Mahl-Zeit
Von Norbert Weidinger und Hans Hermann Wilke
Die Worte »Mahl-Zeit« oder »Brot-Zeit« haben eine seltsame Macht schon über Kinder im Kindergarten, aber auch über Erwachsene in Büros, Werkshallen oder auf Baustellen: Meist zaubern sie ein Lächeln ins Gesicht, bewirken ein deutliches Aufatmen, Erleichterung, Vorfreude, verheißen eine »,Aus-Zeit«, eine Pause, einn »Pause-Brot«, das nicht nur aus Brot im wörtlichen Sinn bestehen muss. Die Anspannung legt sich, zurück gedrängter Hunger und Durst werden gestillt. Ein Urerlebnis für jeden Menschen, ein Beispiel für jenes »prototypisch menschliche Verhalten«, in dem der Soziologe E. L. Berger die »Spuren der Engel«, »Zeichen der Transzendenz« vermutet? Es kommt darauf an, was Menschen daraus machen. Die Mahl-Zeit kann eine Steigerung dadurch erfahren, dass sie sich über den Kreis vertrauter Familienmitglieder, Kolleginnen und Freundinnen hinaus im großen gesellschaftlichen Rahmen abspielt - früher in den Symposien der alten Griechen, den Gelagen der Römer und heute bei den »Gala-Diners« der »Hautevolee«. Denn auch das befriedigte Bedürfnis nach Kontakt und Wertschätzung steigert die Lebensqualität bei jeder »Mahl-Zeit« neu; es sei denn man oder »frau« ist und bleibt ein »Morgenmuffel« oder »Einzel-Heinz«.
Als wir begannen, dieses Themenheft zu planen, war die Vorfreude der Vorsicht gewichen; denn BSE- und MKS-Krise (zur Erinnerung: Maul- und Klauenseuche!) - nicht zu vergessen der »Dauerbrenner« gen-manipulierte Nahrung ließen besorgt fragen: Was kann ich eigentlich ohne Risiko für meine Gesundheit genießen? Und wer den Blick über den »Teller-Rand« hinaus wagte, musste überlegen: Darf ich mich an meiner »Mahl-Zeit« freuen angesichts der Prognose des Welthungergipfels im Sommer 2001 in Rom, dass es bis zum Jahr 2020 132 Millionen unterernährte Kinder auf diesem »globalisierten Globus« geben wird?! Die Welthungerhilfe konterte mit einem weltweiten Schülerwettbewerb, der mit der Vision anstecken wollte »Eine Welt ohne Hunger bis zum Jahre 2020«. Krasser könnte der Gegensatz nicht sein! Wer wird Recht behalten? Manchem mag der Bissen im Hals stecken bleiben. Andere nutzen die Fastenzeit, um ungute (Ess-)Gewohnheiten abzulegen, sich bewusster zu ernähren oder aus verschiedenen Motiven und Intentionen heraus wirklich zu fasten. Uns beide beruhigt und beunruhigt zugleich der Ausspruch eines afrikanischen Bischofs zur Eröffnung einer MISEREOR- und BROT FÜR DIE WELT-Aktion: »Uns stören nicht eure Feste, uns stört Euer Alltag! «
In dieser Spannung zielt das Themenheft »Mahl-Zeit« darauf ab, ästhetische Bildung und ästhetisches Lernen im Religionsunterricht zu verstärken und die Wahrnehmungs- und Ausdruckskompetenz der Schülerinnen zu fördern. Solcher RU will die alltäglichen Verhaltensmuster beim Essen und Trinken wahrnehmen, kultivieren helfen und anleiten zu fragen: Was steckt noch mehr darin oder dahinter? Der Wirklichkeitssinn soll geweckt werden, um den Möglichkeitssinn zu inspirieren. Möglicherweise entdecken unsere Schülerinnen durch die bewusste Erweiterung ihres alltäglichen Erfahrungshorizonts durch die christliche Botschaft von den vielen Mählern Jesu mit Sünderinnen bis hin zum »Letzten Abendmahl« neu, was Mahl -Halten bedeuten kann (trotz der Trennung der christlichen Konfessionen) und lassen sich durch diese »Gefährliche Erinnerung« anspornen zum Andershandeln und zur Solidarität mit den Brotlosen und Leidenden; denn solche Lernwege möchten im Sinn einer alltagsorientierten Symboldidaktik von der Ästhetik zur Ethik führen.
Dazu gibt Perry Schmidt-Leukel einen interreligiösen Überblick über den Zusammenhang zwischen »Essen und Religion«. Norbert Weidinger stellt sein Modell ästhetischen Lernens dar. Harriet Gandlau berichtet von ihrem Unterrichtsprojekt »Abendmahl« in einer Förderschule, bei dem ein Kunstwerk zum Anlass wird, die Esskultur und den Gemeinschaftssinn in der Klasse gemeinsam probeweise zu verändern. Claudia Franke präsentiert ihren Versuch, in einer Gehörlosen-Schule Schülerinnen durch eine Erzählung für unsere Thematik zu sensibilisieren. Sabine Fenske versucht, dem Geheimis auf die Spur zu kommen, was Kinder, Jugendliche und Erwachsene an der »Fast-Food« und »McDonalds-(Un-)Kultur« fasziniert und was dabei auf der Strecke bleibt. Clauß Peter Sajak entschlüsselt den Kino-Film »Chocolat« als Jesusfilm unter der Fragestellung »Erlösung durch Pralinen?«. Judith Laquai geht fächerübergreifend und unterrichtspraktisch dem Phänomen der Essstörungen insbesondere bei jungen Frauen nach. Und schließlich versuchen zwei Interviews mit Roland Gaßer und Edeltraud Ulbrich die globale Verwobenheit in Ernährungsfragen bewusst zu machen. Nicht übersehen: Jede Menge Ideen in der Handbibliothek auf Seite 34!
Inhaltsverzeichnis
In diesem Heft zu lesen:
Mahl-Zeit
Zu diesem Heft
Essen und Religion
Perry Schmidt-Leukel
» ... Du deckst mir den Tisch«
Von der Handlungs- zur Wahrnehmungstheorie und zurück
Norbert Weidinger
Abendmahl
Ein Unterrichtsbeispiel mit einem Bild von Ben Willikens
Harriet Gandlau
Die Steinsuppe
Eine unverhoffte Koch- und Tischgemeinschaft
Claudia Frank
» ... hat es euch geschmecket?«
Fast-Food: Die Faszination von McDonalds & Co.
Sabine Fenske
Erlösung durch Pralinen
Lasse Hallströms Film »Chocolat« als jesus-Parabel gesehen
ClaußPeterSajak
Hunger nach Leben
Wenn Leib und Seele hungern, ist das auch
ein Thema für den Religionsunterricht
Judith Laquai
Blick über den Telterrand
Gesunde Ernährung in Deutschland und Peru - Zwei Interviews
Norbert Weidinger
ru - im Blickpunkt: Das Dreieck hinter dem Gesicht
Kirchengeschichtliche Themen fächerverbindend erschließen
Ulrich Kropac und Matthias Bahr
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