Bücher wie Goethes „Faust“ oder Schillers „Wilhelm Tell“ nennt man „Klassiker“, wenn sie aus dem kollektiven Bewusstsein verschwinden. Die Bibel wird seit fast 2000 Iahren gelesen und ist offensichtlich mehr als ein „Klassiker“, sie ist ein Basisdokument unserer Kultur. Aber gilt nicht für den Religionsunterricht eher die sprichwörtliche Bezeichnung der Bibel als „dem am meisten ungelesenen Bestseller“? Sind nicht öffentlichkeitswirksame Aktionen wie ein Bibel-Lese-Marathon mit Prominenten oder die Produktion der kleinsten Bibel der Welt auf einem Nanochip Zeichen dafür, dass die Bibel es bitter nötig hat, unters Volk gebracht zu werden? Sie ist ja kein Buch wie ein Harry-Potter oder Dan-Brown-Roman, nichts wofür man mitten in der Nacht ansteht, um es möglichst schnell zu bekommen und gierig zu verschlingen. Jahrhundertelang führte die Bibel zwar die Liste der am meisten gedruckten Bücher der Welt an, nach ihrer langen Vorherrschaft musste sie diesen Rang aber 2013 an den IKEA-Katalog abgeben. Platz eins als meistverkauftes Buch der Welt hat die Bibel immerhin behalten.
Mit dem Themenschwerpunkt „Bibeldidaktik“ betritt die vorliegende RelliS-Ausgabe zerklüftetes Gelände: Denn einerseits ist die Bibel auf allen Klassenstufen zentraler Unterrichtsinhalt und niemand zweifelt an ihrem Wert als Bildungsge- genstand. Andererseits hat die Bibel mit dem Imageproblem zu kämpfen, dass sie in der Wahrnehmung der meisten Schülerinnen und Schüler ein Zeitdokument der Vergangenheit ist, das den Nerv heutiger Lebenssituationen nicht mehr trifft. Taugt sie dann also noch als Brücke, über die der Glaube in den Religionsunterricht kommt?
Angesichts der Vielzahl neuerer bibeldidaktischer Konzepte möchte ich die Frage eindeutig bejahen: Denn der Blick in die bibeldidaktische Forschung zeigt, dass es eine permanente und kreative Suchbewegung nach Orten gibt, um die Bibel mit Kindern und Jugendlichen ins Spiel zu bringen. Diese Suchbewegung bildet auch den roten Faden durch dieses Heft, das einige Schneisen in den Wald der bibeldidaktischen Konzepte zu schlagen versucht. Jedenfalls will es Ihnen, liebe Kollegin- nen und Kollegen, Lust zum eigenen Ausprobieren machen.
Die Motivation zur eigenen kreativen Suchbewegung geben zunächst die theologischen Grundsatzbeiträge, die aus interreligiöser Perspektive neben der christlichen Bibel auch die Thora und den Koran als Heilige Schriften in den Blick nehmen. Darin klärt Rabbiner David Bollag zunächst einige Grundlagen der jüdischen Schriftauslegung und Samuel Behloal fragt, Warum Christen den Koran und Muslime die Bibel lesen sollten. Mit Sophia Bietenhard betreten die deutschen Leserinnen und Leser didaktisches Neuland, indem sie vom Schweizer Modell des bekenntnisunabhängigen Religionsunterrichts ausgeht und darin den Stellenwert der Bibel verortet. Mein eigener religionspädagogischer Beitrag bündelt einen bibeldidaktischen Methodenstrauß, in dem einige aktuelle Neuansätze skizziert werden.
Der unterrichtspraktische Teil des Hefts unternimmt den Versuch, sowohl verschiedene biblische Textgattungen als auch aktuelle bibeldidaktische Ansätze miteinander zu ver- knüpfen: So setzt Andrea Paul mit ihrer Lernsequenz zu starken Frauen in der Bibel einen Akzent beim biografischen Lernen. Stephan Sigg schlägt vor, Gleichnisse mit narratologischen Mitteln zu erschließen, während Herbert Stettberger Gleichnisse in den Ansatz einer empathischen Bibeldidaktik einbettet. Von Annike Reiß stammt eine konstruktivistisch orientierte Lernsequenz zu den neutestamentlichen Wundererzählungen, ebenso liest Stefanie Lorenzen die Kindheitsgeschichten der Evangelien konstruktivistisch. Den Abschluss bildet der alttestamentliche Beitrag von Dorothee Kohl-Dietrich, die aus konflikttheoretischer Sicht neue Wege in die Erzählung von Kain und Abel bahnt. Fulbert Steffensky formuliert in der Unterbrechung eine Ode an die Bibel, seine „liebste alte Dame“. Die Flaschenpost auf dem Heftcover ist im Original an das Ufer des Bodensees gespült worden. Ich danke besonders den Schweizer Kolleginnen und Kollegen, die zur Mitarbeit am Bibeldidaktik-Heft bereit Waren, und verbinde damit die Herausgeber-Hoffnung, dass sich unsere Zeitschrift RelliS nicht nur in Deutschland, sondern auch in den Bodensee-Anrainerstaaten Österreich und Schweiz weitere Verbreitung findet. Ich Wünsche Ihnen und Ihren Schülerinnen und Schülern anregende bibeldidaktische Lernsequenzen!
Ihr Christian Cebuli
Inhaltsverzeichnis
Theologische Perspektiven
David Bollag
Die 70 Gesichter der Schrift
Was jüdische Schriftauslegung bedeutet
4
Samuel Behloul
Warum sollten Christen den Koran und Muslime die Bibel lesen?
Die Heiligen Schriften von Christentum und Islam im
„Interreligiösen Lernen“
8
Sophia Bietenhard
Die Bibel im bekenntnisunabhängigen Religionsunterricht
Erfahrungen und Modelle aus der Deutschschweiz
12
Christian Cebulj
Zwischen Identität, Empathie und Kompetenz
Zu einigen aktuellen Trends in der Bibeldidaktik
16
Unterrichtspraxis
Andrea Paul
Starke Frauen in der Bibel
Eine biografische Lernsequenz
(Jahrgänge 5/6)
20
Stephan Sigg
Nicht nur das Heute im Kopf
Ein Gleichnis in neuen Zusammenhängen verstehen
(Jahrgänge 5/6)
26
Bibeldidaktik
RelliS 4 / 2015 | © Schöningh
Annike Reiß
Für die einen ist es ein Wunder – und für mich?
Eine konstruktivistische Lernsequenz zum Thema „Wundergeschichten“
(Jahrgänge 7/8)
34
Herbert Stettberger
Samariter aus Leidenschaft
Empathisches Lernen am Beispiel von Lk 10,25 – 37
(Jahrgänge 7/8)
40
Stefanie Lorenzen
Christus – ein schwieriges Kind!?
Kindheitsgeschichten als Identitätskonstruktionen deuten
(Jahrgänge 9/10)
46
Dorothee Kohl-Dietrich
Kain und Abel als Essenz der Weltgeschichte?
Wie Gewalt menschliche Beziehungen (zer-)stört
(Jahrgänge 11/12)
52
Unterbrechung
Fulbert Steffensky
Die Bibel
Meine liebste alte Dame
32
REZENSIONEN UND MEDIENTIPPS
58
NACHRICHTEN DES BKRG
62
VORSCHAU
64