Bei der diesjährigen Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) im Frühjahr kritisierte dessen Präsident Alois Glück eine Tabuisierung von Sexualität in der Kirche. Über die Thematik müsse offen gesprochen Werden, doch es gebe in dieser Frage ein Klima der Angst und Unehrlichkeit. Diese Verkrampfungen gelte es aufzubrechen. Die meisten Katholiken beachteten nicht das kirchliche Verbot von Verhütungsmitteln, betonte der ZdK-Präsident. Maßgeblich müsse eine verantwortete Gewissensentscheidung sein, Wie sie in der „Königsteiner Erklärung“ der deutschen Bischöfe aus dem Iahr 1968 zum Ausdruck komme. Die dort beschriebene Offenheit sei in den vergangenen Iahrzehnten zurückgedreht worden. Zugleich betonte Glück, es gehe nicht um Belie- bigkeit im Bereich der Sexualität, sondern um Achtung vor dem Partner.
Was der ZdK-Präsident beschreibt, gilt auch für den Religionsunterricht: Das Thema macht Angst. Die Spannung zwischen den kirchlichen Positionen in der Sexualmoral und der gelebten Wirklichkeit der Schülerinnen und Schüler und deren Eltern ist so groß, dass viele Lehrerinnen und Lehrer kaum Möglichkeiten sehen, die Positionen im RU in eine fruchtbare Spannung zu bringen; zudem haben die in den letzten Jahren bekannt gewordenen Missbrauchsfälle - und zwar die Tatbestände, nicht ihr Bekanntwerden - zu einem weiteren Autoritätsverlust der katholischen Kirche geführt.
Dennoch: Mit diesem Heft möchten wir Ihnen, liebe Religionslehrerinnen und -lehrer, Mut machen und Wege aufzeigen, das Thema Sexualität in Ihrem Religionsunterricht auf zurufen. Denn die jungen Menschen suchen Orientierung, wie sie ihre Sexualität verantwortlich und beglückend leben können: So unbekannte Wesen sind die Schülerinnen und Schüler nicht, wie Sie dem Beitrag von Stefan Gärtner zum Sexualverhalten von Kindern und Jugendlichen entnehmen können. Die Botschaft der Bibel und der Kirche bieten viel Erfahrungs- und Orientierungswissen dazu, vielleicht gerade weil beide Quellen auch um missglückte und um missbrauchte Sexualität wissen: Die biblischen Erfahrungen beschreibt Yvonne Sophie Thöne, die lehramtliche Perspektive beleuchtet Stephan Goertz, aus religionspädagogischer Sicht begründet Stephan Leimgruber eine jugendsensible und menschengerechte christliche Sexualpädagogik. Zu Beginn des Praxisteils plädiert Barbara Ortland für Dif- ferenzsensibilität im RU; Überlegungen, die Sie unbedingt lesen und reflektieren sollten, bevor Sie Sexualität als Unterrichtsthema in inklusiven Religionsgruppen behandeln wollen. Die Lernsequenz beleuchtet das Thema Sexualität aus verschiedenen Perspektiven: Hendrik Höings Vorschlag thematisiert noch nicht Sexualität, legt aber die Basis für den Erwerb grundlegender Kompetenzen, auf denen eine gelingende Partnerschaft beruht. Zur Befassung mit der oft angenomme- nen Körper- und Lustfeindlichkeit von Christentum und Islam regt die Lernsequenz von Annett Abdel-Rahman und Nicol Gutenschwager-Krause an. Virtuelle Lebenswelten Ihrer Schü- lerinnen und Schüler nimmt der Unterrichtsvorschlag von Jürgen Pelzer auf: Der Kurzfilm „Sight“, den Sie auf der CD finden, führt die Konsequenzen eines Dates mit Dating-App vor Augen und regt so an, mit Ihrer Lerngruppe darüber zu reflektieren, wie die Technisierung Beziehungen beeinflusst. Gender - Sex - kulturelle Produkte oder Schöpfungsrealitäten? Geschlechterrollenklischees versus Jesu Zusage des Lebens konfrontiert Heike Harbecke in ihrer Lernsequenz für die Qualifikationsphase. Die Unterrichtsreihe von Kristin Konrad regt zu einer fundierten und differenzierten Sicht der kirchlichen Sexuallehre an. Die eingangs beschriebene Spannung zwischen dem Sexualverhalten der Katholiken, nicht nur der jungen im RU, und der Lehre der Kirche wird hier nicht aufgelöst, sondern in eine fruchtbare Spannung zueinander gesetzt, die freilich ohne intellektuelle Mühe nicht zu erreichen ist. Zu dieser Lernsequenz gehört auch die Befassung mit der 45 Jahre alten „Königsteiner Erklärung“ der Bischöfe, auf die der ZdK-Präsident Alois Glück sich in seinem Statement beruft.
Liebe Religionslehrerinnen und -lehrer, wir hoffen, Ihnen damit Anregungen zu bieten, in Ihrem Religionsunterricht Raum zu geben, in dem junge Menschen sich sensibel, offen und theologisch fundiert mit Sexualität und Partnerschaft auseinandersetzen können.
Ihre
Claudia Gärtner und Winfried Verburg
Inhaltsverzeichnis
Editorial 1
Theologische Perspektiven
Yvonne Sophie Thöne
Liebe, Lust und Macht
Sexualität in der Bibel 4
Stephan Goertz
Die Sexualmoral der Katholischen Kirche
Über lehramtliche Selbstblockaden und ihre mögliche Auflösung 9
Stefan Gärtner
Deine SchülerInnen, die unbekannten Wesen
Zum Sexualverhalten von Kindern und Jugendlichen 12
Stephan Leimgruber
Was macht eine christliche Sexualpädagogik aus?
Leitlinien einer zukunftsfähigen Sexualpädagogik 16
Unterrichtspraxis
Barbara Ortland
„Manchmal fragen mich die Leute, wie ich Sex mache ...“
Sexualität als Unterrichtsthema in inklusiven Lerngruppen
(jahrgangsübergreifend) 20
Hendrik Höing
Verantwortung lernen in Beziehung
Gemeinsam Nachdenken über (Freundschafts-)Beziehungen
(Jahrgang 5/6) 26
Annett Abdel-Rahman/Nicol Gutenschwager-Krause
Körperfeindlichkeit in Bibel und Koran?
Eine kritische Spurensuche
(Jahrgang 7/8) 34
Jürgen Pelzer
Sight. Zwischen Macht, Spiel und Kontrolle
Ein Kurzfilm über Sexualität und Partnerschaft 2.0
(Jahrgang 8/9) 40
Heike Harbecke
Leben in Fülle
(Geschlechts-)Identitäten in Vielfalt
(Jahrgang 9) 44
Kristin Konrad
„Was die Kirche über Sex denkt, ist doch eh klar.“
Zum Verhältnis von persönlicher Orientierung bei Jugendlichen
und kirchlicher Sexuallehre
(Jahrgang 11/12; Qualifikationsphase) 51
Unterbrechung
Lena Rehring
Körper, Geschlecht und Identität
Überlegungen zum Werk
Untitled
(Torso) von Robert Gober 32
REZENSIONEN UND AV-MEDIENTIPPS 58
NACHRICHTEN DES BKRG 62
VORSCHAU 64