Das Verständnis des Lebens
Christofer Frey
Das Verständnis des Lebens ist äußerst umstritten; das gilt besonders für den deutschen Protestantismus, dessen Führung sich seit den neunziger Jahren gesellschaftspolitisch den Bestrebungen der römischkatholischen Kirche angeschlossen hat, um für die Inkraftsetzung der Menschenwürde von der Verschmelzung der Ei- und der Samenzelle an zu kämpfen. Dabei hatte ein Forschungsbericht1 vor längerer Zeit bereits gezeigt, dass dafür in den europäischen Kirchen kein Konsens gefunden werden konnte.2 Also war hier mit einer gewissen deutschen Sonderrolle zu rechnen.
Aber ist diese im Streit der Disziplinen hinreichend begründet? Wenn die „Annahme einer substantiellen metaphysischen oder ge-schichtsphilosophischen Ordnung hinfällig" werde, biete sich der Weg der „Totalisierung des Lebens" an, bemerkt der Philosoph Bernhard Waldenfels gegen leere Ansprüche der Vernunft.3 Dieser Weg spielt bei einer der drei in diesem Heft vertretenen Positionen eine gewisse Rolle; diese lassen sich in der Hinführung von Lars Klinnert orten und prägen sich in den verschiedenen Beiträgen unterschiedlich aus:
- Da ist zum einen die Auffassung vom Leben als einer Gabe, die zugleich eine Aufgabe ist und die für das menschliche Leben eine prinzipielle und nicht zu negierende Würde postuliert. Menschliches Leben kann dann grundsätzlich nicht zur Disposition stehen. Diese Auffassung leitet die Anregungen für den schulischen Unterricht von Susanne Bürig-Heinze. Sie setzen vor allem beim Problem der Behinderung an.
- Auf der anderen Seite steht die ,utilitaristische' Auffassung von abzuwägenden Gütern, deren Recht gelten soll, solange die Menschenwürde noch nicht eindeutig festgestellt ist. Stufen oder Einschnitte im menschlichen Werden und in seiner Wertung will Manfred Oeming auf dem Hintergrund jüdischer Auffassungen feststellen.
- Zwischen beiden zeigen sich verschiedene komplexere Argumentationsmodelle, die Johannes Eurich im Blick auf den Rechtsphilosophen Ronald Dworkin andeutet und die Christofer Frey mit der Unterscheidung von prinzipiellen Annahmen und pragmatischer Umsetzung in Rechts- oder Moralnormen anregt. Schlichte naturrechtliche Feststellungen sind hier nicht mehr möglich.
Die Schwierigkeiten ethischer Urteilsbildung beruhen auf der unterschiedlichen Bestimmung von ,Leben' und der Vermittlung seiner empirischen und metaempirischen Aspekte.
- Der letztgenannte Gesichtspunkt wird von den Exegeten Helmut Utzschneider (für das Alte Testament) und Peter Wick (für das frühjüdische und das rabbinische Ethos sowie das jüdische und das hellenistische Erbe im frühen Christentum) aufgewiesen.
- Mit dem ersten Gesichtspunkt befassen sich die Beiträge von Jürgen Hübner und Nicole Picard, die biologische Erkenntnisse von einem naiven Empirismus freihalten und die systemischen Qualitäten der neuesten Biologie aufweisen.
- Für deren Vermittlung mit einer vom Verantwortungsbegriff geleiteten praktischen Hermeneutik des Lebens zeichnet sich die Unterscheidung einer existentiellen Ausrichtung im Glauben und einem Wissenschaftsethos ab, wie Hübner das darlegt, oder gilt der Hinweis auf das Problem der Teleologie, die einst Ordnungen des Lebens und ethische Zielsetzungen trug (Picard, Frey). Was tritt angesichts der modernen Biologie an ihre Stelle?
Der einfache Weg über die Biologie hinaus in die Ethik ist also versperrt, aber die Aufgaben werden bereits mit der Anwendung biologischer Erkenntnisse deutlich. Selbst ein deontologisches Ethos (der Menschenwürde), das Abstand zur Empirie bewahrt, bedarf der empirischen Indikatoren, damit deutlich werden kann, ob eine Norm umgesetzt werden muss. Das dürfte der Kern des Streits um die Bewertung des menschlichen Lebens vor allem an seinem Anfang sein.
Inhaltsverzeichnis
Zu diesem Heft
Das Verständnis des Lebens
Christofer Frey....................................................... 97
Kennwort
Was ist Leben?
Lars Klinnert........................................................... 99
Theologische Klärung
Bioethische Probleme des Klonens in alttestamentlicher und
jüdischer Perspektive
Manfred Oeming..................................................... 109
Zum Verständnis des Lebens im Alten Testament
Ein Glossar mit sechs Stichworten
Helmut Utzschneider................................................ 118
Nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebenden
Bemerkungen eines Neutestamentiers zur bioethischen
Diskussion in der jüdischen und in der christlichen Kultur
Peter Wick............................................................ 125
Gespräch zwischen Disziplinen
Leben zwischen Biologie und Theologie
Jürgen Hübner...................................................... 133
Life is life? - Ethische Konsequenzen der
Un(ter)bestimmtheit des „Lebens"
Nicole Picard......................................................... 143
Leben - sein Wert und seine Würde
Christofer Frey .................................................... 154
Impulse für die Praxis
Verdankt und unverlierbar
Der Stellenwert der Menschenwürde ffir die Bewertung gentechnologischer Verfahren
Susanne Bürig-Heinze
Zur Weiterarbeit
Die Heiligkeit des Lebens
Überlegungen im Anschluss an Ronald Dworkins Buch Die Grenzen des Lebens"
Johannes Eurich ..................................................... 109