Die umstrittene Freiheit des Willens
Christofer Frey
Die Diskussion um die Freiheit des Willens ist nicht neu. Es hat immer wieder Versuche gegeben, den Menschen und sein Gehirn konstruktivistisch oder empiristisch zu sehen. Im Anschluss an die analytische Philosophie hat sich eine neurologische Debatte zuerst in Monographien, dann in Feuilletons artikuliert. Dahinter steht oft der Streit um die „zwei Kulturen", die von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften repräsentiert werden. Die beiden in der Debatte zentralen Stichwörter — Freiheit und Determination — sind allerdings völlig unklar, so dass sogar die Theologie mit Recht behaupten kann, dass sie seit langem auch die Unfreiheit und Determination des Willens kenne.
Die folgenden Beiträge zeigen in unterschiedlicher Weise drei Wege auf, wie mit dem so aktuell gewordenen Thema umzugehen ist:
(1) Die Erörterung im Blick auf lebensweltliche Erfahrungen: Wir meinen, in der Regel zu eigenen Entscheidungen frei zu sein oder uns sogar zwischen Alternativen entscheiden zu können. Radikale Deterministen erklären das für einen Schein.
(2) Die Analyse im Sinn eines empiristisch-rekonstruktiven Zugangs beziehungsweise eines Reduktionismus, der an der geisteswissenschaftlichen Sicht vorbeigeht. Dann hätte die Evolution Scheinwelten hervorgebracht — aber zu welchem Zweck?
(3) Die über den Reduktionismus hinausgehende Annahme einer subjektiven Welt, die in den Spielräumen des neurologischen Systems angelegt ist. Dann muss die Realität weiter als die Annahme des Empirismus verstanden werden.
(4) Der traditionelle philosophische (und auch theologische) Zugang zum Thema, der zuerst nach der Bedeutung von Freiheit und Determination fragt und dem Menschen in aller Regel nur eine bedingte, niemals eine absolute Freiheit zuspricht und deswegen die Determination nicht mit Notwendigkeit gleichsetzt.
(5) Der besondere theologische Zugang, der die Freiheit des Willens skeptisch oder dialektisch sieht. Die Freiheit wird als verloren angesehen und bleibt trotzdem Herausforderung; sie ist in ihren eigenen Widerspruch verstrickt.
Alle im Folgenden versammelten Beiträge deuten in eine bestimmte Richtung: Freiheit und Unfreiheit sollten nicht im Blick auf einzelne Entscheidungen gesehen, sondern im Blick auf die Person bestimmt werden, auf deren Lebensabschnitte und subjektive Lebensäußerungen. Es gelte nicht, von irgendwelchen — möglicherweise zwingenden — Bestimmungsgründen frei zu sein, sondern zu einer (geschenkten) Selbstübereinstimmung zu kommen.
Deshalb befassen sich die Unterrichtsentwürfe von Tuija Binder, Stu-dienrätin in Freiburg, und Herbert Kumpf, Studienleiter am RPI in Karlsruhe, mit der Ausbildung von sozialer und personaler Identität und damit dem Erwerb von Freiheit von Schülerinnen und Schülern.
In der Auseinandersetzung mit reduktionistischen Strategien (und dem Naturalismus) betonen Andreas Klein, Universitätsassistent an der Ev.-theol. Fakultät in Wien, und Thomas Fuchs, Leiter der Sektion „Phäno-menologische Psychopathologie und Psychotherapie" an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Heidelberg, das Subjektsein (Fuchs) oder die „bestimmte Selbstbestimmung" (Klein).
Philosophie und Theologie können (aber müssen nicht) in der Wahrnehmung des sehr komplexen Freiheits- und Unfreiheitsverhältnis verbunden sein. Lediglich eine bestimmte Gottesidee könnte im höchsten Sein eine grundlose Freiheit finden: Damit wird die Möglichkeit, überhaupt das umfassende Sein, die Wirklichkeit schlechthin, zum Thema. Wer ist zu solcher Sicht berechtigt oder in der Lage? Die Theologie im Besonderen muss sich mit endlicher Sicht bescheiden, weil sie den Menschen in Selbstwidersprüchen verstrickt sieht, die Dierk Starnitzke, Privatdozent und Pastor in Bethel, anhand der Theologie des Paulus und Ernstpeter Maurer, Professor für systematische Theologie an der Universität Dortmund, anhand des Streits Luthers mit Erasmus aufweisen. Dann liegt der Akzent auf einem Befreiungsgeschehen, das den immer irgendwie bestimmten Willen in das rechte Gottes- und Selbstverhältnis bringt. Dass diese Sicht auch allgemeiner — und damit über die Theologie hinaus — zur Sprache kommen kann, will die Einführung von Christofer Frey, Professor für Systematische Theologie (Ethik) in Bochum, zeigen.
Inhaltsverzeichnis
Thema: Willensfreiheit
Zu diesem Heft
Christofer Frey
Die umstrittene Freiheit des Willens
99
Kennwort
Christofer Frey
Freiheit und Determination
101
Theologische Klärung
Dierk Starnitzke
Ist der menschliche Wille nach Paulus frei?
112
Ernstpeter Maurer
Der Streit um den freien Willen
124
Gespräch zwischen Disziplinen
Andreas Klein
Christliche Freiheit im Spannungsfeld zwischen Philosophie und Neurobiologie
136
Thomas Fuchs
Können Gehirne entscheiden? Subjektivität und Willensfreiheit
149
Impulse für die Praxis
Herbert Kumpf
Freiheit – Arbeit an sich selbst und ein Geschenk. Unterrichtsanregungen für die Oberstufe
160
Tuija Binder
Liebe, Verliebtsein und andere Herausforderungen. »Freier Wille und Verantwortung« im Religionsunterricht der Klassen 9/10 an Gymnasien
174
Zur Weiterarbeit
Andreas Klein
Zu G. Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit
189