Zu diesem Heft
Der Begriff "Toleranz" wird im Alltag sehr unscharf gebraucht. In der Regel ist er positiv besetzt, so wie „Intoleranz" zumeist kritisch angemerkt wird. Bei genauerer Betrachtung stößt man schnell auf die Aporie, daß auch Toleranz nicht immer konstruktiv ist, wenn sie nämlich der Intoleranz gegenüber schwach bleibt. Dieses Problem zwingt zu einer genaueren Fassung des Begriffs: Was ist Toleranz und wo liegen die Grenzen der Toleranz? Toleranz ist nicht zu verwechseln mit Indifferenz. Das Problem tritt erst auf, wenn mir eine Einsicht oder Haltung so wichtig ist, daß ich sie um keinen Preis revidieren will. Wie begegne ich dann aber anderen Personen, die gerade diese Einsicht oder Haltung ablehnen? Toleranz erweist sich in der Spannkraft, diesen Konflikt auszuhalten, die eigene Position zu vertiefen, vielleicht auch zu relativieren, und eine entsprechende Reflexion dem Gegenüber zuzumuten. Die theologische Zuspitzung liegt in der Frage, ob der biblische Gottesglaube als Monotheismus immer schon zur Intoleranz neigt. Friedhelm Hartenstein zeigt auf, wie im Bereich der alttestamentlichen Rede von Gott gerade der Glaube an einen transzendenten Schöpfer die eigenen Geltungsansprüche relativiert. Dieser Gottesglaube weiß um die eigene Vorläufigkeit und ist daher bereit zur Selbstkritik. Dazu gehört auch die Einsicht, dass die israelitische Religion nicht aus sich selbst ihre Kraft bezieht, sondern immer wieder auf das rettende Handeln Gottes angewiesen ist. Unduldsam, d.h. auf den ersten Blick intolerant, verhält sich der alttestamentliche Glaube daher nach innen, gegenüber allen Tendenzen, den universalen Gott festzulegen, etwa durch Bilder. So wird der biblische Monotheismus vor dem Anspruch auf absolute Wahrheit bewahrt. In der Geschichte des Christentums ist diese fruchtbare Spannung an entscheidenden Punkten hervorgetreten, aber auch immer wieder in den Hintergrund getreten. Das zeigt der Beitrag von Michael Basse auf. Der moderne Toleranzbegriff hat seinen Sitz im Leben in der mühevoll errungenen Unterscheidung zwischen Kirche und Staat. Gerade darin wurzelt auch der Beitrag der Theologie zur Vertiefung des Toleranzgedankens. Ähnlich differenziert urteilt auch der Kirchenhistoriker Arnold Angenendt, dessen Monographie zu Toleranz und Gewalt im Christentum von Susanne Drees rezensiert wird.
Frank Surall geht von der positiven Sicht aus, wonach Religionsfreiheit als grundlegendes Menschenrecht gilt. Dann sollte der Begriff „Toleranz" nicht im Sinne eines Zugeständnisses verstanden werden - was der Wortsinn „Duldung" ursprünglich nahe legt. Vielmehr wird die Toleranz zur Tugend. Das schließt im Sinne Lessings allerdings den agonalen Charakter der Toleranz ein:
Die Religionen sollen miteinander in ihrer humanen Praxis wetteifern. Das schließt ein, das Urteil Gottes nicht in absoluten Unterscheidungen zwischen „wahr" und „falsch" oder „gut" und „böse" vorwegzunehmen. Andererseits muss sich Toleranz nicht in eine Akzeptanz auflösen, die letztlich wieder in die Indifferenz übergehen könnte.' Der Dialog vermeidet den „Kampf der Kulturen", bleibt aber bei der Konvivenz. Auch Thomas Meyer verweist auf die Geschichte des Begriffs, der von der Duldung (etwa aus Gründen der Staatsraison) zur unbedingten Achtung der Menschenwürde vertieft wird. In dieser Form bildet Toleranz eine notwendige Voraussetzung der modernen Demokratie. Es muss möglich sein, den Konflikt von Wahrheitsansprüchen gewaltfrei auszutragen, auch wenn eine Einigung prinzipiell ausgeschlossen ist. Dieses Prinzip wiederum muss von allen Seiten anerkannt werden und kann seinerseits nicht relativiert werden. Intoleranz kann nicht toleriert werden. Wie sich diese Struktur in der Perspektive von Jugendlichen reflektiert, untersucht Andreas Feige. Toleranz als Ideal der Lebenspraxis ist wenigstens als Bedürfnis breit verankert. Weniger durchsichtig ist die Zuordnung zu bestimmten religiösen Grundhaltungen. „Toleranz" als Ideal ist auf den ersten Blick eher im Bereich der „humanistischen" Mentalität verankert als im Bereich der Bindung an religiöse Traditionen. Bei genauer Analyse wird aber fraglich, ob die humanistische Sicht der Person wirklich nicht-religiös ist oder sich eher vom kirchlichen Sprachspiel distanziert. Diese Frage bricht exakt bei der Analyse des Begriffs „Toleranz" auf.
Die breite Akzeptanz wenigstens eines Toleranz-Ideals auch bei Jugendlichen wirft die Frage auf, wie in der Situation der Schule, vor allem in Konflikten, Toleranz eingeübt werden kann. Gottfried Orth breitet dazu eine Fülle von Anregungen aus. Leitfaden ist dabei die Wahrnehmung der Einzigartigkeit von menschlichen Personen. Daraus ergibt sich, daß Heterogenität unbedingt höher zu schätzen ist als Gleichmacherei. Eine hervorragende Methode für die Wahrnehmung und Gestaltung solcher Vielfalt ist die „Gewaltfreie Kommunikation" in Anlehnung an Marshall B. Rosenberg.
Last not least gilt unser Dank den ausscheidenden Herausgebern Christopher Frey und Werner H. Schmidt, die beide lange Jahre hinweg ausgesprochen verdienstvoll für GuL tätig waren, wobei Christopher Frey als Schriftleiter sich unermüdlich auch für die technischen und redaktionellen Belange einsetzte. Wir freuen uns sehr, dass wir Konrad Schmid (Zürich) als neuen alttestamentlichen Mitherausgeber gewinnen konnten.
Ernstpeter Maurer
Inhaltsverzeichnis
Monotheismus und Intoleranz 13
Friedhelm Hartenstein
Christentum und Toleranz 26
Michael Basse
Agonalität und Konvivenz 39
Frank Surall
Toleranz- Ursprünge und Gründe 56
Thomas Meyer
Tolreanz-Ideal im Lebensentwurf Jugendlicher in Deutschland 64
Andreas Feige
Toleranz: Anerkennung der einander Fremden und Verschiedenen 84
Gottfried Orth