Sünde – ein unverstandener, aber notwendiger Begriff
Christofer Frey
»Sünde bedroht die Beziehung von Menschen zu Gott durch Unglauben und sie bedroht die Beziehung zum Mitmenschen durch Hochmut, Trägheit und Egoismus.« Mit diesem an Karl Barth angelehnten, aber für diese Einleitung leicht veränderten Satz aus einem der folgenden Aufsätze kann die Sammlung engagierter Beiträge zu einem schrift- und zeitgemäßen Sündenverständnis eingeleitet werden. Das gesamte Heft ist durchaus nicht homogen, aber allen Autor/inn/en ist das Anliegen gemeinsam, die Bedeutung des Terminus ›Sünde‹ heute und aktuell zum Ausdruck zu bringen, damit es im Unterricht behandelt werden kann.
Deutlich könnte dem Leser die Streubreite der theologischen Ansätze und Zugänge werden: Während die Einen (u.a. Maurer, Wolter, Frey) den Sündenfall als anthropologisches – nicht als historisches – Grunddatum ansehen und in den Rahmen einer dialektischen Anthropologie unter eine kritische Theologie stellen, will Kegler die Geschichte Evas (und Adams) mit der Schlange gerade nicht als Sündenfall, sondern als göttliches pädagogisches Programm lesen, das auf die Begabung des Menschen, die Tora halten zu können, zielt. Hier könnte sich der Entwicklungsgedanke der aufklärerischen Theologie indirekt Geltung verschaffen, weil bereits Leo Baeck der Meinung war, dass Kant nur systematisch wiedergab, was Mose im Namen Gottes in die Welt der Menschen gebracht hatte. Dann steht die protestantische Bibelauslegung vor der Frage, ob oder wie der Mensch selbst dazu beitragen könne, die Sünde zu überwinden. Auch hängt es von der theologischen Grundlegung ab, ob Sünde und Schuld unterschieden werden können.
Jedoch sehen die meisten Beiträge dieses Hefts den Menschen so unter der Macht der Sünde, dass diese seine Autonomie und Freiheit nicht nur angreift, sondern geradezu illusorisch macht. Damit wird kein Gegenprogramm zum neuzeitlichen Autonomiegedanken entfaltet, sondern die grundsätzlichere Frage nach der Möglichkeit von Autonomie und selbstverantworteter Identität gestellt. Wie dies in der Sozialarbeit praktisch werden kann, zeigt Annette Noller. Sie wehrt die defizitorientierte Programmatik der Sozialarbeit ab, weil diese gewisse Analogien zum moralistischen Sündenverständnis aufweist. Da die Überwindung der Sünde mit der Herstellung von Gemeinschaft zu tun hat, kann diesem Gedanken das ›empowerment‹ zur Seite gestellt werden.
Interviews im Sinne einer Kindertheologie beweisen, dass gerade Kinder einen besonderen Sinn für Schuld und Sünde entfalten können, der über ein moralistisches Verständnis weit hinausgeht (Miriam Zimmermann). Die Frage nach dem Ursprung der Sünde, die das Lebensverhältnis zu Gott und zu den Mitmenschen untergräbt (und die außermenschliche Schöpfung nicht respektiert), lässt sich nicht rational beantworten, weil die Sünde die Illusion neutralen Menschseins – auch als Grundlage zu einem distanzierten analytischen Urteil – nicht zulässt. Umso dringlicher ist aber die Suche nach ihrer Überwindung. Ist sie eine moralische Aufgabe oder Sache eines Glaubens, dem sich neue Perspektiven an der Lebenswirklichkeit öffnen, so dass Menschen überhaupt erst Alternativen zum bisherigen Lebensgang gewinnen können? Diese Frage durchzieht alle Beiträge. Der menschliche Beitrag zur Überwindung der Sündenfolgen setzt die göttliche Vergebung als die eigentliche Überwindung der Sünde voraus und ist deshalb zuerst ein Geschehenlassen, dann auch Aktivität. An diesem entscheidenden Punkt verweisen die Beiträge durchweg auf das Eintreten Christi in zerstörte Lebensverhältnisse. Buße ist ein eminent theologischer Akt der Reorientierung und keine moralistische Selbstanklage, die allzu leicht in Depressionen führen könnte.
Darum können und sollten die unterrichtlichen Mittel im Blick auf ihre aktuelle Orientierungsleistung hin gesichtet werden. Tragen sie dazu bei, selbstzufriedene Autonomiekonzeptionen aufzubrechen und die dem Ebenbild Gottes zukommende Freiheit auch in der Überwindung scheinbar abschließender Definitionen des Menschen zu bewähren? An exemplarisch ausgewählten Kinderbibeln zeigt Adam, wie die Erzählungen zwischen der moralischen Sicht und der Wirklichkeitsdeutung (zum Beispiel anhand der Taufe) schwanken. Diese Probleme kehren in Schulbüchern für den Religionsunterricht wieder, wie Rupp darlegt, denn nur unter bestimmten Umständen wird der existentielle Bezug der Sünde deutlich.
Inhaltsverzeichnis
Thema: Sünde
Zu diesem Heft
Christofer Frey
Sünde – ein unverstandener, aber notwendiger Begriff
95
Kennwort
Ernstpeter Maurer
Kennwort »Sünde«
97
Theologische Klärung
Jürgen Kegler
Sünde im Alten Testament
108
Michael Wolter
Sünde. Neutestamentliche Aspekte
119
Gespräch zwischen Disziplinen
Christofer Frey
Sünde und Buße: Das Thema der Lebenswende
131
Impulse für die Praxis
Mirjam Zimmermann
Sünde in der Kindertheologie
142
Annette Noller
Sünde in der Sozialen Arbeit: Die Dynamik des Sündenbegriffs im interdisziplinären Dialog
153
Gottfried Adam
»Sünde« in Kinderbibeln. Exemplarische Beispiele und unterrichtliche Verwendung
164
Zur Weiterarbeit
Hartmut Rupp
Sünde – ein verschwiegenes Thema. Ein Blick in Bildungspläne und Unterrichtsmaterialien
178