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Pluralismus und Zivilgesellschaft
Interkulturelle Pädagogik in modernen Einwanderungsgesellschaften. Kanada – Frankreich – Deutschland
Ghodsi Hejazi
Transcript
EAN: 9783837611984 (ISBN: 3-8376-1198-1)
374 Seiten, paperback, 15 x 23cm, 2009
EUR 29,80 alle Angaben ohne Gewähr
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Umschlagtext
Moderne westliche Gesellschaften versprechen Teilhabe an Bildung, Wohlstand und Politik. Sind die Herausforderungen einer zunehmenden ethnischen und religiösen Pluralität der Bevölkerungen mit herkömmlichen Mustern staatlichen Handelns zu lösen? Wie stellen sich die Bildungssysteme Kanadas, Frankreichs und Deutschlands der Integrationsaufgabe?
Ghodsi Hejazi verortet ihre Analyse der gegenwärtigen Realität und Chancen der interkulturellen Pädagogik in einem breiten sozialtheoretischen und -historischen Kontext. Die kritische Studie stellt dabei nicht nur die zugrunde liegenden tradierten Nationalitätskonzepte vor, sondern zeigt zugleich die Ambivalenz der unterschiedlichen Begriffe von Zivilgesellschaft auf.
Ghodsi Hejazi (Dr. phil.) lehrt am Fachbereich Erziehungswissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt/M. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Bürgertumsforschung und Migration.
Rezension
Die zunehmende Multikulturalität der modernen westlichen Gesellschaften nötigt immer stärker zu einer interkulturellen Pädagogik. Diese internationale Vergleichsstudie stellt exemplarisch an den Ländern Kanada, Frankreich und Deutschland die Frage: Wie stellen sich die Bildungssysteme Kanadas, Frankreichs und Deutschlands der Integrationsaufgabe? Sind die Herausforderungen einer zunehmenden ethnischen und religiösen Pluralität der Bevölkerungen mit herkömmlichen Mustern staatlichen Handelns zu lösen? Exemplarisch steht dabei die Frage nach der Integration von Muslimen in die Gesellschaften im Vordergrund sowie die Frage nach dem Schulsystem und der interkulturellen Pädagogik als Pädagogik zwischen Differenz und Assimilation.
Dieter Bach, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Schlagworte:
Migration, Integration, Interkulturelle Pädagogik, Zivilgesellschaft, Nationalitätskonzept
Adressaten:
Erziehungswissenschaft, Migrationsforschung
Reihe "Pädagogik":
Editorial
Bildung und Erziehung sind - trotz wechselnder Problemlagen - ein konstantes Thema in Wissenschaft und Öffentlichkeit. Die Erziehungswissenschaft erweist sich in dieser Situation zugleich als Adressat, Stimulanz und Sensorium verschiedenster Debatten, die ins Zentrum sozialwissenschaftlicher und gesellschaftspolitischer Fragen zielen. Die Reihe Pädagogik stellt einen editorischen Ort zur Verfügung, an dem innovative Perspektiven auf aktuelle Fragen zu Bildung und Erziehung verhandelt werden.
Inhaltsverzeichnis
Einführung 11
Was ist eine „moderne Gesellschaft“? 25
Bildung – ein unmöglicher Begriff 32
Das moderne Bildungssystem 37
Die bürgerlich-moderne Gesellschaft des Okzidents 39
Vorbemerkungen 39
Bürgertum, Bürgerlichkeit, Bürgerliche Gesellschaft 39
Der Zusammenhang zwischen Bürgertum und Moderne als Problem der Sozialwissenschaft 41
Das Konzept der „bürgerlichen Gesellschaft“ 46
Entstehung des Bürgertums 48
Die Kultur der Moderne 52
Bürgerliche Kultur 53
Der bourgeois – der bürgerliche Habitus 58
Der citoyen – der politische Bürger 65
Das Individuum der Moderne 67
Rationalisierung der Weltbilder 67
Individualisierung und Vergemeinschaftung 69
Die Kritik der Moderne 73
Moderne und Bürgerlichkeit als Programm und Ideologie 74
Freiheitsverlust 77
Sinnkrise und Entfremdung 78
Moderne und Gegenmoderne 81
Die Transformation der bürgerlichen Gesellschaft – postmoderne Herausforderungen 83
Differenzierung der Mittelschichten oder die Auflösung des Bürgertums 83
Von der klassischen zur (Post-)Moderne 86
Identitätsgestaltung in der „fluiden“ Gesellschaft 88
Chancen und Risiken moderner Identitätskonstrukte 90
Exkurs: Identitätsgestaltung von Muslimen 95
Das Konzept der Zivilgesellschaft 100
Die Bildung in der modernen Gesellschaft 107
Bürgerliches Bildungsideal 107
Bildungswirklichkeit und Bildungsbürgertum in Deutschland 111
Strukturen des Bildungssystems 113
Die Funktionen des Bildungssystems 115
Die Selektivität von Bildungsabschlüssen 118
Zusammenfassung 119
Zivilgesellschaft als neues Etikett? 119
Moderne Gesellschaft – quo vadis? 121
Das kanadische Mosaik – Einheit in der Vielfalt 125
Überblick: Der Staat Kanada als historische Konstruktion 126
Kanada – Eroberungs- und Einwanderungsland 128
Die Entstehung Kanadas 128
Nation-Building 130
Die Sonderrolle Quebecs 132
Von der dichotomen zur pluralistischen Identität 133
Einwanderungspolitik – die Entstehung der kanadischen Bevölkerung 134
Transformation und Krise der 60er-Jahre 137
Ethnische Zusammensetzung der kanadischen Bevölkerung 139
Kanada: Multiculturalism, multiculturalité 144
Im Zeichen des Multikulturalismus 144
Neubestimmung – Multikulturalismuspolitik 148
Die Struktur des kanadischen Multikulturalismus 152
Herausforderungen für den kanadischen Multikulturalismus 157
Interkulturelle Erziehung in Kanada 159
Facetten des kanadischen Multikulturalismus heute 159
Die kanadische Multikulturalismuspolitik als gesellschaftliche Bewegung 160
Interkulturelle Pädagogik in Kanada: spezifische Herausforderungen 161
Das kanadische Schulsystem 165
Methoden und Projekte Interkultureller Erziehung 171
Muslime und der Islam in Kanada 174
Muslime in Kanada 174
Fazit 178
Frankreich – im Schatten der Republik 183
Überblick 184
Frankreich – Der gefühlte Niedergang einer großen Nation 187
Nation und Republik 187
Exkurs zu Frankreichs Bedeutung für die moderne Staatsentwicklung 191
Frankreichs Moderne 193
Einwanderungsgeschichte 196
Die Krise des französischen Modells 198
Exkurs: Das Leben in den rouge cités – die Banlieue 200
Sozialisationsagentur Schule 205
Organisation des Schulunterrichts 206
Pädagogik zwischen Differenz und Assimilation – die Quadratur des Kreises 211
Interkulturelle Erziehung in Frankreich? 214
Antirassistische Schulpädagogik 216
Die Persistenz sozialer Ungleichheit 218
Muslime und der Islam in Frankreich 222
Dimensionen eines Konflikts 222
Reislamisierung versus Islam à la française 225
Die Auseinandersetzung um den französischen Islam: Kopftücher, Imame und Laizismus 228
Fazit 231
Deutschland – das verkannte Einwanderungsland 237
Die verspätete Nation 238
Der lange Weg zum deutschen Nationalstaat 238
Die schwierige Suche einer deutschen Identität 240
Der übersteigerte Nationalismus 240
Die Berliner Republik und die „deutsche Leitkultur“ 243
Die Deutschen und das Fremde 246
Einwanderungsgeschichte 249
Das Schulsystem – Gleichheitsfiktion und soziale Selektivität 254
Die Struktur des deutschen Schulsystems 254
Soziale Herkunft und Bildungserfolg 256
Auf dem Weg zur Anerkennung von Heterogenität – Schulunterricht und Schulpädagogik 261
Unterrichtsgestaltung 262
Ausländerpädagogik – zwischen Schulpädagogik und Bildungspolitik 265
Interkulturelle Erziehung in Deutschland 268
Entwicklung der Interkulturellen Pädagogik im Fokus von Wissenschaft und Gesellschaft 269
Fremdheit als theoretischer Bezugsrahmen für Interkulturelle Pädagogik 273
Der Kulturbegriff als theoretischer Bezugsrahmen für Interkulturelle Pädagogik 274
Praxis Interkultureller Erziehung 280
Ziele Interkultureller Erziehung 281
Methodenportfolio Interkultureller Erziehung 285
Diskussion 288
Zusammenfassung des wissenschaftlichen Diskurses 288
Die PISA-„Katastrophe“ und Wege aus dem Dilemma unter
Berücksichtigung des Beitrags Interkultureller Erziehung 290
Zentrale Punkte einer neuen Bildungspolitik 292
Bildungsstrategien 293
Grenzen Interkultureller Pädagogik 295
Die muslimische Minderheit in Deutschland 297
Parallelgesellschaften? 297
Zwischen türkischer und deutscher Identität 301
Der Islam in Deutschland 304
Islamunterricht in Deutschland 309
Fazit 313
Resümee und Ausblick 315
Bildung/Migration/Bürgergesellschaft heute – die Wirksamkeit bürgerlicher Traditionen 315
Versuch einer typologischen Zusammenfassung 315
Problemkonstellationen und Problemwahrnehmung 317
Ist Interkulturelle Erziehung die Lösung? 318
Muslime und Bürgergesellschaft 322
Wie kann Bildung in einer modernen bürgerlichen Gesellschaft aussehen? 323
Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 329
Anhang 331
Literatur 339
Onlinequellen 373
Einführung
Zivilgesellschaft“, „Migration“ und „Bildung“ sind als vieldeutige Begriffe und
Konzepte derzeit in wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Debatten
allgegenwärtig. Mit dem und durch den Begriff der Zivilgesellschaft wird insbesondere
seit den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts mehr oder weniger
appellativ an die alte Wertebasis der bürgerlichen Gesellschaft erinnert, wird dem
Individuum in seinen sozialen Bezügen und seinen Vereinigungen eine besondere
Bedeutung bei der Regelung gesellschaftlicher Angelegenheiten zugesprochen.
Nicht nur der Staat und seine Institutionen sowie die Wirtschaft würden
künftige Entwicklung garantieren, sondern eine lebendige Demokratie sei auf das
Handeln selbstbewusster, kreativer Bürger angewiesen.
Der Begriff der Zivilgesellschaft aktualisiert das Konzept der bürgerlichen
Gesellschaft, spitzt dessen demokratische Implikate zu und unterstellt die Anerkennung
des Anderen. Er signalisiert, dass sich westliche Gesellschaften in den
letzten Jahrzehnten vor eine Reihe neuer Probleme und Herausforderungen gestellt
sehen, die sich im Rahmen traditioneller Muster staatlichen und wirtschaftlichen
Handelns nicht mehr lösen lassen. Es sind also besondere, neue gesellschaftliche
Bedingungen, auf die der Begriff zu reagieren scheint.
Migration stellt für Gesellschaften eine solche Herausforderung dar, wenn sie
in einem nicht unerheblichen Ausmaß erfolgt. Sie kann das Problem der wirtschaftlichen
Integration der Migranten in die Volkswirtschaft zur Folge haben
und das politische Problem der sozialen Eingliederung in die Aufnahmegesellschaft
sowie eine Integration in die gesellschaftlichen Solidarsysteme erschweren.
Der letzte Aspekt ist von besonderer Relevanz, und auch hier zeigt sich die
Verknüpfung zum Diskurs um die Zivilgesellschaft, wenn eine Vielzahl der Migranten
aus Kulturen stammt, die eben keinen oder einen nur sehr begrenzten
Anteil an der westlichen kulturellen Tradition um „bürgerliche Gesellschaft“ und
„Zivilgesellschaft“ haben. Integrations- und Anpassungsprobleme sind hier zu
erwarten, da Migranten und Aufnahmegesellschaft mehr oder weniger stark voneinander
abweichende normative Vorstellungen von gesellschaftlicher Ordnung
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haben (bspw. auf das Verhältnis der Geschlechter, der Rolle der Religion im Alltag,
bezogen auf Bildung und Arbeit).
„Bildung“ im Sinne von Schulbildung, Ausbildung und politischer Bildung
(wobei Letzteres nur eine analytische Trennung ist, denn sie ist in allen Bildungsgängen
explizit oder implizit enthalten) kann als Scharnier angesehen werden,
welches die zivilgesellschaftliche Realität westlicher Gesellschaften und die
verschiedenen kulturellen Hintergründe und Differenzen der Migranten zusammenfügen
soll. Denn Bildung impliziert an sich das Vertrautmachen mit Fremden
und leistet zugleich die Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt. Sie weist über Abschlüsse
und über die Stellung im Erwerbsleben, welche eng mit dem erreichten
Bildungsniveau zusammenhängt, den Individuen gesellschaftliche Positionen zu
und bestimmt damit wesentlich die wirtschaftliche Integration und Versorgung
der Migranten und ihrer Nachkommen. Und von Bildung (im weitesten Sinne als
Teilhabe/Akkulturation an der Kultur der Mehrheitsgesellschaft) wird auch das
Überbrücken kultureller wie sozialer Differenzen zugunsten des Gefühls der Zugehörigkeit
und der Loyalität zu einer Gesellschaft erhofft. Bildungsinhalte dienen
daher der Vermittlung der für Alltag, Wirtschaft und Erwerbsarbeit notwendigen
Kenntnisse, wie auch der zentralen kulturellen Wissensbestände westlicher
Kulturen. Das Bildungs- und Erziehungssystem stellt durch seine hochgradige
Differenzierung eine zentrale sozialstrukturelle Selektions- und Zuweisungsinstanz
eben auch für Migranten dar. Die Teilhabe an Schul- und Berufsausbildung
und der individuelle Erfolg in Bildungssystemen sind daher für die Integration
von Migranten von zentraler Bedeutung.
Innerhalb dieses Spannungsfeldes ist auch die vorliegende Arbeit angelegt.
Sie leistet einen Beitrag zu zwei großen Forschungsbereichen: zur Bürgertumsforschung
einerseits und zur Migrationsforschung andererseits, kombiniert dabei
unterschiedliche Denk- und Theorietraditionen zum Konzept des Bürgerlichen
und verbindet sie mit system- und handlungstheoretischen Gesichtspunkten. Sie
nimmt gesellschaftliche (bürgerliche) Akteursgruppen und die Eigenlogik von
gesellschaftlichen Teilbereichen in den Blick. Westliche Gesellschaften sind gegenwärtig
einem hohen Migrationsdruck ausgesetzt, und zumindest die hier untersuchten
Länder haben bereits eine mehr oder weniger lange Tradition als Einwanderungsländer.
Die Zuwanderung ist dabei kein quasi „naturgesetzlicher“
Vorgang, sondern Gegenstand heftiger gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen
in den jeweiligen Gesellschaften, in denen um die Notwendigkeit über
das Ausmaß sowie die „Qualität“ der zuzulassenden Migration gestritten wurde
und wird. Migration ist meist staatlich reglementiert, folgte und folgt neben humanitären
primär ökonomischen Interessen und Überlegungen. Diese Motivlage
bildet den Hintergrund, denn es geht in dieser Studie nicht um die konkreten politischen
Auseinandersetzungen um Zuwanderung und Ausländergesetzgebung in
den westlichen Gesellschaften. Vielmehr soll die generelle Behandlung von
Fremden, abzulesen an dem sozial-kulturellen und politischen Ordnungsgefüge –
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aber vor allem an den Bildungssystemen und an der pädagogisch-kul-turellen
Pluralität der jeweiligen Gesellschaft – analysiert werden. Dieser Zugang bietet
den Vorteil, konkretes Handeln in den Blick zu nehmen, das stellvertretend für
die gesamte Gesellschaft angesehen werden kann, da eben alle Zuwanderer davon
betroffen waren und sind, wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß. Die
Betrachtung der realen Auswirkungen bildungspolitischer Entscheidungen ist in
diesem Zusammenhang wichtiger als die Analyse unterschiedlicher innergesellschaftlicher
Interessenskonstellationen und Meinungsbildungen.
Die Untersuchung wird ebenso historisch wie auch auf die gegenwärtige Situation
gerichtet sein, denn das eigentliche Erkenntnisinteresse dieser Studie liegt
auf dem Zusammenhang zwischen der historisch-kulturellen Tradition eines
Landes und der jeweilig politisch-gesellschaftlichen Umgangsweise, insbesondere
mit Migranten aus fremden Kulturen, in erster Linie muslimischer Herkunft.
Es liegt die These zugrunde, dass jenes Selbstbild, welches Mitglieder von ihrer
Gesellschaft, ihrem Land als Ganzes haben, dem sie sich zugehörig fühlen, dass
jene Form von kollektiver Identität einerseits bestehende historische Wurzeln
hat, konkret im Entstehungsprozess des Nationalstaats selbst verwurzelt ist, und
gleichzeitig die Möglichkeiten und Grenzen des praktischen Umgangs mit
Fremdheit (und daher mit Migranten) bereits absteckt. Dabei wäre es unangemessen,
einen direkten Zusammenhang zwischen der Formierung von Nationalstaaten
und Nationalitätsbildern im 19. Jahrhundert und der gegenwärtigen Politik
gegenüber Migranten zu postulieren. Vielmehr soll gezeigt werden, welchen
Einfluss Ersteres auf Letzteres hatte; inwieweit dieser sich auch heute noch nachzeichnen
lässt und welche Transformationen ein gesellschaftliches Selbstbild –
als nationale Identität – und Migrationspolitik jeweils durchlaufen haben. Dies
wird im engeren Sinne Gegenstand der Länderstudien sein. Diese werden dabei
jeweils drei Teile haben: die idealtypische Darstellung der Nationalstaatsentwicklung
und die Genese nationaler Identität, dann die Ausländer- und Zuwanderungspolitik
und schließlich die Bildungspolitik und Bildungswirklichkeit, an der
sich besonders gut ablesen lässt, wie der Anwesenheit großer Gruppen von Einwanderern
gesellschaftlich Rechnung getragen wird.
Die detaillierten Länderstudien stehen unter einer übergeordneten Problemperspektive,
denn mit der vorliegenden Arbeit soll das generelle Verhältnis moderner
westlicher Gesellschaften zu kultureller Fremdheit in Gestalt von Migration
untersucht werden. Die Moderne – als historische Epoche wie als Gesellschaftstypus
mit entsprechender Kultur –, wie sie sich im ausgehenden 18. und
dann im 19. Jahrhundert in (West-)Europa und Nordamerika durchgesetzt hat,
zeigte von Beginn an das Selbstbewusstsein der Überlegenheit von Marktwirtschaft
und Demokratie als die grundlegenden gesellschaftlichen Ordnungsprinzipien.
Und auch wenn in modernen Gesellschaften selbst starke Gegenkräfte entstanden
sind, ist dieses bürgerliche Selbstbewusstsein in der Popularität und der
politischen Verwendungsweise des Konzepts einer Zivilgesellschaft heute deut14
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lich sichtbar. Meines Erachtens wird mit ihm als Kritikformel – anfangs befördert
durch die osteuropäischen Bürgerrechtsbewegungen – ein normativer Anspruch
an die Mitglieder aller anderen Kulturen formuliert: die Aufforderung zur
Anpassung und Übernahme westlicher politischer Normen aufgrund deren „offensichtlicher“
historischer Überlegenheit gegenüber allen anderen Formen gesellschaftlicher
Organisation. Im gegenwärtigen Diskurs um Zivilgesellschaft
schwingt die Hoffnung auf deren Problemlösungspotenzial und deren integrative
Wirkung mit. Betont wird von einigen ihrer Vertreter, wie stark dies als normatives
Ordnungsmodell in der Tradition westlicher, d. h. europäischer Geschichte
stehe; eine Tradition, die letztlich bis in die Antike reiche, das Christentum mit
einschließe, ihre wesentlichen Prägungen jedoch in der Frühen Neuzeit und dem
Beginn der Moderne mit und in der Aufklärung erhalten habe.
Mit der historisch-soziologischen Analyse der Genese westlicher Gesellschaften
(strukturell wie kulturell) soll die doppelte Selektivität deutlich gemacht
werden. Selektiv zum einen in ihrer Begrenztheit eben auf die westlichen Kulturen.
Hier vertrete ich die These, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass
jedem Migranten die Integration in demokratische, westliche Gesellschaften gelingen
muss, sondern dass kulturelle Unterschiede eine zu erwartende Barriere
darstellen und den Migranten als Defizit zugeschrieben werden. Ganz zentral ist
dabei, dass sich Integrationsschwierigkeiten primär nicht an der wirtschaftlichen,
politischen oder gesellschaftlichen Grundordnung entzünden, sondern an den
spezifisch kulturellen Ausprägungen des lebensweltlichen Alltags mit all seinen
kulturellen Selbstverständlichkeiten (Umgangsformen, Alltagskultur, Hochkultur,
Geselligkeitsstile, Religiosität). Kann man für die politische Staatsform einer
Demokratie noch eine gewisse normative Leitfunktion anerkennen, gilt dies für
die Alltagskultur – die trotz aller inneren Differenziertheit in Schichten und Milieus
eine gewisse kulturelle Grundstruktur hat – in keinster Weise. In diesem
Sinne sind moderne Gesellschaften immer spezifisch, historisch, kontingent und
nicht per se in irgendeiner Form anderen Gesellschaften überlegen, auch wenn
sie diesen Anspruch erheben.
Moderne westliche Gesellschaften sind aber auch in sozialer Hinsicht selektiv,
wenngleich sie sich selbst eine universalistische Inklusionsfunktion auf der
Basis allgemeiner Bürgerrechte zuschreiben. De jure sind diese Ansprüche auch
erfüllt, denn demokratische Gesellschaften inkludieren über das Staatsbürgerrecht
zunächst tatsächlich alle erwachsenen Bürger eines Landes. Hier wird bereits
deutlich, wie Migranten mittels Verweigerung oder Erschwerung der staatsbürgerschaftliche
Partizipation dennoch rechtlich ausgegrenzt werden können;
wichtiger ist hier die soziale Ausgrenzung aus der Gesellschaft, denn die tatsächliche
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben beruht weniger auf den rechtlichen
Bestimmungen als vielmehr auf der Verfügbarkeit von ökonomischem, sozialem
und kulturellem Kapital (Bourdieu). Davon betroffen sind also primär ärmere
Haushalte mit niedrigem Bildungsniveau.
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Anhand der Theorien soziologischer Klassiker (Elias, Simmel, Weber) werde
ich die Entwicklungsbetrachtung der Moderne in Europa nachzeichnen. Der Fokus
liegt dabei auf dem inneren Widerspruch zwischen universalistischem Geltungsanspruch
und Inklusionsversprechen sowie deren selektiver Umsetzung, der
diesen modernen Gesellschaften eingeschriebenen ist. Die historische, bis in die
Frühe Neuzeit zurückreichende Analyse mit der Konzentration auf die Entstehung
des Bürgertums als sozialer und letztlich politisch bestimmender Bevölkerungsgruppierung
stellt diesen trotz aller Gleichheitsversprechen und Inklusionschancen
letztlich exklusiven Charakter westlicher Gesellschaften heraus und
kann zeigen, welche Ideologien seitens der herrschenden Klassen entwickelt
wurden, um den Widerspruch zwischen Inklusionszusagen und tatsächlichen Inklusionschancen
nicht zu sozialem Zündstoff werden zu lassen. Auch auf wissenschaftlichem
Gebiet hat diese Antinomie weitreichende Kritik und Gegnerschaft
zur Moderne selbst hervorgebracht (bspw. Sozialismus); zeigt sich auch die moderne
Kultur als in sich grundsätzlich ambivalent und oszilliert zwischen Anspruch
und Wirklichkeit (eine Differenz, die politisch bearbeitet werden kann,
grundsätzlich aber ausgehalten werden muss). Die moderne bürgerliche Gesellschaft
hat sich zur irreduziblen Vielfalt, zu großer Unterschiedlichkeit der Handlungsformen
und Lebensweisen gewandelt. Die Zumutung an die Individuen besteht
in der Gegenwart im Aushaltenmüssen und -können von mangelnder Eindeutigkeit.
Verbindlich vorgegebene, normative Schemata fehlen, und es gilt, mit
Ambiguität umzugehen. Der fragile Charakter von Identität ist eine der Folgen.
Welche Rolle spielen diese Überlegungen in dem hier interessierenden Zusammenhang?
Jeder Gesellschaft ist eine Ungleichheitsstruktur eingeschrieben,
d. h., Gesellschaften können auch als Konfliktgefüge mehrerer sozialer Gruppierungen
um Ressourcen wie Geld, Einfluss und Macht verstanden werden. Migranten
treten als neue Gruppe in dieses Konfliktgeflecht ein und müssen sich
behaupten. Sie müssen also nicht nur symbolisch auf politischer und kultureller
Ebene als Teil der Gesellschaft akzeptiert werden, wirkliche Integration und Akzeptanz
umfasst auch adäquate Inklusion in die wirtschaftliche Struktur und in
das Bildungswesen, damit das Merkmal der fremden Herkunft nicht bereits als
kausal für manifeste soziale Ungleichheit verantwortlich gemacht werden kann.
Umgekehrt ließen sich damit auch die Formen des „Draußenstehens“ von Migrantengruppen
intern differenzieren, denn es ist sowohl eine symbolische Anerkennung
bei ökonomischer Marginalisierung wie auch eine symbolische Ausschließung
aus der Gesellschaft (Verweigerung von Einbürgerung etc.) bei ökonomischer
Integration denkbar, wie natürlich auch kumulierende Ausschließungserfahrungen.
Die Arbeit nimmt also sowohl symbolische als auch ökonomische Konfliktebenen
in den Blick und begreift letztlich die modernen Gesellschaften nicht als
zeitlose Gebilde, sondern ist stark an den Transformationen interessiert, die sich
in den Anerkennungsverhältnissen zwischen Bevölkerungsmehrheit und Minder16
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heiten und den Relationen sozialer Ungleichheit ergeben haben bzw. welche unter
dem Druck unabweisbarer sozialer Prozesse zu erwarten sind.
Bildungspolitik und pädagogische Konzeptionen im Umgang mit Schülern
mit Migrationshintergrund spielen in diesem Zusammenhang eine besondere
Rolle. Zuvor ist ausgeführt worden, dass Bildungssysteme sozusagen die Scharnierfunktion
zwischen Individuen oder sozialen Gruppen und der Sozialstruktur
mit ihrem Positionsgefüge übernehmen. Nun ist ersichtlich, auf welche Weise
dies vonstatten geht. Vor allem in der Schulausbildung wird einerseits der
Grundstein für die spätere berufliche Karriere des Einzelnen gelegt, werden also
Lebenspläne vorgezeichnet. Gleichzeitig werden im Bildungssystem allgemein
die Kinder und Jugendlichen in die Kultur des Landes hineinsozialisiert, dort erst
eigentlich und letztlich zu Staatsbürgern gemacht, indem sie die Werte und
Pflichten der demokratischen Grundordnung idealerweise internalisieren. Dabei
gilt es aber zu beachten, dass Bildungssysteme nicht voraussetzungslos funktionieren,
wie insbesondere die Arbeiten von Pierre Bourdieu in aller Deutlichkeit
gezeigt und internationale Bildungsvergleichsstudien vielfach bestätigt haben.
Bildungsprozesse bauen auf den alltagsweltlichen Lebensbedingungen und den
in Familien ablaufenden Prozessen auf, die mehr oder weniger gut auf die Schulkarriere
vorbereiten. Es ist leicht ersichtlich, dass Migranten hier vor besonderen
Problemen stehen, da ihnen meist die Sprache der Aufnahmegesellschaft und deren
zentrale kulturelle Wissensbestandteile fremd sind. Vor allem die Kinder der
ersten Einwanderergeneration sind damit einerseits zum Wohle ihrer Lebenschancen
im neuen Land auf die Akkulturationsleistung von staatlichen Bildungssystemen
angewiesen, gleichzeitig stehen dem seitens der Strukturierung und
Funktionsweise von Bildung in den einzelnen Ländern auch spezifische Schwierigkeiten
entgegen. Es bedarf also besonderer pädagogischer Konzepte und Gestaltung
von Lehrplaninhalten, um für Migranten tatsächlich Chancengleichheit
im Bildungssystem zu gewährleisten.
Das Konzept der Interkulturellen Pädagogik verspricht gegenwärtig, diese
Aufgaben zu meistern. Die einzelnen Länderstudien werden daher im Detail beleuchten,
inwieweit sich durch die Verwirklichung dieses Konzepts Erfolge zeigen:
durch Anerkennung von ethnisch-kultureller Differenz, einer besonderen
Förderung von Migranten und durch den Versuch von Chancengleichheit für
Migranten im Bildungssystem.Ich lasse mich dabei von der These leiten, dass
zwischen der gesellschaftlichen und politischen Stellung zu Migration und der
Organisation der staatlichen Bildung – inhaltlich wie strukturell – ein Zusammenhang
besteht, bzw. dass Interkulturelle Pädagogik nicht im Schulalltag Einzug
halten kann, wenn nicht auch auf symbolisch-kultureller Ebene die Anerkennung
ethnisch-kultureller Minderheiten verbessert worden ist.
Es sind also eine Reihe von offenen Fragen, die diese Studie motiviert haben,
und es ist abzusehen, dass sie sich nicht immer eindeutig beantworten lassen, erst
recht nicht auf theoretischer Ebene. Denn hierbei handelt es sich um soziale ProEINFÜHRUNG
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zesse, die zwar in Abhängigkeit von kulturellen Traditionen und strukturellen
Gegebenheiten stehen, ebenso aber auch jeweils landesspezifisch sind. Ausgewählt
sind Kanada, Frankreich und Deutschland, wobei Kanada und Deutschland
etwas ausführlicher analysiert werden. Kanada ist ein Beispiel für ein klassisches
Einwanderungsland, wo Wohlstand und Entwicklung seit jeher auf die Potenziale
von Zuwanderern angewiesen sind. Doch anders als die Vereinigten Staaten bündelt
Kanada mit dem Gegen- und Miteinander des anglophonen und frankophonen
Kanadas zwei Gesellschaften in einer, macht das Land damit zu einem einzigartigen
Fall, der ebenso einzigartige Problemlagen mit sich bringt. Frankreich
hat aufgrund seiner kolonialen Vergangenheit eine lange Tradition der Zuwanderung.
Gleichzeitig ist es mit dem Imperativ republikanischer Werte – also eigentlich
der Zivilgesellschaft – prädestiniert, die innere Widersprüchlichkeit und Selektivität
eben dieser normativen Gesellschaftsordnung nicht anzuerkennen.
Deutschland als drittes Beispiel steht Frankreich aufgrund der gemeinsamen kontinentaleuropäischen
Geschichte zwar sehr nahe, hat andererseits aber keine kulturelle
Tradition als Einwanderungs- und Kolonialland (die deutsche Kolonialgeschichte
endete 1918 und es ist keine Relevanz für die Nachkriegsentwicklung
zu erkennen). Allerdings kann Deutschland eine besonders stark ausgeprägte
Tradition übersteigerten Nationalismus im Wilhelminischen Kaiserreich
bis hin zu rassistisch motivierter Fremdenfeindlichkeit und Vernichtungspolitik
im Nationalsozialismus zugeschrieben werden, woraus ersichtlich ist, dass auch
für das heutige Deutschland spezifische Bedingungen für die Anerkennung von
Fremdheit und die Integration von Migranten bestehen.
Wie schon erwähnt, wird die Betrachtung bezogen auf Migrantengruppen im
Wesentlichen auf Migranten muslimischer Herkunft beschränkt bleiben. Das
verweist natürlich auf die gegenwärtige globale Auseinandersetzung um islamischen
Fundamentalismus bzw. jeweils spezifische Probleme westlicher Gesellschaften
mit ihrer muslimischen Minderheit. Anhand dessen soll letztlich analysiert
werden, wie einerseits eine ganz bestimmte, aus den nicht-westlichen Kulturen
stammende Gruppe von Migranten erstens auf westliche Kulturen und Gesellschaften
reagiert, wie ihnen die Anpassung gelingt und sie sich in die jeweilige
Sozialstruktur einordnen, welche Ergebnisse deren Kinder in den Schulen
erzielen und auf der anderen Seite, welche Anstrengungen die Aufnahmegesellschaften
zur verbesserten Integration, vor allem im Bildungsbereich, unternommen
haben. Es wird also eher versucht, eine pädagogische und sozialwissenschaftliche
Perspektive darauf zu gewinnen, als Fragen eindeutig zu beantworten.
Die vorliegende Analyse transzendiert also die gegenwärtigen Situationen und
Probleme von muslimischen Zuwanderern und ihren Nachfahren in westlichen
Gesellschaften über die nationalstaatliche Spezifität hinaus auf die allgemeinen
strukturellen, habituellen und normativen Grundlagen westlicher Gesellschaften.
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Diese Studie analysiert das multiethnische Zusammenleben in gegenwärtigen
westlichen Gesellschaften, fokussiert auf die Eingliederung und Akzeptanz ethnisch-
religiöser Minderheiten in die Bevölkerungsmehrheit unter besonderer Berücksichtigung
des Bildungssystems und des pädagogischen Umgangs mit ethnisch-
kultureller Pluralität. Integration wird daher nicht unter der Dichotomie
Stabilität/Zerfall beleuchtet, sondern mittels der Unterscheidung von drinnen/
draußen bezogen auf die Minderheitsgruppen. Dies scheint aktuell von besonderer
Problematik und öffentlichem Interesse. Die Arbeit wird zeigen, dass
sowohl das klassische Einwanderungsland Kanada, die ehemalige Kolonialmacht
Frankreich wie auch die Bundesrepublik Deutschland, die bis in die jüngste Zeit
nicht als Einwanderungsland betrachtet wurde, in den letzten Jahren und Jahrzehnten
zu einer grundlegenden Transformation ihrer Einwanderungs- und Integrationspolitik
gekommen sind; dass vor allem die europäischen Staaten nach
dem Ende der bipolaren Weltordnung in der Anerkennung ihrer ethnisch-kulturellen
und religiösen Pluralität einer neuen Herausforderung gegenüberstanden
und weiterhin stehen. Noch stellt diese Problematik keine Existenzbedrohung
gegenwärtiger Gesellschaften dar, wenngleich die Unruhen in den Pariser Vorstädten
im Herbst 2005 dramatische Ausmaße angenommen haben. Bereits anhand
der damaligen Vorgänge lässt sich zeigen, dass es den Demonstranten eben
nicht um eine Überwindung des bestehenden Gesellschaftssystems ging, sondern
um Teilhabe an Arbeit und Wohlstand, Anerkennung von Identitätsentwürfen
und Zugehörigkeiten durch die Mehrheitsgesellschaft. Diese Aspekte sind für
ethnisch-kulturelle Minderheiten – und besonders für muslimische Zuwanderer –
problematisch. Sozioökonomische Marginalisierung und Ungleichbehandlung
gehen oft mit kultureller Ignoranz oder Ausschluss einher. Dies geschieht vor
dem Hintergrund des Selbstverständnisses, das jede Gesellschaft von sich hat,
mit der sich die Gesellschaftsmitglieder als solche erkennen und wechselseitig
anerkennen und mit dessen Hilfe sie die Grenzen der Zugehörigkeit markieren
können. Dieses Selbstverständnis beruht auf gemeinsam geteilten Werten und
Normen, der gemeinsamen Geschichte eines Territoriums – und damit auch der
Erfahrung, von anderen Staaten als zusammengehörige Einheit wahrgenommen
zu werden.
Zuwanderer stehen als Fremde zunächst immer außerhalb dieser kulturellen
Form der Selbstvergewisserung und Selbstbeschreibung. Ihre Integration oder
besser: Eingliederung in die Einwanderungsgesellschaft, ebenso wie ihre Anerkennung
durch diese – nicht als Fremde, sondern als dazugehörige Neue – hängt,
so eine These dieser Studie, erstens mit der Distanz, d. h. Fremdartigkeit zwischen
Herkunftskultur des Migranten und der Kultur des Einwanderungslandes,
und zweitens mit der Offenheit und dem praktisch-kulturellen Umgang in der
Einwanderungskultur mit Fremdheit und Migranten zusammen. Für die Integration
von Minderheiten ist Letzteres sogar von entscheidender Bedeutung. Es soll
verdeutlicht werden, dass nicht kulturelle Differenzen schlechthin für soziale
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Ausschließungs- und Segregationsprozesse verantwortlich sind, sondern der
Umgang, den eine Gesellschaft mit den kulturellen Differenzen pflegt. Dabei ist
ein kulturalistischer Fehlschluss zu vermeiden.1 Kulturen sind nicht per se unverträglich,
stoßen sich nicht wie Antikörper voneinander ab. Wenn kulturelle Unterschiede
zur sozialen Abgrenzung betont und benutzt werden, dann stehen dahinter
partikulare Interessen; erfüllt dies eine soziale Funktion. Schon hier kann
darauf hingewiesen werden, dass jenes kulturell-religiöse, konfliktträchtige Verhältnis,
wie es Frankreich und Deutschland mit ihrer muslimischen Minderheit
kennen, ganz wesentlich auf soziale Verteilungskonflikte zurückgeht, es ist also
auch materiell und politisch begründet. Nicht ohne Interesse ist es, warum Konflikte
dieser Art auf kultureller Ebene ausgetragen werden. Meiner Ansicht nach
bietet es sich aber auch nicht an, der materiellen Ebene so großes Gewicht zuzuweisen,
dass die Kulturalisierung von sozialen Konflikten lediglich als Ablenkung,
Ideologisierung oder Verschleierung zu interpretieren ist.
An den zusammenfassenden Überblick über die Thematik werden sich drei
Unterkapitel anschließen, welche Begriffe behandeln, die sehr häufig in der wissenschaftlichen
Literatur ebenso ubiquitär und damit sehr vielseitig und missverständlich
gebraucht werden. Das gilt im besonderen Maße für das Konzept der
„modernen Gesellschaft“ und den Bildungsbegriff. Zuerst kommt es darauf an zu
bestimmen, was eine moderne Gesellschaft dem „Wesen“ nach ausmacht und wo
die Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen modernen Gesellschaften zu
sehen sind. Auf diesen impliziten Hintergrund stützt sich die historische Analyse
ebenso wie die einzelnen Länderstudien.
Vorstellungen von Bildung, Erziehung oder Sozialisation sind jedem pädagogischen
Konzept inhärent, damit vor allem auch deren Möglichkeiten und die
Grenzen, die je nach weltanschaulicher Perspektive variieren. In der Geschichte
der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer begrifflichen Bestimmung wie auch im
engeren Konzept der Zivilgesellschaft ist der Bildungsbegriff normativ aufgeladen,
sodass auch hier zunächst einmal eine Begriffsklärung und Verortung der
eigenen Perspektive nötig sind.
Im zweiten Kapitel werde ich versuchen, nach begrifflichen Vorklärungen,
die den Bedeutungshorizont des „Bürgerlichen“ ausleuchten, eine umfängliche
Beschreibung und historische Herleitung gegenwärtiger moderner, westlicher
Gesellschaften zu geben. Es beginnt mit der Entstehung des Bürgers in der griechischen
Polis und seinem kurzen Aufblühen in der mittelalterlichen europäischen
Stadtkultur. Auch hier wird nicht historisch umfassend argumentiert, sondern
typologisierend und komplementär. Denn in der Antike entsteht die Figur
des Bürgers als eines politisch verantwortlich handelnden Menschen; in den mit-
1 Nick, P. (2003): Ohne Angst verschieden sein. Differenzerfahrungen und Identitätskonstruktionen
in der multikulturellen Gesellschaft, Campus Verlag, Frankfurt/
Main, S. 51
20 | PLURALISMUS UND ZIVILGESELLSCHAFT
telalterlichen Städten konnte sich dann der Typus des ein Handwerk oder ein
Gewerbe betreibenden Bürgers entfalten.
Im darauf folgendem Kapitel zeichne ich in groben Linien die strukturellen
wie auch kognitiv-geistigen Veränderungen nach, die vor allem europäische Gesellschaften
im 20. Jahrhundert, also innerhalb der Moderne, durchgemacht haben.
Auf die Diskussion um einen Epochenbruch – egal ob hin zur Postmoderne
oder zur Zweiten Moderne – wird nicht näher eingegangen, im Vordergrund steht
die Kontinuitätsperspektive. Denn darauf aufbauend wird das Konzept der Zivilgesellschaft
entfaltet, wie es gegenwärtig diskutiert wird. Nach der abstrakten
Bestimmung des Bildungssystems im ersten Kapitel erfolgt hier nun ein ausführlicher
Blick auf die Bildungssysteme moderner Gesellschaften, wie sie sich als
Strukturelement eingefügt haben, welche Funktionen sie erfüllen und welche
Folgen und Auswirkungen dies hat. Auch diese Darstellung ist prinzipiell problemorientiert,
d. h., sie soll den Boden bereiten für die intensive Auseinandersetzung
mit nationalen Bildungspolitiken und der jeweiligen Implementierung Interkultureller
Pädagogik als Leitvorstellung für multiethnische Gesellschaften.
Vor diesem Hintergrund eines so entfalteten „Begriffs der bürgerlichen Gesellschaft“
(einschließlich des Begriffs der „Zivilgesellschaft“), der normative
und analytische Theoriestränge kombiniert und Ambivalenzen und Zumutungen
herausarbeitet, werden in den folgenden drei Kapiteln die drei Länderstudien
ausgebreitet. Unterstellt ist, dass die Kategorie und die Geschichte des Bürgertums
und der bürgerlichen Gesellschaft für die Analyse der von Migrationsprozessen
geprägten Gegenwartsgesellschaften eine erhebliche Erklärungskraft besitzt.
Wie gehen die drei westlichen, bürgerlich-modernen Gesellschaften mit der
ethnischen und religiösen Pluralität ihrer Bevölkerung um, welche Position haben
diejenigen, deren eigene kulturelle Traditionen nicht in der bürgerlich-okzidentalen
Geschichte verwurzelt sind? Diese Frage zielt zunächst auf Kanada,
dann auf Frankreich und schließlich auf Deutschland. Für jede der drei Studien
ist der Rekurs auf die Geschichte, die nationale wie die allgemeine Konstruktion,
der analytische Ausgangspunkt. Für die drei Länder lassen sich sehr unterschiedliche
Verläufe rekonstruieren. Die Argumentation zeigt, dass Bürgerlichkeit nicht
einfach eine geschichtsphilosophische Notwendigkeit ist, zumal auch außerordentlich
problematische Gesellschaftsprojekte in diesen drei Geschichten identifiziert
werden können: in Deutschland der Nationalsozialismus, in Kanada die
weitgehende Ausgrenzung der indigenen Bevölkerung, in Frankreich vor allem
die Ghettoisierung der Migranten in den Banlieues der großen Städte.
Im Vergleich der drei Länder wird deutlich, dass auch das jeweilige Verhältnis
von Staat und Bürgertum weitreichende Unterschiede aufweist. Der starke republikanische
französische Staat wird neben dem deutschen autoritativen sichtbar.
Dem wird jeweils das unterschiedliche Konzept von Staatsbürgerschaft zur
Seite gestellt. Während in Frankreich das „ius soli“, d. h. das Bekenntnis zur Republik,
als alleinige Bedingung für die Zugehörigkeit galt, standen und stehen in
EINFÜHRUNG | 21
Deutschland immer noch mit dem „ius sanguinis“ ethnische Konzeptualisierungen
im Zentrum der Frage, ob jemand zur Nation gehört, das Staatsbürgerrecht
erwerben kann oder nicht.
Anders dagegen auch das Konzept des bürgerlichen Staates im klassischen
Einwanderungsland Kanada, das sich in erster Linie als eine zivilgesellschaftliche
Konzeption beschreiben lässt. Mit ihm scheint am Anfang der Bürgergesellschaft
nicht der Staat zu stehen, sondern das Individuum in seinen sozialen Bezügen.
Das heißt aber auch, dass Vereinigungen, Gruppen in der Geschichte und
Gegenwart nicht einfach von der Staatsmacht bevormundet werden können. Eben
das zeigt der langwährende Konflikt zwischen „Quebec“ und den englischsprachigen
Teilen des Landes. In dieser Tradition sind „Vereinigungen“ die Institutionen,
die den Gang der staatlichen Politik entscheidend mittragen. Auf sie vermag
auch unter aktuellen Bedingungen die Politik zurückgreifen. Migrationspolitik
ist insofern auch ein soziales und politisches Feld, auf dem die Gesellschaft
sich selbst und ihren Wandel regelt.
Die Arbeit beschreibt, wie diese drei bürgerlichen Gesellschaften nicht nur
von differenten Staatskonzepten geprägt waren und sind, sondern auch sehr differente
Formen des staatlichen und sozialen Umgangs mit Migranten entwickelten.
In Kanada werden die Einwandernden je nach Herkunftsland eher als eine weitere
hinzukommende „Vereinigung“ wahrgenommen, die sich mit den bereits vorhandenen
bürgerlichen Vereinigungen in einer aktiven Weise verknüpfen muss
und kann, während in Frankreich die Migranten immer in erster Linie als politische
Individuen gesehen werden, die sich die Möglichkeiten und Anforderungen
der Republik zu eigen machen können, wenn sie dauerhaft mit diesem Land verbunden
bleiben wollen. Zu einer solchen Tradition aber gehört in Frankreich die
Trennung von Staat (als der Gesamtheit aller Bürger und nicht primär als verselbständigtes
Legislativ- und Exekutivorgan) und Kirche (als einer partikularistischen
Instanz).
In allen drei Gesellschaften nimmt die Arbeit die aktuellen pädagogischen
und didaktischen Veränderungen im Umgang mit Kindern und Jugendlichen im
Bildungssystem in den Blick und identifiziert die in ihm entwickelten Traditionen
und Konzeptionen der Bürgergesellschaft und der Bürgerlichkeit. Im Blick
auf das kanadische Bildungssystem werden deshalb auch ohne gesellschaftlichen
Widerspruch die neu hinzukommenden „Vereinigungen“ muslimischer Migranten
sowohl ethnisch als auch kulturell als different markiert – so wie alle Gruppen
im Kontext von Schule und anderen gesellschaftlichen Bereichen als eine eigene
Gruppe identifizierbar sind, ist doch kulturelle und ethnische Differenz ein
gesellschaftlich anerkanntes Stigma aller zivilgesellschaftlichen Vereinigungen.
Das kanadische Konzept des schulischen Umgangs mit Differenz wird als „interkulturell“
bezeichnet und ist Teil einer breiten Anerkennungskultur. Dass an diesem
Konzept deshalb auch viele gesellschaftliche Gruppen – im Unterschied zu
22 | PLURALISMUS UND ZIVILGESELLSCHAFT
Deutschland – beteiligt sind, belegt die vorliegende Arbeit auf der Basis von
Quellen.
Anders in Frankreich. Hier kann – vor dem Hintergrund der aktuellen Probleme
– der bürgerliche Staat mit seinem Anspruch, Gerechtigkeit und Gleichheit
durch Leistung im Bildungssystem durchsetzen zu wollen, als historisch überholt
bezeichnet werden. Das radikale französische Konzept der Revolution und Aufklärung
kann mit seinen egalisierenden Unterstellungen nicht mehr die Probleme
der spätbürgerlichen Gesellschaft, vor allem ihrer heutigen Pluralität und Differenz,
bearbeiten. Die Schule wie die Banlieues sind Orte, an denen das Misslingen
dieses bürgerlichen Projekts der Moderne sichtbar wird, ein sorgsames pädagogisches
Umgehen mit Differenz findet dort nicht statt.
Schließlich die Darstellung der deutschen Geschichte und der schulischen Integrationsproblematik
seit den 60er-Jahren: Dieser Teil beschreibt besonders ausführlich
die Situation von Muslimen in Deutschland. Die Interkulturelle Pädagogik
wird im Blick auf das deutsche Bildungssystem einerseits in ihrem „Siegeszug“,
andererseits aber auch in ihrer Vielschichtigkeit diskutiert, wobei die
Bandbreite theoretischer Konzeptionen interkultureller Erziehung u. a. am unterschiedlich
genutzten Begriff von Kultur deutlich wird: Kulturrelativistische Konstruktionen
finden sich in der Interkulturellen Pädagogik ebenso wie solche, die
Kultur als ein relativ stabiles, Identität formendes Konzept nutzen. Welche Konsequenzen
für den pädagogischen Umgang mit Kindern und Jugendlichen folgen
daraus? In welche Richtung lassen sich diese für Offenheit plädierenden Unterrichtskonzeptionen
entwickeln? Das versucht diese Studie zu klären, indem im
abschließenden Teil auf das bürgerliche Konzept von Bildung zurückgegriffen
wird. Es ist eine der bürgerlichen Konzeptionen, die sich mit der Aufklärung
verband. Interkulturelle Bildungserfordernisse sind insofern anschlussfähig an
das Humboldtsche Bildungskonzept. In dieser Perspektive können kulturrelativistische
und universalistische Sichtweisen und Ansprüche kombiniert werden,
um dem je einzelnen Individuum Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Die
Migrantenkinder und -jugendlichen sind in dieser Perspektive immer auch als
außerordentlich aktiv, als Handelnde gedacht. Die Offenheit für Fremdes gilt für
alle, für die Einheimischen wie für die neu Hinzukommenden, was auch zutrifft
im Blick auf Selbsttätigkeit und die unterstellte besondere Relevanz von Sprachfähigkeit.
Schließlich aber hat das Bildungswesen seinen Absolventen, den
Migrantenkindern wie den übrigen, einen Arbeitsplatz durch Bildung zugänglich
zu machen.
Meinen Recherchen zufolge gibt es bisher keine Literatur, die explizit die in der
Einleitung genannten Fragestellungen aus der darin entwickelten Perspektive bearbeitet.
Vielmehr habe ich diese aus den Untersuchungen zur Geschichte des
Bürgertums, der politischen und sozialen Ideengeschichte, den soziologischen
Entwicklungstheorien der okzidentalen Moderne (Weber, Simmel, Elias, HaberEINFÜHRUNG
| 23
mas) sowie den aktuellen Beiträgen zur Zeitdiagnose und Gegenwartsbeschreibung
erarbeitet (Bauman, Beck, Keupp). Jeder einzelne hier angerissene und eingebaute
Themenkomplex ist bereits intensiv erforscht und in der Fachliteratur
behandelt und würde selbst eine eigene Arbeit füllen. So kann nicht jeweils zu
den einzelnen Aspekten ein ausführlicher Literatur- und Forschungsüberblick
gegeben werden. Die Auswahl der Quellen und Autoren ist notwendig selektiv,
lässt sich aber von der Überzeugung leiten, auf diese Art und Weise die ins Auge
gefassten Entwicklungsprozesse und Konstellationen angemessen zu charakterisieren.
Bezüglich der bürgerlich-modernen Gesellschaft wird von diesem Vorhaben
aufgrund der Zentralität des Konzeptes für diese Studie abgewichen.
Bürgerlich-moderne Gesellschaft und in diesem Zusammenhang auch Zivilgesellschaft
ist seit einigen Jahren zunehmend häufiger Gegenstand sozialwissenschaftlicher
Veröffentlichungen (vgl. Kocka, Hettling/Hoffmann, Dahrendorf)
sowie politischer Diskussionen und Beiträge. Dabei können grob drei Bezugsrahmen
unterschieden werden: Zunächst der historische, der – wie auch in dieser
Studie – den Bürger und die bürgerliche Gesellschaft ideengeschichtlich bis ins
Mittelalter oder die Antike zurückführt (vgl. Hettling/Hoffmann, von Beyme,
Ribhegge). Damit verbunden ist bereits der zweite Aspekt, in dem sie als gesellschaftliche
Ordnungsvorstellung, also als Strukturprinzip gesellschaftlichen Aufbaus
und politischer Herrschaft und Steuerung konzipiert wird. Als solches hat
sich der Begriff der bürgerlich-modernen Gesellschaft längst von seiner ursprünglichen
Bindung an den Nationalstaat gelöst und wird auf die europäische
oder gar globale Ebene projiziert (vgl. Gosewinkel/Rucht, Koenen, Knodt/ Finke).
Gleichzeitig verweist dies auf den normativen Charakter des Konzepts im
Sinne eines Leitbildes tatsächlicher Politik und eines unterstellten Idealbilds
westlicher Verfassungen mit einer entsprechenden politischen Kultur. Drittens
wird Bürgerlichkeit wie auch der verwandte Begriff der Zivilgesellschaft als heuristisches
Mittel genutzt, als operationalisierter Idealtypus, wodurch die Vielfältigkeit
der sozialen Realität wie auch die Widersprüchlichkeit der Konzeptionen
selbst ins Licht gerät.2
2 Die meisten Publikationen behandeln mehrere der genannten Aspekte: Kocka
(Hrsg.), (1995): Bürgertum im 19. Jahrhundert 3. Bd.; Schulze (2005): Lebenswelt
und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert; Ribhegge (2002): Stadt
und Nation in Deutschland vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Die Entstehung der
Zivilgesellschaft aus der Tradition der Städte; Kocka (2004): Zivilgesellschaft in
historischer Perspektive; von Beyme (2000): Zivilgesellschaft – Von der vorbürgerlichen
zur nachbürgerlichen Gesellschaft; als primär geistesgeschichtlich angelegt:
Schmidt (2007): Zivilgesellschaft. Bürgerschaftliches Engagement von der
Antike bis zur Gegenwart; beides gut vereint in: Adloff (2005): Zivilgesellschaft.
Theorie und politische Praxis; Koenen (2001): Bürgerliche Gesellschaft; Knodt/
Finke (Hrsg.), 2005: Europäische Zivilgesellschaft; Hettling (2000): Bürgerliche
Kultur – Bürgerlichkeit als kulturelles System; Hettling/Hoffmann (1997): Der
bürgerliche Wertehimmel; Hettling (2004): „Bürgerlichkeit“ und Zivilgesellschaft.
Zur Aktualität einer Tradition. Zu den Verbindungen mit dem Kommunitarismus:
24 | PLURALISMUS UND ZIVILGESELLSCHAFT
In dieser Komplexität und Vielschichtigkeit wird auch in vorliegender Studie
das Konzept der bürgerlich-modernen Gesellschaft in den Mittelpunkt gerückt,
jedoch mit der damit verbundenen Absicht, die Selektivität, d. h. letztlich die
Kulturspezifität dieser Konzeption aufzuzeigen. Diesem Zweck dient somit auch
die historische Betrachtung. All dies geschieht vor dem Hintergrund der gegenwärtigen
Konfrontation westlicher Gesellschaften mit Migrantenströmen aus
nicht-westlichen Kulturen. Dies auf so grundsätzliche Weise zu problematisieren
– und nicht nur partiell wie bei der Behandlung von Islam und Religion in modernen
Gesellschaften – stellt durchaus eine Forschungslücke dar. Dahinter steht
der Grundgedanke der Interkulturellen Pädagogik, wonach Kulturmuster über
Generationen hinweg prägend wirken und (Alltags-)Kulturen nicht wie ein Mantel
angezogen und abgestreift werden können. Während die Ausländerpädagogik
der 60er-Jahre die Fremden selbst, ihre Verhaltensweisen und vermeintlichen
Defizite ins Zentrum der Betrachtung rückte, lenkt das gegenwärtige Verständnis
in der Interkulturellen Pädagogik den Blick primär auf die kulturellen Hintergründe
der Einwanderer und gesteht ihnen auch eigene soziale Handlungsstrategien
zu.3 Im Rahmen der Ausländerpädagogik bildeten die kulturellen Hintergründe
der Einwanderer lediglich Erklärungsmuster für vermeintliche Defizite
und soziale Konflikte.4 Ausländischen Kindern und Jugendlichen wurden Sozialisationsprobleme
unterstellt, die aus dem Erleben der zwei unterschiedlichen
kulturellen Systeme (Herkunftskultur und Aufnahmegesellschaft) resultierten.5
Ausgehend von diesem Defizitansatz zielte die pädagogische Praxis und Forschung
darauf ab, die kulturellen Hintergründe der Einwanderer mit denen der
Aufnahmegesellschaft in Übereinstimmung zu bringen. In Folge der starken Kritik
am Konzept der Ausländerpädagogik entwickelte sich Ende der 70er und Anfang
der 80er-Jahre die Interkulturelle Pädagogik, die vornehmlich zwei Tendenzen
beinhaltet: Zum einen geht es nicht länger um „den Fremden“ und seine spezifischen
Defizite, sondern vielmehr um die Interaktionen der Fremden mit Einheimischen,
mit Institutionen und gesellschaftlichen Bedingungen der Aufnahmegesellschaft.
Zum anderen rückten auch die Einheimischen selbst mit ihren
Verhaltensweisen, Einstellungen und Reaktionen auf Einwanderer ins Blickfeld.6
Im Lichte der Herkunftskulturen der Migranten muss sich auch die Aufnahmekultur
reflektieren und verändern, also den Migranten entgegenkommen. Die-
Haus (2003): Kommunitarismus; Dahrendorf (1992): Die Zukunft der Bürgergesellschaft;
Kneer (1997): Zivilgesellschaft; Gosewinkel/Rucht (2001): Zivilgesellschaft
– national und transnational
3 Auernheimer, G. (2005): Einführung in die Interkulturelle Pädagogik. WBG,
Darmstadt, S. 42
4 Kiesel, D. (1996): Das Dilemma der Differenz. Zur Kritik des Kulturalismus in der
Interkulturellen Pädagogik, Cooperative-Verlag, Frankfurt/Main, S. 3
5 Boos-Nünning, U./Hohmann, M. (1977): Ausländische Kinder. Pädagogischer Verlag
Schwann, Düsseldorf
6 Auernheimer, G. (2005): S. 42
EINFÜHRUNG | 25
se Einsicht ist für die praktische Integration der Migranten grundlegend und lässt
sich in den Länderstudien jeweils auch sehr gut durch die Forschungsliteratur belegen.
Am augenscheinlichsten ist es dabei in Frankreich, wo der Widerspruch
zwischen politischer Integration der Migranten über das Staatsbürgerrecht und
dem sozialen Ausschluss vor allem der Maghrebiner ganz offensichtlich zu Tage
tritt.7 In Deutschland wurde die beschriebene wissenschaftliche Perspektive der
Interkulturellen Pädagogik in der pädagogischen und bildungspolitischen Praxis
noch nicht erreicht. Hier steht noch immer die Konzentration auf den Fremden
als Zielgruppe der Interkulturellen Pädagogik im Vordergrund.8 In den Bildungsinstitutionen
werden Fremde immer noch vorrangig über ihre Kultur wahrgenommen
und unterschieden, wenn auch in Form positiver Differenzierung und
Anerkennung. Ziel ist es nun, Verständnis für Einwanderer zu entwickeln und
mit ihnen auszukommen.9 Dabei wird oft missachtet, dass soziale Konflikte nicht
nur in kulturellen Differenzen zu suchen sind, sondern vor allem in der strukturellen
Ungleichbehandlung der Einwanderer.10
Die historische Betrachtung ist daher auf die Explikation der Problemkonstellation
ausgelegt, die man plakativ als Entkleidung des eurozentristischen Gehalts
der Zivilgesellschaft bezeichnen könnte. Es wird dabei versucht, die westlichen
Gesellschaften von außen zu sehen, vor allem in ihrer Ambivalenz, um die Perspektive
des Fremden begreiflich zu machen.11
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