Ulrich Kropac / Georg Langenhorst
Erinnern Sie sich noch, sei es als Zeitzeuge, sei es als ,Nachgeborener' durch Partizipation am kollektiven Gedächtnis der Religionspädagogik? Am 22. November 1974 wurde auf der Würzburger Synode die Vorlage „Der Religionsunterricht in der Schule” in zweiter Lesung verabschiedet. Von den 240 Synodalen stimmten 223 der Vorlage zu, 8 lehnten sie ab und 9 enthielten sich der Stimme. Die überwältigende Mehrheit, die dem Beschluss zur Annahme verhalf, ist, so scheint es, auch heute noch präsent, wenn auch in anderer Weise. Das Dokument hat eine derart intensive Rezeption und eine
so breite Zustimmung gefunden, dass man zum Begriff der ,Magna Charta' greift, um seine fundamentale Bedeutung sowohl auf kirchenpolitischer als auch auf religionspädagogischer Ebene zu würdigen. Grund genug also, dass sich die Religionspädagogischen Beiträge 40 Jahre nach Würzburg mit diesem Beschluss befassen. Sie tun dies in einer eigenen Rubrik: „Religionspädagogik spezial". In ihr wird das Thema „4O Jahre Synodenbeschluss" in mehreren Aspekten aufgegriffen:
- ,GENETlSCH': Gottfried Bitter zeichnet in knappen Strichen den langen Weg vom Zweiten Weltkrieg über das Zweite Vatikanische Konzil zur Würzburger Synode nach und zeigt so das soziale, politische, philosophische und bildungstheoretische Umfeld auf, aus dem heraus der Synodenbeschluss
erwachsen ist.
- ,WIRKUNGSGESCHICHTLICH': Werner Simon macht zum einen deutlich, wie sich schon parallel zur Synode religionspädagogische Änderungen durchzusetzen begannen. Vor allem beleuchtet er, wie die Vorgaben des Beschlusses in den folgenden, bis heute maßgeblichen Bildungs- und Lehrplänen aufgegriffen und konkretisiert wurden.
- ,PROSPEKTIV': Klaus König markiert Stellen, an denen der Synodenbeschluss aufgrundtiefgreifender religiöser, kultureller und schulischer Veränderungen in den letzten 40 Jahren weitergedacht werden muss: sei es vor dem Hintergrund einer wachsenden Entkonfessionalisierung der Bevölkerung, sei es im
Blick auf eine Neuausrichtung der Intention religiöser Bildung, sei es in Bezug auf die vielfach zitierten drei Begründungsfiguren für Religionsunterricht in der Schule.
Neben dieser dreifachen Aufschließung des Beschlusses zum Religionsunterricht kommen zwei weitere Facetten dazu, die ein ganz anderes Kolorit tragen: Ein Text von Hans Maier, langjähriger bayerischer Kultusminister und einflussreiche Persönlichkeit auf der Synode, lässt etwas davon spüren, wie um den Synodenbeschluss gerungen wurde. Bei aller Bedeutung und Wirkung: Er war und ist nicht unumstritten. Für viele heutige Religionspädagoginnen und -pädagogen wirken die Reserve, die
Maier der (Religions-)Pädagogik, aber auch der Theologie entgegenbringt, und umgekehrt der Aplomb, mit dem er die vom Lehramt festgestellte Lehre der Kirche zum alleinigen Maßstab erklärt, befremdlich. Dennoch: Sie gehören zum Gesamtbild dazu. Die Zahl jener, die an der Synode mitgewirkt
hatten, wird allmählich kleiner, die Fäden der ,oral history' mithin dünner. Umso größer ist die Freude, dass sich mit Prof. Dr. Wolfgang Nastainczyk, Emeritus für Religionspädagogik und Katechetik an der Universität Regensburg, ein Berater der damaligen Synode für ein Gespräch zur Verfügung gestellt hat. Prof Dr. Ulrich Kropac hat ihn in Regensburg aufgesucht und sich Auskünfte über die Genese des Synodenbeschlusses und dessen Wirkungen erbeten, nicht im Sinne einer
historischen Recherche, sondern im Modus der persönlichen Erinnerung.
Neben dem Themenschwerpunkt „40 Jahre Synodenbeschluss" behandelt die Herbstausgabe der Religionspädagogischen Beiträge eine Reihe weiterer Themen:
Erna Zonne-Gätjens widmet sich in der Rubrik„Religionspädagogik pointiert" dem Thema „Religionspädagogik und lnklusion" und damit einem aktuellen Problemfeld, das die Religionspädagogik langfristig beschäftigen wird. In Zonne-Gätjens' Beitrag, der an einer Fallstudie ansetzt, scheinen solche Schwierigkeiten auf: Wie gelingt der Übergang von
der Integrations- zur inklusionspädagogik? Welche Perspektive kann die Religionspädagogik anbieten? Welche pragmatischen VVorschläge gibt es - jenseits idealistischer Konzepte?
Einem Beitrag von Alexander Unser ist die zweite neue Kategorie in diesem Heft geschuldet: "Religionspädagogik repliziert". Unser setzt sich kritisch mit einem Artikel zu Bildungsgerechtigkeit auseinander, veröffentlicht von Judith Könemann im letzten Heft der Religionspädagogischen Beiträge (70/2013). Er stellt dem an der Theorie der rationalen Bildungsentscheidungen angelehnten Ansatz eine Position entgegen, die eher die Theorie milieuspezifischer Bildungsbenachteiligung für die Religionspädagogik fruchtbar macht. - Die Schriftleitung wünscht sich, dass ein solcher heftübergreifender Austausch keine Ausnahme bleibt. Die Rubrik ist eingerichtet! Bleibt die Einladung an die Leser/-innen der Religionspädagogischen
Beiträge, das Angebot aufzugreifen, den wissenschaftlichen Diskurs durch die Einrede zu einem Thema zu befördern. Idealerweise sollte eine Replik im jeweils nächsten Heft zu einem bestimmten Artikel erfolgen.
Die Rubrik „Religionspädagogik kontrovers" geht in diesem Heft einem grundlegenden Spannungsverhältnis nach. ln seinem 2013 erschienenen Buch„Religion gibt zu denken" diagnostiziert Rudolf Englert im Blick auf die letzten Jahrzehnte religionspädagogischer Entwicklung einen „Wandel vom Bezeugen zum Beobachten" (S. 37). Nicht diese These, wohl aber deren Pole bilden den Ausgangspunkt einer Kontroverse. Für Anton A. Bucher gibt es ein klares Gefälle: „Zuerst beobachten,
dann bezeugen". Es ist die Empirie, der der Primat in der Religionspädagogik zukommt. Edeltraud Gaus und Albert Biesinger behaupten das Gegenteil in ihrem Beitrag, der den Untertitel „Vom Primat des Zeugnisgebens im Religionsunterricht" trägt. Auch wenn sich Beobachten und Zeugnisgeben nicht ausschließen - wissenschaftstheoretisch ist es nicht belanglos, wie, mit welchem Gewicht und in welcher Priorität beide Größen in der Religionspädagogik in ein Verhältnis gesetzt werden: Unterrichtskonzepte, Inhalte und die Rolle von Religionslehrerinnen und -lehrern bleiben von solchen Fragen nicht unberührt.
In den in der Rubrik „Religionspädagogik aktuell" aufgenommenen freien Beiträgen präsentiert Bernhard Grümme den Ansatz einer „Öffentlichen Religionspädagogik", während Patrik C. Höring den religionspädagogischen Ertrag der Sinus-Milieu-Studien darstellt und kritisch befragt.
Im Blick auf „Religionspädagogik international" stellt der in Warwick und Oslo lehrende renommierte englische Religionspädagoge Robert Jackson aktuelle empirische Forschungen vor, die im Namen des Europäischen Parlamentes die Bedingungen schulischer religiöser Bildung untersuchen.
Wie üblich schließt sich ein ausführlicher Rezensionsteil mit Publikationen aus der jüngsten Zeit an. Er lässt erneut erkennen, dass das religionspädagogische Feld alles andere als eine Monokultur ist.
Abschließend noch drei kurze Hinweise:
Das Heft 71/2014 stellt die zweite Ausgabe im Jahr 2014, zugleich aber die einzige Nummer in diesem Jahrgang dar. Wie früher schon angekündigt, umfasst der Jahrgang 2014 nur ein einziges Heft (bei entsprechend reduzierten Abokosten), um ab 2015 Erscheinungsjahr und Jahrgang der Zeitschrift wieder zu synchronisieren.å
Die neueröffnete Rubrik „Religionspädagogik repliziert" hatte in diesem Heft ihren Testlauf. Ob sie längerfristig erhalten bleibt, hängt von der Bereitschaft zum Diskurs in unserer scientific community ab. Es ergeht die herzliche Einladung an alle Leser/-innen, da eine Replik zu liefern, wo Gegenstände strittig sind.
Unabhängig davon besteht die Möglichkeit, Beiträge über religionspädagogisch relevante Themen einzureichen, die allerdings nur dann endgültig angenommen werden, wenn sie den formalen Richtlinien entsprechen. Nicht ausgeschlossen bleibt eine vorgängige einschätzende Lektüre der Schriftleitung zu einem Text, der dann noch nicht entsprechend formal aufbereitet sein muss.
Inhaltsverzeichnis
Inhalt
Editorial 3
Ulrich Kropac / Georg Langenhorst
Religionspädagogik POINTIERT
Religionspädagogik und Inklusion 7
Erna Zonne-Gätjens
Religionspädagogik REPLIZIERT
Wie kann sich Religionspädagogik von Bildungsgerechtigkeit
herausfordern lassen?
Eine Entgegnung auf Judith Könemann 17
Alexander Unser
Religionspädagogik KONTROVERS
Zuerst beobachten, dann bezeugen
Der Primat der Empirie in der Religionspädagogik 27
Anton A. Bucher
Zeugniskompetenz im Fokus
Vom Primat des Zeugnisgebens im Religionsunterricht 36
Edeltraud Gaus / Albert Biesinger
Religionspädagogik SPEZIAL
Auf dem langen Weg zur Synode 45
Gottfried Bitter
„Eine gediegene und erstaunlich lange gültige Klärung“
Anmerkungen zur Wirkungsgeschichte des Synodenbeschlusses
„Der Religionsunterricht in der Schule“ (1974) 57
Werner Simon
Den Synodenbeschluss zum Religionsunterricht weiterdenken 66
Klaus König
Sache von Staat und Kirche
Religionsunterricht geht nicht nur Pädagogen an 75
Hans Maier
„Greifbare, nachweisliche Wirkungsgeschichte“
Ulrich Kropač im Gespräch mit Wolfgang Nastainczyk
über den Synodenbeschluss zum Religionsunterricht 79
Wolfgang Nastainczyk / Ulrich Kropac
Religionspädagogik AKTUELL
Sich aufs Spiel setzen
Zum Ansatz einer Öffentlichen Religionspädagogik 87
Bernhard Grümme
Milieusensibel unterrichten?
Religionspädagogische Nachfragen und Anregungen zu den Sinus-Studien 98
Patrik C. Höring
Religionspädagogik INTERNATIONAL
Council of Europe Policy and ‚Safe Space‘ for Dialogue in Religious Education 111
Robert Jackson 121
REZENSIONEN