Liebe Leserin, lieber Leser,
kennen Sie „CrossFit“, die hochintensive Ganzkörper-Trainingsmethode, die Elemente aus Gewichtheben, Turnen, der Gymnastik und Leichtathletik kombiniert? Keine Angst, wir wollen dieses Heft weder mit einem Plädoyer für mehr Sport noch mit einer Warnung vor dem verbreiteten Fitnesskult eröffnen. [crossfit] nennt der Künstler Hermann Gletter vielmehr seine Installation, die auf dem Titelblatt abgebildet ist. Viele Körper werden von ihm netzförmig miteinander verbunden, die sich an Händen und Füßen gegenseitig festhalten und ihre Körper in unterschiedliche Richtungen strecken. Ein genauerer Blick enthüllt jedoch sofort, dass es sich hierbei nicht um kollektives Turnen oder eine Fitnessübung handelt, sondern um unzählige Kruzifixe, die Gletter miteinander verbindet. Der Künstler, der zugleich Priester der Diözese Graz-Seckau ist, verwendet hierfür Sargkreuze, die vor der Verbrennung vom Sarg genommen und normalerweise weggeworfen werden. Hinter jedem Kreuz verbirgt sich somit ein Toter oder eine Tote. Iedes Kreuz wird in der Installation zum Teil eines Gewebes, eines Netzes, das der Künstler als [crossfit] bezeichnet, in deutlicher Anlehnung an den Fitnesstrend - aber auch in leichter orthografischer Abgrenzung. Es entsteht ein Bild- und Wortspiel, das provoziert, zu neuem Sehen herausfordert und vielleicht eine Ahnung davon vermittelt, dass Spiritualität, Glaube und Hoffnung auch etwas mit (geistiger) Übung und Training zu tun haben.
Mit diesem Heft möchten wir Sie zu einem solchen neuen Sehen herausfordern, vielleicht auch an der ein oder anderen Stelle provozieren und Ihnen und Ihren Schülerinnen und Schülern viele Anregungen geben, um mit Kunst ungewohnte Blicke auf Glaube und Leben zu erproben und zu üben.
Zwei Prinzipien haben die Auswahl der Themen und Werke geleitet, die dieses Heft aus unserer Sicht auszeichnen. Zum einen haben wir bewusst mögliche Fallstricke in den Blick ge- nommen, in denen man sich bei der Arbeit mit Kunst im Religionsunterricht verheddert (vgl. Beitrag Gärtner). Zum anderen werden Aspekte beleuchtet, die weniger Beachtung finden, so z. B. die spirituelle Bedeutung von (zeitgenössischer) Kunst (vgl. Artikel Heuser) oder milieuspezifische Unterschiede bei der Betrachtung von Kunst (vgl. Artikel Schnurr). Dass die Ar- beit mit Kunst mehr ist als eine angenehme Abwechslung von der Textarbeit (wie dies oftmals Schülerinnen und Schüler betonen) und auch mehr leisten kann als einen motivierenden Einstieg in eine Unterrichtsstunde, stellt Rita Burrichter heraus, indem sie grundlegende Prinzipien und Leitlinien einer zeitgenössischen Bilddidaktik herausarbeitet. Die Praxisbeiträge erschließen Werke und Gattungen, die in der Religionsdidaktik weniger Beachtung finden. So sensibilisiert Viera Pirker in ihrem Unterrichtsvorhaben für die theologische und ästhetische Bedeutung von Kirchenfenstern und verbindet ihre Überlegungen mit der Kirchenraumpädagogik. Kristin Konrad/Simone Horstmann bearbeiten originell an- hand von Graphic Novels die Theodizeeproblematik für die Sekundarstufe II. Eine interaktive Kunstinstallation wird von Sebastian Bialas im Horizont von Identität, Fremd- und Eigen- Wahrnehmung sowie der Gottesrede erschlossen. Die Beiträge von 'Andreas Brenne und Friederike Dorner/ Frauke Cordes widmen sich stärker der Malerei bzw. der Skulptur und initiieren handlungsorientierte und ästhetisch-praktisch orientierte Lernprozesse zu diesen Kunstwerken. Im Interview stellt der Künstler Shahid Alam seine Arbeiten mit Kalligrafie vor und berichtet von dem (religions-)pädagogischen, interreligiösen Potenzial kalligrafischer Projekte, die er in verschiedenen Schulen durchgeführt hat. Schülerinnen und Schüler lernen hier eine ganz andere Perspektive der arabischen Schrift kennen, die trotz medialer Präsenz des Islam eher unbekannt ist.
Nicht nur Einblicke in hoffentlich unbekannte Werke und didaktische Verfahren möchten wir Ihnen in diesem Heft ermöglichen, sondern Ihnen auch Orte vorstellen, an denen Sie Kunst im Religionsunterricht (neu) erleben können. Anstelle der üblichen Rubrik AV-Medien geben unterschiedliche Diözesanmuseen Einblicke in ihre Kunstsammlung und ihr kunst- bzw. museumspädagogisches Angebot. Sicherlich findet sich auch in Ihrer Nähe ein religionspädagogisch und künstlerisch bereichernder Ort, der eine Exkursion wert ist.
Wir wünschen Ihnen viel Spaß beim Lesen und Schauen
Claudia Gärtner, Christian Verburg
Inhaltsverzeichnis
Editorial
1
Theologische Perspektiven
Rita Burrichter
„Tradition heuten“
Einige Hinweise zum Kompetenzerwerb im Religionsunterricht durch den Umgang mit Bildern der Kunst
4
August Heuser
Bilder, Beten und Betrachten
Zur spirituellen Bedeutung moderner Kunst
8
Claudia Gärtner
Wird Kunst im Religionsunterricht überschätzt?
Empirische Einblicke in die Wirkung und Funktion von Kunst in religiösen Lernprozessen
12
Ansgar Schnurr
„Das sieht einfach irgendwie eklig aus!“
Milieubedingte Heterogenität in der Betrachtung von Kunstwerken
16
Unterrichtspraxis
Frauke Cordes/Friederike Dorner
Dem Gekreuzigten auf der Spur
Mit alter und zeitgenössischer Kunst über Christus sprechen
(Jahrgang 6)
20
Andreas Brenne
„Ich bin, der Ich sein werde“
Zum produktiv-gestalterischen Umgang mit Gottesbildern
(Jahrgänge 7/8)
26
Viera Pirker
Durchs Fenster in die Kirche
Kunst im Kirchenraum erschließen – kirchenraumpädagogische Inspirationen
(Jahrgänge 9/10)
34
Kristin Konrad/Simone Horstmann
„Gott ist meine Lieblings-Science-Fiction-Figur!“ (Homer Simpson)
Text-Bild-Verhältnisse im thematischen Bezug zur Theodizee erschließen
(Sek II)
40
Sebastian Bialas
write your message (with water)
Eine handlungsorientierte Lernsequenz im Museum
(Jahrgänge 11/12)
46
Shahid Alam
Kalligrafie – ein künstlerisches und interreligiöses Projekt
Ein Interview mit dem Künstler
52
Unterbrechung
Johannes Rauchenberger
Unverletzlich – Grazie durch das Gesicht
Die Granduca von Dorothee Golz
32
WAS MUSEEN BIETEN/REZENSIONEN
58
NACHRICHTEN DES BKRG
62
VORSCHAU
64