Die Venus von Milo wird tagtäglich von den
Besuchern des Pariser Louvre bewundert: Eine
schlanke, fast nackte Frau, leicht zur Seite geneigt;
nur ein Gewand umspielt in vollendeter Leichtigkeit
ihre Hüften – ein wahres Kunstwerk, das gemeinhin
als Verkörperung des abendländischen Schönheitsideals
gilt. Wir sehen einen Torso, eine beschädigte
Skulptur. Der Statue fehlt aber etwas Wesentliches:
ihre Arme. Trotzdem erkennen wir in der Venus von
Milo keine behinderte junge Frau. Niemand käme
auf den Gedanken, im Fehlen der Arme ein Manko
zu sehen. Der Schönheit und Anmut dieser berühmten
Frauengestalt schadet das Fehlen ihrer Arme
nicht, ihrer Aura wird nichts genommen. Wer vor der
Schönen aus Milo steht, verstummt und ergänzt –
wie von selbst – im Kopf die fehlenden Gliedmaßen.
In der U-Bahn dagegen würde man mit ihr sehr
wahrscheinlich Mitleid empfinden.
Worin liegt der Grund für diese kulturelle Form der
Kurzsichtigkeit? Was hindert uns, im Behinderten, vor
jeder Behinderung, den unverwechselbaren Menschen,
der einfach auch schön sein darf, zu sehen? In unseren
Denk- und Sehgewohnheiten wird der behinderte
Mensch immer noch als „menschliche Minusvariante“
oder als „Montagsmodell der Schöpfung“ betrachtet,
auch wenn das bisher niemand so ungeschützt auszusprechen
wagt. Unterdessen werden Fakten geschaffen:
Erst jüngst hat der Bundesgerichtshof seine sog.
„Wrongful-life-Rechtsprechung“ um ein weiteres
Urteil „ergänzt“, nach dem Eltern Schadensersatz für
die Geburt ihres behinderten Kindes zugesprochen
wurde. Der medizinische Blick gibt die Richtung vor,
die Defizitorientierung dominiert.
Mit unserem Themenheft „Perspektivenwechsel –
Behinderung mit anderen Augen sehen“ möchten wir
einen gezielten Gegenakzent setzen, und Sie als
Leserinnen und Leser zu einem Blickwechsel
einladen, der seinen Anfang nimmt in den uns
überlieferten Begegnungen Jesu mit behinderten
Menschen. Sie weisen uns die Richtung und können
dabei helfen, neu zu sehen: Nicht wegzusehen,
hinzusehen, die Begegnung zu suchen und durch die
Begegnung die eigenen behindernden Bilder zu
wandeln. Ich hoffe, dass wir mit unserer Ausgabe
hierzu einige Anstöße geben können.
Martin W. Ramb
Schriftleiter
Inhaltsverzeichnis
Die Zeitschrift im Volltext!
Link zur online-Ausgabe von INFO 3/2002
oder als
pdf-Datei (ca. 6MB)
Aus unserem Inhalt:
Der Mensch hat nicht erte,der Mensch hat ürde /Franz Kamphaus 156
Sonderanfertigung oder Montagsmodell?
Behinderte in der Bibel /Susanne Krahe 162
Gegensichten –zur Kritik an behindernden Bildern
beschädigten Lebens /Andreas Lob-Hüdepohl 172
Beten mit dem ganzen Körper /Jochen Straub 182
Medizin-ethische Fragen am Lebensanfang /Paul Platzbecker 186
Krankheit und Behinderung im Spielfilm 197
Verlagstext
INFO ist eine religionspädagogische Fachzeitschrift für den katholischen Religionsunterricht.
INFO wird herausgegeben vom Dezernat Schule und Hochschule im Bischöflichen Ordinariat Limburg.
INFO erscheint vierteljährlich in einer Auflage von derzeit 4.200 Exemplaren.
INFO geht kostenfrei an Religionslehrerinnen und Religionslehrer, Pastorale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und Geistliche in der Diözese Limburg.
INFO kann von Interessenten zum Bezugspreis von 9,60 EUR (inklusive Versandkosten pro Jahr) abonniert werden.