Zu diesem Heft
Christofer Frey
Erleben und Erfahren scheinen unmittelbar vor sich zu gehen. Aber viele Menschen erleben offenbar wenig oder nichts, wenn andere - bei derselben Gelegenheit - viel erleben. Um etwas zu erfahren, muss die Wahrnehmung für Strukturen sorgen; sie werden meist nur im Laufe lang erworbener Erfahrung erworben. Die bunte Welt der Religionen erschließt sich deshalb wohl nicht in den Extremen des intuitiven Erlebens oder der bloßen Sammlung von religiösem Aussagen. Wege zwischen diesen beiden Extremen suchen die folgenden Beiträge.
Das Kennwort versucht zu argumentieren, dass Erfahrung auch das Nichterfahrbare einschließt. Wenn schon die eigene Religion oft befremdlich wirkt, so gilt das manchmal umso mehr für die Begegnung mit anderen Religionen. Deshalb braucht die Erfahrung von Religion im Allgemeinen und Religion«? im Besonderen einen hohen Grad von rationaler Reflexion. Kann diese Reflexion auch bei Religionen vorausgesetzt werden, die nicht durch die Aufklärung gegangen sind?
Hermeneutische Perspektiven und nicht nur kulturwissenschaftliche Neutralität sind für den Umgang mit Religion und Religionen notwendig. In diesem Sinn zeigt der Dortmunder Alttestamentier Thomas Pola, dass das alte Israel eine Mehrzahl von Göttern bei anderen Völkern als selbstverständlich annahm, bis später zur Abwehr fremder Staatsideologien und der hinter ihnen stehenden Macht ein Monotheismus notwendig wurde. Der Frankfurter Religionswissenschaftler Wolfgang Gantke sieht den Ursprung seiner Disziplin in der Aufklärung. Er möchte sie von der in der Aufklärung gewonnenen Distanz zur Religion wegführen und zu einer praktischen Religionswissenschaft erweitern, die mit dem Postulat der Wertneutralität vorsichtig umgeht. Der Hamburger Religionswissenschaftler Ulrich Dehn konzentriert sich auf Erfahrungen mit dem Islam, die häufig durch Stereotype geprägt sind. Beispielsweise führte die Abfolge der Äußerungen der EKD zum Islam von größerer Dialogoffenheit zu einer gewissen Abgrenzung. Dehn weist damit auf eine Gefahr des Fremdheitskonzepts hin, das unter Anderen der Philosoph Waidenfels betont hat: Es kann zu einem Programm werden.
Angesichts dessen erscheint es als notwendig, Möglichkeiten reziproker Erfahrung im Islam kennen zu lernen. Zwei Muslime, die Lehrer/innen für den islamischen Religionsunterricht ausbilden, äußern sich dazu. Der Erlanger Religionspädagoge Harry Harun Behr zeigt den hohen Wert der Erfahrung im muslimischen Gebet und seiner Praxis. Christen sollten sich in der Begegnung mit islamischer Gebetskultur bei aller verbleibender Fremdheit auf ihre eigenen Erfahrungen mit dem Gebet prüfen. Der Karlsruher Religionspädagoge Jörg Imran Schröter begrüßt die Integration des Islam in die Schulen, was zur Integration der Muslime in die Gesellschaft führen kann. Er blickt auch auf das Christentum und vertritt dabei ein islamisches Pluralitätskonzept, dass die konfessionellen Differenzen bis zum Jüngsten Tag zu bewahren erlaubt. Der Heidelberger Schuldekan Ulrich Loeffler berichtet von Unterrichtsversuchen mit Texten des Dalai Lama. Schülerinnen und Schüler konstatieren vor allem ethische Überschneidungen. Erfahrungen, so scheint es, werden immer dort gewonnen, wo die eigene Identität ins Spiel kommt.
Inhaltsverzeichnis
Zu diesem Heft
Christofer Frey........................................................... 99
Kennwort
Religion in der Erfahrung, Erfahrung mit Religionen
Christofer Frey.......................................................... 101
Theologische Klärung
Von den Engeln für die Völker zum metallenen Koloss.
Wahrnehmung und Beurteilung der Religionen im Alten Testament
Thomas Pola............................................................. 118
Gespräch zwischen Disziplinen
Entwicklung und Paradigmen der Religionswissenschaft
Wolfgang Gantke......................................................... 129
Fremdheit als Programm. Wahrnehmung nichtchristlicher
Religionen, insbesondere des Islam, in Deutschland
Ulrich Dehn.............................................................. l41
Impulse für die Praxis
Was Muslime und Nicht-Muslime über den Islam wissen sollten.
Zur Reformulierung des Essenziellen am Beispiel des Themas
,Gebet' im Islamischen Religionsunterricht
Harry Harun Behr......................................................... 152
Das Christentum im Bildungsplan für den Islamischen Religionsunterricht
Jörg Imran Schröter...................................................... 163
„...bloß, dass ihn die Buddhisten nicht wie einen Gott ansehen!"
Erkundungen zur Wahrnehmung des Dalai Lama bei Schülerinnen und Schülern
Ulrich Löffler.............................................................. 175
Zur Weiterarbeit
Peter Schreiner / Ursula Sieg / Volker Elsenbast (Hg.):
Handbuch Interreligiöses Lernen
Wolfram Kerner............................................................ 190