zu Horkheimer 26
Hartmut Haas
Das Haus der Religionen in Bern 29
Buchbesprechungen 32
Impressum 35