Die Zeit zieht. Sie zieht vorbei, und sie erzeugt jenes merkwürdige
Ziehen an unserem Zwerchfell, das für die Griechen der Sitz der
Seele ist. Frauen kämpfen gegen die Taten der Zeit, gegen das Altern
und Männer gegen den physischen Verfall, vor allem Dichter, Ovid
zum Beispiel, in den Metamorphosen: „Keinem bleibt seine Gestalt“.
Das Vergessen ist je nachdem ein Segen oder ein Übel, das wir bekämpfen
müssen. Zum Überleben benutzen wir im Interesse unserer
psychischen Fitness einen Filter für die Erinnerung: Die schönen
Sachen bleiben im Gedächtnis haften, besonders die hohen Momente,
die wir dann unvergesslich nennen. Sie bleiben haften, weil wir sie geheftet
haben wie Fotos an die Pinnwand, weil wir sie aufgeschrieben
haben in Tagebüchern, weil wir sie uns wie Kultfilme, die wir uns immer
wieder anschauen, vor dem inneren Auge abspulen. Dazwischen
aber die versunkenen Zeiten, in denen nichts passierte, Unzeiten, in
denen unsere Erinnerung die Tage nicht unterscheiden kann ...
So wie wir unser Gedächtnis organisieren, können wir aber auch versuchen,
Erinnerung zu töten, vergessen zu machen: „Damnatio memoriae“.
Das ist ein schweres Geschäft, wenn nicht gar unmöglich.
Wo ein Name ausgeschlagen ist, bleibt ein blinder Fleck. Wir sind weder
die Herren der Zeit noch die Regenten unseres Bewusstseins, unser
Hirn kein Computer, der rückstandsfrei löschen kann. Im Kopf gibt es
keine Taste „Delete“.
Unter den Momenten gibt es Klassiker. Es sind jene Augenblicke, zu
denen wir sagen: „Verweile doch, du bist so schön“. Doch wir leben
nicht in der Zeit, in der das Wünschen geholfen hat.
Da ist vom „Nunc stans“ der Mystiker die Rede, vom Herausfallen aus dem Kontinuum der Zeit, die Immanuel Kant eine „reine Anschauungsform“ genannt hat. Die Zeit als Koordinate unserer Wirklichkeit, im Ernst können wir aus ihr nicht heraus. Dennoch sind wir Zeitstrategen, und wir müssen es sein. Es gibt Erinnerungen, die wir um keinen Preis vergessen dürfen. Was hat Israel nicht alles unternommen, um seine Gründung im Exodus festzuhalten. Dabei ist Gott doch nur im Vorübergang im Schrecklichen wie im Herrlichen erschienen. Weil Gott nicht das Produkt unserer kontrafaktischen Fantasien, kein selbstgemachter Schein sein darf, bleibt er ein Rätsel. Ein Rätsel wie die Blutspur, die die jüdische Hausgemeinschaft am Seder-Abend zeichnet, indem der Finger in den Becher mit rotem Wein getaucht einen Fleck
auf das weiße Tischtuch setzt, zur Erinnerung an die erschlagene Erstgeburt
Ägyptens. Der Gott, der im Exodus aus dem Sklavenhaus befreit, ist
keineswegs rätsellos. Weil er vorübergeht, müssen wir uns an ihn erinnern.
Gottesrede braucht die Kunst der Anamnese.
Dr. Eckhard Nordhofen
– Dezernent –
Inhaltsverzeichnis
BEITRÄGE
Der Budenzauber der Erinnerungskultur.
Daniel Libeskind bebaut Ground Zero
August Heuser 164
Erinnern und Gedenken als Leitkategorien religiösen Lernens
Holger Dörnemann 168
UNTERRICHTSPRAXIS
Erinnerung (auf-)bauen. Architektur des Gedenkens in Berlin und New York
Ute Lonny-Platzbecker 172
Pascha und Eucharistie – jüdisches und christliches Erinnern
Thomas Menges 182
Memini ergo sum. Gedächtnis und Erinnerung im Spielfilm
Franz-Günther Weyrich 189
LITERATUR & MEDIEN
Rezensionen 195
INFOS & AKTUELLES
Zur Person 202
Neue Vorsitzende des Deutschen Katecheten-Vereins 202
„Kirche findet Stadt“ 202
Das Wesentliche finden 203
Priesterseminar Limburg ausgezeichnet 204
Kirchenführer für Muslime 204
Das neue Bibelmuseum in Frankfurt 205
Bischof ernennt Ordensschwester zur Beauftragten bei
Missbrauchsverdacht 206
Stiftung DEY 207
INFO online 208
INFO Einzelheftbestellung 209
Veranstaltungen 210
SONSTIGES
Übersicht der Autoren/-innen und Rezensenten/-innen 217
Adressen Dezernat und Ämter 218
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