Zu diesem Heft
Heinz Schmidt
Die deutsche pädagogische Diskussion ist auf Modernisierungsprozesse fixiert. Die Gesellschaft werde sich von einer belehrten zu einer lernenden wandeln. Man solle sich nicht so sehr mit dem "Was", als mit dem "Wie" des Lernens befassen. Neben den Kulturtechniken, zu denen heute der Umgang mit den Informations- und Kommunikationssystemen gehört, gehe es in erster Linie um formale Fähigkeiten, d.h. um Schlüsselqualifikationen wie analytisches, abstrahierendes und vernetztes Denken, selbstständiges Arbeiten und Kreativität. Die Lerninhalte scheinen unwichtig zu sein, da sie ohnehin schnell veralten. Die amerikanische Forschung unterstreicht demgegenüber die Unentbehrlichkeit von Erzählungen und darin enthaltenen Verstehensmustern – tacit knowledge – für jede Kommunikation sowie die Einordnung und Bewertung von Informationen. Erzählungen ermöglichen die Verknüpfung unterschiedlicher Wissens- und Erfahrungsgebiete und liefern Zielvorstellungen für domänenspezifisches Lernen, sind also motivationsrelevant.
Auch in radikal pluralisierten Gesellschaften wird Wissen durch Erzählungen und überlieferte Deutungsmuster organisiert und bewertet. Freilich gibt es viele davon. Nachdenkenswert ist der philosophische bzw. theologische Umgang der Kinder mit solchen Geschichten, über den Helmut Hanisch berichtet. Martin Schreiner beleuchtet die verschiedenen Aspekte des Verhältnisses von Erziehen und Tradition unter pluralistischen Bedingungen. Bei der theologischen Klärung des Verhältnisses von Tradition, Selbstständigkeit und Gotteserkenntnis hilft insbesondere die alttestamentliche Weisheit, die Holger Delkurt untersucht hat. Hans-Jürgen Fraas behandelt die anstehende Problematik aus psychologischer und religionspädagogischer Sicht, während Peter Dabrock aus theologisch-ethischer Perspektive einen Weg zwischen kommunitaristischer Traditionsbindung und universalistischer Relativierung aufzeigt. Die Rechtfertigung aus Glauben ist die grundlegende Erzählung der Reformation. Fritz Koppe verwendet Einsichten der analytischen Psychologie für eine neue didaktische Profilierung dieses schwierigen Unterrichtsthemas. Heidrun Dierk gibt mit Beispielen aus der Mentalitätsgeschichte praktische Impulse zu einer erfahrungsrelevanten Behandlung reformationsgeschichtlicher Ereignisse. Georg Lämmlin weist abschließend auf einen für die Bildungsdiskussion einschlägigen Sammelband zur evangelischen Identität heute hin.
Inhaltsverzeichnis
Zu diesem Heft 3
ZUM NACHDENKEN
Helmut Hanisch
Kinder als Philosophen und Theologen 4
KENNWORT
Martin Schreiner
Erziehen und Tradition 17
THEOLOGISCHE KLÄRUNG
Holger Delkurt
Erziehung im Alten Testament 26
Hans-Jürgen Fraas
Sozialisation, Pluralität und Konfession 40
Peter Dabrock
Zugehörigkeit und Öffnung. Zum Verhältnis von kultureller Praxis und transpartikularer Geltung 53
AUFGABEN DER MITTEILUNG
Fritz Koppe
Die Rechtfertigung des Schattens. Fragen aus der Sicht der Analytischen Psychologie 66
IMPULSE FÜR DIE PRAXIS
Heidrun Dierk
Kirchengeschichte neu erschließen 80
LESEHINWEIS
Georg Lämmlin
Martin Schreiner (Hg.), Vielfalt und Profil. Zur evangelischen Identität heute; Neukirchen-Vluyn 1999 95