Kirche ist zwar obligatorisches Thema in allen Lehrplânen, gilt aber als schwierig, weil sich die Schülerinnen und Schüler dafür kaum begeistern lassen. Aber nicht etwa deshalb, weil sie zur Kirche in Opposition stünden, sondern eher weil Kirche für sie ohne Belang ist und in ihrer Lebenswelt kaum mehr vorkommt. Wie ist dieses zentrale Thema im Religionsunterricht dennoch mit der Lebenswelt der jungen Menschen zu verbinden? Die Sicht auf Kirche als Volk Gottes scheint uns hier geeignete Anknüpfungspunkte zu bieten und bildet daher den roten Faden des Heftes. Norbert Mette vertritt die Position, dass sich das Bild der Kirche als Volk Gottes am ehesten eigne, „heute aufwachsenden jungen Menschen das, was die Kirche von ihrer Bestimmung her ist und entsprechend sein soll, näherzubringen“ (S. 20).
Eine gelebte Form prophetischer und samaritanischer Kirche zeigt das Titelbild: Die Gemeinschaft Sant'Egidio lädt die Armen der Stadt in die römische Basilika Santa Maria in Trastevere zum Weihnachtsessen ein.
Das Bild von Kirche als Volk Gottes ist innerhalb der katholischen Kirche und Theologie eine der Wesentlichen neuen Akzentsetzungen des II. Vatikanischen Konzils. Den Weg der Erneuerung der Ekklesiologie und die wesentlichen theologischen Konsequenzen beschreibt Margit Eckholt in ihrem Beitrag. Bei aller Wertschätzung für das letzte Konzil darf man nicht aus dem Blick verlieren, dass der Begriff eine lange Tradition hat: Klaus Unterburger wirft als Historiker hierzu einen Blick in die Kirchengeschichte vor dem Hintergrund eines jahrhundertelangen Verständnisses von Kirche als einer vom Klerus bestimmten Gnadenanstalt, Daniel Krochmalnik als jüdischer Theologe auf die Bedeutung der Rede von Israel als Volk Gottes im Tanach und der jüdischen Auslegungstradition; denn ohne diese Basis ist unsere heutige Rede vom Volk Gottes nicht angemessen. Nicht zuletzt für einen konfessionell-kooperativen Religionsunterricht ist interessant, welches Bild für Kirche für die evangelische Kirche vorherrschend ist, nach Meinung des evangelischen Religionspädagogen Hartmut Rupp die Definition von Kirche als „Gemeinschaft der Gläubigen“ und das Bild der Kirche als Leib Christi. Das Bild vom Volk Gottes verdiene aber Beachtung, sofern keine Alternative zu Israel gemeint sei.
Die sichtbarste Dokumentation des geschichtlichen Wandels im Bild von Kirche dokumentieren Kirchenbauten. Natascha A. Gogol weist in ihrer Lernsequenz für die Jahrgänge 5 und 6 einen spannenden Weg, anhand von Kirchenbauten die dahinterstehende Ekklesiologie zu erarbeiten. Unter dem Titel „Das eine Volk Gottes - viele Kirchen“ finden Sie einen Beitrag von Heike Harbecke für die Jahrgänge 7 und 8, der dieses ökumenisch kontroverse Thema auch für konfessionell-kooperative Unterrichtsformen erschließt durch gemeinsames Erkunden, Erleben und Gestalten von evangelischen und katholischen Schülerinnen und Schülern.
Unter dem Titel „Quo Vadis, ecclesia?“ schlägt Günter Nagel eine Lernsequenz vor, in der der Wandel kirchlichen Selbstverständnisses zwischen dem I. und II. Vatikanischen Konzil an einer auch die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler betreffenden moraltheologischen Frage thematisiert wird; hoch aktuell durch das gerade erschienene Apostolische Schreiben „Amoris laetitia“ von Papst Franziskus mit der klaren Aussage: „Wir sind berufen, die Gewissen zu bilden, nicht aber dazu, den Anspruch zu erheben, sie zu ersetzen“ (Nr. 37). Nicht weniger aktuell ist der Zugangsweg des Beitrags von Andrea Tüllinghoff und Jens Kuthe, das Thema Kirche und den christlichen Auftrag zur Weltgestaltung unter dem Aspekt Einsatz für Flüchtlinge nicht nur theoretisch zu erarbeiten, sondern auch die Möglichkeit für die Schülerinnen und Schüler zu geben, aktiv Teil dieses Auftrages zu werden. Beide Lernsequenzen sind für die Jahrgänge 9 und 10 konzipiert.
Der interreligiöse Dialog, geführt „aus einer Haltung der Offenheit in der Wahrheit und in der Liebe“, ist „notwendige Bedingung für den Frieden in der Welt und darum Pflicht für die Christen wie auch für die anderen Religionsgemeinschaften“, so Papst Franziskus in seiner Enzyklika „Evangelii Gaudium“ (Nr. 250). Wie ist das mit dem Wahrheitsanspruch von Kirche vereinbar? Dieser Frage geht die Lernsequenz für die Sekundarstufe II von Ute Lockmann unter Einbeziehung der Komparativen Theologie nach.
Wir hoffen, Ihnen mit diesem Heft Ideen zu geben, wie Sie das sperrige Thema Kirche mit Ihren Schülerinnen und Schüler angehen können.
Ludwig Rendle, Winfried Verburg
Inhaltsverzeichnis
Editorial
1
Theologische Perspektiven
Klaus Unterburger
Verdeckte Traditionen
Die Kirche als Volk Gottes in der Theologie vor 1900
4
Margit Eckholt
Gemeinsam auf dem Weg der Nachfolge
Volk-Gottes-Gedanken im Kontext der Ekklesiologie
des Zweiten Vatikanums
6
Hartmut Rupp
Die Kirche als Volk Gottes
Evangelische Perspektiven
12
Daniel Krochmalnik
Israel – Gottesvolk
Die Idee des Gottesvolkes in der Tora und deren Auslegung
16
Norbert Mette
Barrieren bei der Behandlung des Themas „Kirche“ im Religionsunterricht
Volk-Gottes-Kirche als religionspädagogische Chance und Herausforderung 20
Unterrichtspraxis
Natascha A. Gogol
Eine Modellkirche für das Volk Gottes
Verschiedene Kirchenräume als architekturgewordene Theologie
mitentdecken und gestalten (Jahrgänge 5/6)
24
Heike Harbecke
Das eine Volk Gottes – viele Kirchen
Versöhnte Verschiedenheit und die Vision der Einheit des Volkes Gottes
(Jahrgänge 7/8)
30
Günter Nagel
Quo vadis, ecclesia?
Kirche zwischen Anpassung und Abgrenzung
(Jahrgänge 9/10)
38
Andrea Tüllinghoff/Jens Kuthe
„Du sollst den Fremden, der sich bei Euch aufhält, lieben wie
dich selbst.“ (Lev 19,34)
Gelebte Diakonia und die aktuelle Flüchtlingsfrage
(Jahrgänge 9/10)
44
Ute Lockmann
„Hat nicht jeder irgendwie Recht?“
Die Frage nach dem Anspruch auf exklusive heilshafte Erkenntnis
als Grundproblem einer Theologie der Religionen
(Qualifikationsphase)
51
Unterbrechung
Johanna Dransmann
Zum Gärtner bestimmt
32
REZENSIONEN UND AV-MEDIENTIPPS
58
NACHRICHTEN DES BKRG
62
VORSCHAU
64