Heilige wie wir
Zu diesem Heft / Von Matthias Bahr und Harry Noormann
Gabriele Miller bat die Leserschaft um Nachsicht - das Heft habe katholische Schlagseite. Das war vor 15 Jahren (ru 13 [19831 H. 2: Heilige). Um das ökumenische Gesicht von ru zu wahren, wälzte sie den »Evangelischen Erwachsenenkatechismus«, Stichwort »Heilige«. Fehlanzeige. Mit einem frustrierten »typisch« (»wollte ich sagen, aber ich habe mir ja vorgenommen, keine Vorurteile weiterzukolportieren!«) empfahl sie ihren Leserlnnen lakonisch: »Nun schauen Sie halt, wie sie mit dem zurecht kommen, was Sie in diesem Heft finden.«
Die »typischen« Konfessionslinien im Umgang mit den Heiligen scheinen ungebrochen - selbst in Lehrerköpfen (vgl. S. 122 im Heft). Die neuerliche »katholische Schlagseite« des Heftes ist von daher programmiert. Die evangelische »Fehlanzeige« lässt sich nicht nur am ev. Erwachsenenkatechismus festmachen (auch in der völlig überarbeiteten 6. Auflage). Es gibt keine Heiligenfeste, keine Heiligenverehrung, kein Heiligenverzeichnis, keinen Prozess der Selig- und Heiligsprechung, keine/n Namenspatron/in. Dem jungen Luther war die zeitgenössische Heiligenverehrung ein Gräuel - für ihn eine Brutstätte für theologische Fehlschlüsse und Missverständnisse: als könne irgendeinem noch so untadeligen Christen bescheinigt werden, vollkommen zu sein und nicht länger »den alten Adam täglich ersäufen« zu müssen, als sei es möglich, durch eine radikale (monastische)Lebensform »Spitzenleistungen« (Werke ... ) in der »Nachahmung« Christi zu vollbringen, als könne es einem Menschen zugestanden werden, (neben Christus) fürbittend bei Gott um Hilfe einzutreten.
Bei aller Kritik am Vollkommenheitsideal konnte Luther seinen Anhängerlnnen dennoch einschärfen, dem Glauben eines Franziskus nachzueifern (exemplum fidei), und zu entscheiden, welche Taten zu welcher Zeit der Liebe zum Nächsten zuträglich seien. So wurde er selbst inmitten der reformatorischen Heroen über die Jahrhunderte zum überlebensgroßen Heiligen einer evangelischen Tradition, die ihre eigenen Heiligenkalender pflegte.
Heilige wie wir - so lautet der Hefttitel. Darin steckt eine Akzentverschiebung und klingt auf den ersten Blick nach üblicher Anmaßung nun auch der modernen Christen. Ein Blick zurück zeigt, dass auch in katholischer Sicht seit 40 Jahren diese Rede angemessen ist: »Die Anhänger Christi sind von Gott nicht kraft ihrer Werke, sondern aufgrund seines gnädigen Ratschlusses berufen und in Jesus dem Herrn gerechtfertigt, in der Taufe des Glaubens wahrhaft Kinder Gottes und der göttlichen Natur teilhaftig und so wirklich heilig geworden« (Lumen Gentium 40). Was das 2. Vatikanische Konzil hier niederlegt, ist Zusage und Anspruch gleichermaßen: So wird Wert und Würde der Christen hervorgehoben, die 'alten' Heiligen nicht nachsteht; so kann zur Suche nach (mittleren) Heiligen unserer Tage aufgerufen (Vgl. S. 114ff) und die Verwirklichung der eigenen Heiligung angemahnt werden.
Religionslehrerlnnen plagen weniger die (kontrovers)theologischen Problemhalden. Die didaktische Aufgabe stellt sich radikal elementar und widersprüchlich: Vorbilder sind passé und haben Hochkonjunktur - gleichzeitig. In der individuellen biografischen Werkstatt lässt sich das eigene Leben nicht nach dem Modell eines oder weniger Lebens-Vorbilder ausrichten. Die Vielfalt von Sein und Design im schnellen Schnitt liefert flüchtige Lebens-Bilder, die sich bestenfalls als Vorbildfragmente im Selbst-Bild spiegeln (»Ich bin mein eigenes Vorbild«). In diesem Sinne gilt: Leit- und Lichtgestalten haben ausgedient.
Zugleich verstärkt die unvermeidliche Selbstthematisierung in den ständig mitlaufenden Fragen, wer ich sein, wie ich leben und was ich glauben will, den Hunger nach Orientierung - gerade auch in Gestalt gelebter Glaubwürdigkeit. Vorbilder sind »in«.
Wie kann das aussehen, heute als Christ zu leben? Welche Personen der Vergangenheit und Gegenwart in der Nähe und Ferne vermögen Reflexions- und Identifikationsprozesse unter Kindern und Jugendlichen auszulösen und ihr Orientierungswissen zu erweitern?
Dieser, vom subjektiven »Aneignungspotenzial« abgesteckte Fragehorizont verrückt die didaktischen Problemstellungen dies- und jenseits der überkommenen Heiligendidaktik und ihrer Kritik.
Denen ich Mut machen wollte
klang meine Stimme unecht
Vielleicht hatte ich nur mir selbst
Mut machen wollen
Das ging nicht mehr:
Ich sah meine eigene Angst
und war verzweifelt
weil ich verzweifelt war
Mir blieb keine Wahl als
zu sprechen
von dieser Verzweiflung
Ich war zu voll von ihr
um sie zu verschweigen
Einige hörten zu
die noch vor Tagen
meine Ermutigungen
nicht angehört hatten
Denen ich helfen wollte
mit meinem Mut
helfe ich vielleicht
mit meiner Verzweiflung
ERICH FRIED (aus: Lebensschatten, Berlin 1981)
Inhaltsverzeichnis
Zu diesem Heft
Pädagogischer Lebertran?
Didaktische Orientierungen: Lernen an fremden Biographien
Hans Mendl
Kopiervorlage: »Tolle Leute heute«
Vorbild, Modell, Star, Idol
Definitionen
Hans Mendl
Martin, Elisabeth, Nikolaus und Co.
»Standardheilige« im Religionsunterricht
Christina Kalloch
Wie Powerfrauen ihren Weg gehen
Klara von Assisi gegen den Strich gelesen
Mirjam Schambeck
Didaktische Pinnwand
Matthias Bahr
Nachdenken, wie der Himmel ist
Heilige regen zu eigenen Bildern vom gelingenden Leben an
Susanne Drewniok
Verlagerung der Heiligen
Maria und Lady Diana in Popkultur und Werbung
Judith Mühleisen und Gerd Buschmann
Rubriken
ru - im Blickpunkt.-
Zusammen Leben und Lemen im RU
Konfliktlinien in interreligiösen und konfessionellen Konzepten
Bernd Feininger
ru Handbibtiothek
ru Magazin
Der Hamburger Weg
Wolfram Weiße