Liebe Leserinnen und Leser!
Spiritualität ist ein großes Thema. Wer sich in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskursen umschaut, wird allerorten fündig. Kaum ein Bereich ist ausgespart: ob in bildender Kunst, Musik, Film, Theater oder Literatur - Spiritualität durchdringt das Leben weit mehr, als ein erster flüchtiger Blick vermuten lässt. Auffallend ist, dass es oftmals gerade nicht die beiden großen christlichen Kirchen und deren Gemeinden sind, die mit Spiritualität unmittelbar in Verbindung gebracht werden. Irgendwie ist ihnen das Thema abhanden gekommen. „Die Mysterien/finden/im Hauptbahnhof statt“ - so Joseph Beuys im Jahre 1979.
Spiritualität als Achtsamkeit für die heilige Gegenwart Gottes ist ein marginalisiertes Thema. In den schulischen Bildungsplänen kommt das Phänomen oder die Dimension der Spiritualität kaum oder allenfalls indirekt vor. Die Gründe sind vielfältig. In aller Regel geht es im Religionsunterricht vorrangig um die Lehre. Der weite Bereich der existenziellen bzw. spirituellen Erfahrung kommt meist zu kurz. Schülerinnen und Schüler jedoch fragen danach. Als Suchende befinden sie sich gleichsam im „Vorhof der Heiden“, der unmittelbare Zugang zum verfassten Glauben oder gar zur Kirche ist ihnen aus unterschiedlichen Gründen versperrt.
Spiritualität ist (k)ein Thema für den Religionsunterricht? Mit dem vorliegenden Heft möchten wir Sie, liebe Leserinnen und Leser ermutigen, sich auf das weite Feld der Spiritualität einzulassen. Wobei wir Ihren Blick gerne auf eine bestimmte Perspektive lenken möchten. Die Coverabbildung unseres Heftes zeigt das Kunstwerk „Tragedia civile“ von Janis Kounellis (1975) aus dem Museum Kolumba in Köln, das den morbiden Charme eines banalen Kaffeehauskleiderständers zu einem goldenen, im Wechselspiel des Lichtes sich wandelnden Hintergrund in Spannung setzt; tragische Welterfahrung, wie wir sie gerade durch den Tod vieler Menschen, darunter auch vieler Schüler, bei einem Flugzeugabsturz machen müssen, vor Erfahrungen verändernder Hoffnungsperspektive durch die Gegenwart des Heiligen, uns durch Ostern eröffnet, sodass wir nicht trauern wie die anderen, die keine Hoffnung haben (1 Thess 4,13). Auf seine Weise öffnet es den Blick auf eine ganz bestimmte Lesart von Spiritualität, wie sie zum Beispiel im Leben und Wirken von Madeleine Delbrêl (1904- 1964) zum Ausdruck kommt. Spiritualität ist ein Prozess, eine Suchbewegung, welche die Ge- genwart der göttlichen Wirklichkeit in der Welt radikal ernst nimmt. Es gilt, Gott in allen Dingen, und seien sie noch so alltäglich oder banal, zu suchen.
Damit ist ein existenziell (auch religionspädagogisch) herausfordernder Perspektivenwechsel verbunden. Welche Situation auch immer wir in den Blick nehmen: Gott ist immer schon da. Nicht dass wir den Glauben geschweige denn Gott irgendwohin brächten. Vielmehr ist es Gottes heilige Gegenwart, die in jedweder Situation auf uns wartet, uns anspricht und uns etwas sagen will. Für den Religionsunterricht bedeutet das: Es kommt nicht darauf an eine Botschaft zu Verkünden. Wichtig ist es, den Anspruch zu hören, der aus der je gegebenen Situation an uns ergeht. Damit geht eine religionsdidaktische Umkehr einher: von der Belehrung zum Lernen, von den (vermeintlichen) Antworten, die wir geben, zu den Fragen, die wir gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern bedenken. Auf diese Weise - im Modus des Diskurses - wird das Evangelium kommuniziert.
Liebe Leserinnen, liebe Leser, die theologischen und unterrichtspraktischen Beiträge unseres Heftes folgen dieser Hermeneutik. Wir würden uns freuen, wenn Sie sich das Anliegen der spirituellen Suchbewegung zu eigen und gemeinsam mit Ihren Schülerinnen und Schülern auf den Weg machen Wür- den, ohne Landkarte, ganz im Sinne von Madeleine Delbrêlz „Geht in euren Tag hinaus ohne vorgefasste Ideen, ohne die Erwartung von Müdigkeit, ohne Plan von Gott, ohne Bescheidwissen über ihn, ohne Enthusiasmus, ohne Bibliothek - geht so auf die Begegnung mit ihm zu. Brecht auf ohne Landkarte - Und wisst, dass Gott unterwegs zu finden ist, und nicht erst am Ziel. Versucht nicht, ihn nach Originalrezepten zu finden, sondern lasst euch von ihm finden in der Armut eines banalen Lebens“.
Wolfgang Michalke-Leicht und Winfried Verburg
Inhaltsverzeichnis
Editorial 1
Theologische Perspektiven
Simon Peng-Keller
Achtsamkeit als spiritueller Leitbegriff
Annäherungen aus spiritualitätsgeschichtlicher
und theologischer Perspektive 4
Bernhard Stappel
Gott ist gegenwärtig
Via integralis – Kontemplation als interreligiöser Dialog 8
Irene Leicht/Wolfgang Michalke-Leicht
Spirituelle Erfahrungen
Ein interkonfessioneller Dialog 12
Stefan Schneider
Die Bedeutung von Sport und Bewegung für die Leib-Seele-Einheit im 21. Jahrhundert 16
Jan Woppowa
Ein besonderer Modus der Weltbegegnung?
Spirituelle Bildung und spirituelles Lernen in der Schule 20
Unterrichtspraxis
Dorothee Herborn
„Und alle sprechen doch mit Gott, oder?“
Spirituelles Lernen am Beispiel der Gebetspraxis von Juden, Christen
und Muslimen (Jahrgänge 5/6) 24
Michaela Maas/Ulrich Oettel
Francesco e Chiara di Assisi
Die unbedingte Suche – oder: Zwei Lebenswege gegen die Zeit
(Jahrgänge 7/8) 30
Christian Adolf
Gottes Spuren in der Stadt
Eine spirituelle Expedition in Bremen
(Jahrgänge 9/10) 38
Wolfgang Michalke-Leicht
In der Ruhe liegt die Kraft
Ein Meditationsprojekt
(Jahrgänge 9 – 12) 42
Michael Längle
„Ich sehe was, was du nicht siehst ...“
Kunst als Fenster zur Transzendenz
(Jahrgänge 10 – 12) 46
Veronika Krenzel-Zingerle/Christa Prior
Seminarfach „Spiritualität“
Eine eigene Spiritualität entwickeln im Kontext christlicher Tradition
(Jahrgänge 11/12) 54
Unterbrechung
Andrea Schwarz
Das Herz und mein altes Auto 32
REZENSIONEN UND AV-MEDIENTIPPS 58
NACHRICHTEN DES BKRG 62
VORSCHAU 64