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Wider den Kulturenzwang Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur (unter Mitarbeit von Stefanie Ulrich)
Wider den Kulturenzwang
Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur


(unter Mitarbeit von Stefanie Ulrich)

Özkan Ezli, Dorothee Kimmich, Annette Werberger (Hrsg.)

Transcript
EAN: 9783899429879 (ISBN: 3-89942-987-7)
412 Seiten, paperback, 14 x 23cm, 2009

EUR 34,80
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
In Zeiten transkultureller Bewegungen erweist sich die Literatur, die sich aus verschiedenen Gründen nicht in nationale Grenzen einpassen lässt, als ein zentrales Untersuchungsfeld: Kulturelle Veränderungen, die durch Migration von Menschen, Ideen, Waren und Sprachen entstehen, lassen sich hier auf eine umfassende Weise analysieren.

In aktuellen Fallstudien untersuchen die Beiträge dieses Bandes unter anderem kulturelle Grenzziehungen in muslimischen bzw. türkischen Gemeinschaften und setzen sich dabei mit dem neuen »Zwang zur Kultur« auseinander. Daran anschließend wird der Begriff »Weltliteratur« auf seine Brauchbarkeit in diesen Kontexten untersucht, insbesondere im Hinblick auf nicht-europäische, etwa afrikanische Repräsentationsmodelle von Literatur.

Einzelanalysen von Filmen und literarischen Texten zeigen, dass die so genannte Migrationsliteratur eine ästhetische Reflexion auf kulturelle Integration einerseits, aber auch auf verschiedene Formen von sozialer, individueller und sprachlicher Desintegration andererseits ist.

Der Band wird ergänzt durch zwei Interviews mit Ilja Trojanow und Feridun Zaimoglu.
Rezension
Dieses Buch hinterfragt gängige Konzepte von Kultur; denn Kulturwissenschaften und Kulturpädagogik sind in aller Munde. Zugleich bestimmen Migration und die dadurch ausgelösten kulturellen Transformationen wesentlich die heutigen (westlichen) Gesellschaften. In Zeiten transkultureller Bewegungen erweist sich nationale Grenzen übergreifende Literatur als ein zentrales Untersuchungsfeld: Kulturelle Veränderungen, die durch Migration von Menschen, Ideen, Waren und Sprachen entstehen, lassen sich hier auf eine umfassende Weise analysieren. In aktuellen Fallstudien untersuchen die Beiträge dieses Bandes unter anderem kulturelle Grenzziehungen in muslimischen bzw. türkischen Gemeinschaften und setzen sich dabei mit dem neuen »Zwang zur Kultur« auseinander. Es zeigt sich, dass die so genannte Migrationsliteratur eine ästhetische Reflexion auf kulturelle Integration einerseits, aber auch auf verschiedene Formen von sozialer, individueller und sprachlicher Desintegration andererseits ist.

Dieter Bach, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Schlagworte:
Migration, Kulturalisierung, Weltliteratur, Film, Ethnologie
Adressaten:
Soziologie, Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft, Ethnologie

Özkan Ezli (Dr. des.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Exzellenzcluster »Kulturelle Grundlagen von Integration« der Universität Konstanz. Sein derzeitiger Forschungsschwerpunkt ist das Narrativ der Migration in der deutsch-türkischen Literatur, im Film und in der Religion in Deutschland.
Dorothee Kimmich (Prof. Dr.) ist Literaturwissenschaftlerin an der Universität Tübingen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Literaturtheorie, Philosophie und Literatur sowie die Literatur der klassischen Moderne.
Annette Werberger (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Assistentin am Slavischen Seminar der Universität Tübingen. Ihr derzeitiger Forschungsschwerpunkt sind Narrative Ostmitteleuropas.
WWW: www.exc16.de/cms/ezli.html
WWW: www.germ-serv.de/kimmich/
WWW: www.slavistik.uni-tuebingen.de/?n=Werberger

Interview
... mit Prof. Dr. Dorothee Kimmich

1. »Bücher, die die Welt nicht braucht.« Warum trifft das auf Ihr Buch nicht zu?
Migration und die dadurch ausgelösten kulturellen Transformationen bestimmen den heutigen Alltag, die Politik, die Wirtschaft und die Wissenschaft.

2. Welche neuen Perspektiven eröffnet Ihr Buch?
Wir hinterfragen gängige Konzepte von Kultur, die ebenso selbstverständlich verwendet wie ideologisch besetzt und theoretisch unklar sind.

3. Welche Bedeutung kommt dem Thema in den aktuellen Forschungsdebatten zu?
Globale kulturelle Entwicklungen und ihre Deutung, Verarbeitung und Bewertung wird in den Kulturwissenschaften die zentrale Forschungsfrage in den nächsten Jahrzehnten sein.

4. Mit wem würden Sie Ihr Buch am liebsten diskutieren?
Mit Wolfgang Schäuble und Feridun Zaimoglu zusammen; Franco Moretti, Albrecht Koschorke und Fatih Akin.

5. Ihr Buch in einem Satz:
Der Anfang vom Ende der ›KULTUR‹.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
ÖZKAN EZLI, DOROTHEE KIMMICH
UND ANNETTE WERBERGER
9

KULTURALISIERUNG

Ehrenmord, Ethnologie und Recht
THOMAS HAUSCHILD
23

Operative Kultur und die Subjektivierungsstrategien in der Integrationspolitik
LEVENT TEZCAN
47

Kulturelle Grenzziehungen in integrationspolitischen Diskursen deutscher Printmedien
VALENTIN RAUER
81

Zur Soziogenese einer kulturalisierten Einwanderungsgesellschaft
JÖRG HÜTTERMANN
95

Rappen für Gott, König und Vaterland:
Über Trance, Kulturalisierung und Macht in Marokko und der marokkanischen Migration
MARTIN ZILLINGER
135

SCHREIBWEISEN DER MIGRATION

»Wer Augen hat, der sehe, und das Wissenswerte wird einem dann kundgetan.«
Interview mit Feridun Zaimoğlu
PHILIPP OSTROWICZ/STEFANIE ULRICH
177

Kritisch »Kanak«: Gesellschaftskritik, Sprache und Kultur bei Feridun Zaimoğlu
YASEMIN YILDIZ
187

Von der interkulturellen zur kulturellen Kompetenz.
Fatih Akıns globalisiertes Kino
ÖZKAN EZLI
207

Fiktive Migration und migrierende Fiktion.
Zu den Lebensgeschichten von Emine, Leyla und Gül
ANDREAS PFLITSCH
231

WELTLITERATUR

»Die Entrückung gebiert Ungeheuer.«
Interview mit Ilija Trojanow
ILIJA TROJANOW
253

Europäische Literatur(en) im globalen Kontext.
Literaturen für Europa
OTTMAR ETTE
257

Öde Landschaften und die Nomaden in der eigenen Sprache.
Bemerkungen zu Franz Kafka, Feridun Zaimoğlu und der Weltliteratur als »littérature mineure«
DOROTHEE KIMMICH
297

Eine exemplarische Analyse des weltliterarischen Anspruchs:
Sadeq Hedayats Buf-e kur (1936)
NACIM GHANBARI
317

Weltliteratur in der Perspektive einer Longue Durée I:
Die fünf Zeitschichten der Globalisierung
ERHARD SCHÜTTPELZ
339

Weltliteratur in der Perspektive einer Longue Durée II:
Die Ökumene des swahili-sprachigen Ostafrika
THOMAS GEIDER
361

Autorinnen und Autoren
403



VORWORT
ÖZKAN EZLI, DOROTHEE KIMMICH, ANNETTE WERBERGER
Ursprünglich sollte der vielprämierte Film Gegen die Wand nach Aussage
Fatih Ak¤ns eine Komödie werden.1 Die Geschichte einer jungen
türkischen Frau, die mit Hilfe einer Scheinehe mit einem türkischen
Mann versucht, in einer verdeckt rebellischen Form den traditionellen
Lebenserwartungen der Eltern zu entkommen. Mit witzig-humorvollen
Besuchsszenen – die Eltern beim frischvermählten Paar – sollte
die essentialisierende Kulturzuschreibung eines türkischen Ehrenkodex
konterkariert werden.2 Es ist gut möglich, dass Ak¤n in seinen Überlegungen
zu dieser Geschichte an den – zehn Jahre vor Gegen die Wand
mit dem »Goldenen Bären« ausgezeichneten – Film The Wedding
Banquet (1993) seines amerikanisch-taiwanesischen Kollegen Ang Lee
gedacht hat. Denn in diesem Film steht ganz ähnlich eine geplante
Scheinehe zwischen einem homosexuellen Taiwaner und einer taiwanesischen
Malerin im Vordergrund; sie soll den Eltern des Mannes seine
homosexuelle Beziehung zu einem Amerikaner verheimlichen. Die Eltern
kommen aus Taiwan zu Besuch nach New York, um die designierte
Schwiegertochter kennenzulernen. Die Zusammenkunft unterschiedlicher
Lebensmodelle zwischen selbst gewählten Lebensentwürfen und tradierten
Normen fängt Lee in seinem Film gekonnt humoristisch und subtil
auf.
Es waren das Ereignis des 11. September und seine unmittelbaren
gesellschaftspolitischen Folgen, die – so Ak¤n – eine Komödie in dieser

1 Akın, Fatih: Gegen die Wand, Spielfilm, Corazon International, Deutschland
2003/2004.
2 Essentialisierung generiert die Vorstellung eines Wesenskerns, der den
Charakter eines Menschen, einer Gesellschaft oder einer Epoche unverrückbar
bestimmt. Essentialisierungen reduzieren die Vielschichtigkeit
sozialer Phänomene auf ein Merkmal und führen oft zu Verhärtungen sozialer
Konflikte.
3 Lee, Ang: Hsi Yen – The Wedding Banquet, Spielfim, Central Motion Pic./
Good Machine, Taiwan/USA 1992.

Form nicht mehr zuließen.4 Gegen die Wand wurde ein Drama mit identischer
Story, das der durch 9/11 sich verstärkenden imaginären Logik
eines »Clash of Cultures« begegnet. Seine Protagonisten Sibel (Sibel
Kekilli) und Cahit (Birol Ünel) sind weder deutsch noch türkisch, weder
muslimisch noch nicht-muslimisch. Sie sind existentielle Figuren, die
aufgrund ihrer körperlichen Bedürfnisse und Wünsche – Sibel geht die
Scheinehe ein, um mit so vielen Männern wie möglich zu schlafen – den
essentialistischen Kulturdiskurs konterkarieren. Gegen einen »Clash of
Cultures« wird hier ein »Clash of Desires« eingeführt, der sich nicht auf
Gesetze und Grenzen von Kulturen, sondern auf menschliche Bedürfnisse
bezieht.5 Die Geschichte illustriert mit den Protagonisten nicht, wie
Kulturen funktionieren, sich begegnen oder Konflikte generieren. Vielmehr
stellt sich heraus, dass keine der Handlungen, Einstellungen, kein
Traum und keine Sehnsucht der Figuren »kulturell« sinnvoll begründet,
erklärt motiviert oder begriffen werden kann. Der Film entwirft und zeigt
ein »Milieu« – durchaus im materialistischen Sinne Bourdieus –, das sich
gerade dadurch auszeichnet, dass es keiner »Kultur« zuordenbar ist. Die
Protagonisten sind keine »Türken« und keine »Deutschen«, keine Kleinbürger
und keine Proletarier. Sie sind politisch nicht links, aber auch
nicht konservativ, auch nicht rechts. Religion spielt keine Rolle für die
Definition der eigenen Person. Persönliche Bindungen werden nicht nach
traditionellen Modellen gestaltet, sondern als Laboratorium und Experiment
verstanden. Der Film feiert die ganz große, ganz unmögliche Liebe
zweier radikal selbstmörderischer Individuen, wie sie nicht erst seit
Penthesilea und Achill, Chosrou und Schirin, MadschnÙn und Layla,
Tristan und Isolde, Romeo und Julia, Rick und Ilsa die Weltliteratur bevölkern.
Gerade weil die beiden nirgends dazugehören und eigentlich allen
fremd sein müssten, wirkt das Phänomen, dass sie zugleich für alle
verständlich eine welthistorische Tradition weiterleben, verstörend und
anrührend zugleich. Sie gehören zu keiner Kultur, zu keinem Milieu,
sondern sind der Welt der tragischen Liebesfiktionen entstiegen; diese
allerdings, so lässt man sich leicht überzeugen, ist realer als jede
deutsche oder türkische »Kultur«, die im Gegenzug nur ein billiger Abklatsch
von Imaginationen ist. Kultur als »Essenz«, als Gründungmythos,
stellt sich als ideologisch heraus; allerdings handelt es sich um eine
politisch hochwirksame und produktive ideologische Konstruktion. Die

4 Siehe Audiokommentar zu: Akın, Fatih: Gegen die Wand, Spielfilm, Corazon
International, Deutschland 2003/2004.
5 Vgl. Ezli, Özkan: »Von der Identität zur Individuation. Gegen die Wand:
eine Problematisierung kultureller Identitätszuschreibungen«. In: Konfliktfeld
Islam in Europa, hg. v. Monika Wohlrab-Sahr/Levent Tezcan, Soziale
Welt Sonderband 17 (2007), S. 283-304.

Funktionsweisen von kulturalistischen Zuweisungen heraus zu arbeiten,
zu diskutieren und zu kritisieren, dieser Aufgabe ist der erste Teil der
hier versammelten Beiträge gewidmet.
Der Ethnologe Thomas Hauschild konstatiert für die Entwicklung seiner
Disziplin, dass niemand mehr in der Ethnologie, besonders in der international
stark verbreiteten dekonstruktivistischen Ethnologie, mit einer
Rückkehr des Begriffs »Ehre« im Zusammenhang der Ehrenmorde gerechnet
hätte. Mit einer semantischen Expansion des so genannten »Ehrenmords
« kehrte auch die Vorstellung von »Kultur als Essenz« zurück:
»Nach der Skandalisierung von Morden im Namen der Ehre in den letzten
Jahren sind wir aufgefordert, deutlich Antwort auf die Frage zu geben,
ob Zuwanderer aus dem Mittelmeerraum, ob Männer aus tribalen,
patrilinear organisierten Gesellschaften, ob muslimische Männer durch
ihre Kultur genötigt sind, gelegentlich Mitglieder ihrer eigenen Familie
zu töten. Und wir müssen uns mit diesem Thema angesichts einer kritischen
weltpolitischen Situation positionieren, wo der so genannte Ehrenmord
obendrein immer häufiger pauschal ›dem Islam‹ zugeordnet
wird«6 (S. 29). Dieser Pauschalisierung begegnet Hauschild konkret
in deutschen Gerichtsentscheidungen zu Ehrenmordfällen, die in der
Regel als Affekthandlungen verhandelt werden, weil sie an einen islamischen
Kulturcode gebunden seien. Es gebe, so Hauschild, nach den Gerichtsurteilen
einen Zwang zum Ehrenmord, einen »Zwang zur Kultur«,
der Ehrenmorde entsprechend nicht als Handlungen aus »niederen Beweggründen
« definieren kann (S. 25). Jedoch beweise schon eine oberflächliche
Akteneinsicht, dass es sich in den meisten Fällen nicht um
Clanaufträge handelt. Vielmehr zeigen sich heterogene Motivationen der
Täter, die nicht auf Kultur, sondern auf gespannte, von dramatischem
Streit gekennzeichnete Patchwork-Familienverhältnisse verweisen.
Vergleichbare Kulturalisierungen seit dem 11. September sehen auch
die Soziologen Levent Tezcan und Jörg Hüttermann in der deutschen,
aber auch in der internationalen Ausländer- und Migrationspolitik. Aus
einer Makroperspektive zeigt Tezcan auf, dass in England, den Niederlanden
und in Deutschland Kultur sich »gegenwärtig unter den operativen
Gesichtspunkten der Regierbarkeit primär in Religion übersetzen
lässt. Religion soll qua Konstitution gesellschaftlich verantwortbarer
Subjekte die Regierbarkeit multikultureller Gesellschaft gewährleisten
« (S. 48). Hier erfolgt eine systematische Einbindung von Religion
(Islam) in die Integrationspolitik bei der es gilt, Gefahrenpotentiale und

6 Die Seitenzahlen im Fließtext nach den Autoren beziehen sich im Folgenden
auf den vorliegenden Band.

Ressourcen der Migrationsbevölkerung zu ermitteln. Die Migranten
würden als religiöse Subjekte verstanden; wobei zu erwähnen ist, dass
diese »Entdeckung« des Islams partiell von den Migranten der zweiten
Generation durchaus selbst angebahnt wurde.7 Wir haben es bei den neuen
Integrationspolitiken im Schatten der Terrorakte in den Vereinigten
Staaten und in Europa mit einer Islampolitik zu tun, »die auf die Zurichtung
berechenbarer muslimischer Subjekte zielt« (S. 76).
Gegen die Gleichsetzung von »Migrant« und Muslim wendet sich
auch der Beitrag von Jörg Hüttermann. Kulturkonflikte, zum Beispiel der
Moscheenstreit, seien nicht der Kultur, sondern dem Sozialen geschuldet.
Die vermeintlichen Kulturkonflikte in der deutschen Einwanderungsgesellschaft
sind nach Hüttermann Rangordnungskonflikte: »Gerade der
Übergang vertikaler Hierarchien zum Differential einer prekären Vormacht
über erstarkende Fremde ist eine wichtige Bedingung für die
Entzündung gruppenbasierter Rangordnungskonflikte. […] Sie durchbrechen
lebensweltlich sedimentierte Rangordnungsgrenzen und bedrohen
das eingelebte Machtdifferential« (S. 120). Hüttermann, Tezcan und
Hauschild konstatieren, dass Integrationsfragen immer mehr als religiöskulturelle
Fragen erscheinen. Problematisch ist dies, weil sich so Konflikte
und Probleme durch die Aufrufung »tiefster Kulturschichten oder
höchster theologischer Wahrheiten in nicht mehr verhandelbare ›Entweder-
oder-Konflikte‹ verwandeln«.
Der Blick auf kulturelle Grenzziehungen bestimmt auch den Beitrag
Valentin Rauers, der Kulturenzwänge in öffentlichen Aussagen der türkischen
Dachverbände TBB (Türkischer Bund Berlin-Brandenburg) und
TGD (Türkische Gemeinde in Deutschland) in den Printmedien zwischen
den Jahren 1995 bis 2004 nachgeht. In diesem Zeitraum waren es vor allem
die thematischen Schwerpunkte »Staatsbürgerschaft«, »Islam« und
»Integration«, die den Mediendiskurs seitens der Verbände bestimmten,
»die grundsätzlich auf die Bearbeitung und Reflexion kultureller Grenzziehungen
zielen« (S. 86). In diesen Feldern zeigt Rauer auf, dass die
grundlegende Kulturunterscheidung eigen/fremd nicht eindeutig angewendet,
sondern in den genannten Bereichen differente Variationen erfährt,
die Kulturenzwänge problematisiert.
Auf eine Verhandlungsform von Kulturen jenseits einer »Entwederoder-
Logik« macht Martin Zillinger in der marokkanischen Migration

7 Vgl. Schiffauer, Werner: »Vom Exil- zum Diaspora-Islam. Muslimische
Identitäten in Europa«. In: Zeitschrift für sozialwissenschaftliche Forschung
und Praxis, Jahrgang 55 (2004), Heft 4, S. 347-368.
8 Hirschmann, Alfred: »Wieviel Gemeinsinn braucht die liberale Gesellschaft?
«. In: Leviathan, Zeitschrift für Sozialwissenschaft 22 (1994),
S. 293-304, hier S. 303.

aufmerksam, deren Ausdruck von Rapmusik bis hin zu auf den ersten
Blick traditionell organisierten Hochzeiten von Migranten im Emigrationsland
Marokko reichen. Bei seinen ethnographischen Analysen von
Hochzeiten, mystische Prozessionen (Æikr) und Videoclips stellt er transversal
eine Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigkeiten, wie die Kopplung
von Inszenierung und Authentizität, von Individualität und Kollektivität,
von Staat und individuellem Körper dar, die sich mit einer »sowohl (modern)
als auch (nicht-modern)-Logik« auf den Sufismus beziehen und
dabei nicht auf die segregierende, sondern integrierende Kraft von Kultur
verweisen, die sich jedoch der Konstitution ganzheitlicher Kultursubjekte
verweigert.
Schreibweisen der Migration – so der Titel des zweiten Teils –
stellen offenbar eine zeitgleiche, einflussreiche und komplexe Gegenbewegung
zu den Tendenzen der Kulturalisierung dar. Wollten die
Schriftsteller der ersten Einwanderungsgeneration noch die Sorgen und
Nöte ihrer Landsleute in der Diaspora vertreten, so kann davon heute
keine Rede mehr sein. Weder die türkische noch die deutsche noch eine
irgendwie geartete deutsch-türkische Kultur des Dazwischen wird hier
repräsentiert. Die Schreibweisen der Migration sind »trans-kulturell«
nicht nur in dem Sinne, dass sie nicht einer bestimmten Kultur zuzuordnen
sind; hier wird »Kultur« vielmehr »transzendiert« in einem kritischen
Sinne, der die Zwänge jeglicher kultureller Repräsentation
aufgreift, unterläuft und vor allem ironisiert. Die lange Zeit an der Peripherie
der Kultur angesiedelte Literatur- und Filmproduktion von
Migranten erweist sich so mittlerweile als zentrales Feld kulturtheoretischer
und kulturwissenschaftlicher Diskussionen.
Für die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Yasemin Y¤ld¤z
zeigt sich die Komplexität einer ästhetischen, sprachlichen und sozialen
Verortung von Schreibweisen der Migration besonders in der Kanak
Sprak, die der deutsch-türkische Literat Feridun ZaimoÊlu Mitte der
1990er Jahre mit seinen Publikationen Kanak Sprak: 24 Mißtöne vom
Rande der Gesellschaft (1995), Abschaum (1997) und Koppstoff (1998)
initiierte. Der hier beschriebene und zugleich erfundene »Kanake«
hat die »deutsche Kulturlandschaft des letzten Jahrzehnts insgesamt
animiert« (S. 190). Hier wird eine in Deutschland besonders verwurzelte
Vorstellung der Verbindung zwischen Sprache, Nation und Ethnie imaginativ
unterlaufen. »Kanak Sprak inszeniert die deutsche Sprache […]
als einen Ort, an dem Lokales und Transnationales zusammentrifft; einen
Ort, der nationale Erinnerungen als auch die Erinnerung an nichtnationale
Sprachen und Geschichten in sich aufgenommen hat«: Eine
Neuimagination der deutschen Kultur als Transkultur (S. 203).

Was hier für die deutsch-türkische Literatur gilt, finden wir ähnlich
in der deutsch-türkischen Filmproduktion. Özkan Ezli zeigt einen Wandel
in deutsch-türkischen Filmen von der 1980ern bis zu Fatih Ak¤ns
Film Auf der anderen Seite auf, die er als einen Übergang von interkultureller
zu kultureller Kompetenz nachzeichnet. Bei dieser stichprobenartigen
Kurzgeschichte des deutsch-türkischen Films konzentriert sich Ezli
kultur- und filmanalytisch auf die Filme Tevfik Ba¢ers aus den 1980ern
und auf die beiden Filme Gegen die Wand (2003) und Auf der anderen
Seite (2007) von Fatih Ak¤n. Wenn Gegen die Wand noch durch den Inhalt
seiner Geschichte als ein deutsch-türkischer Film bezeichnet werden
konnte, so ist Auf der anderen Seite als globales und internationales Kino
zu sehen, das sich von der Vorrangigkeit des deutsch-türkischen Konnex'
gelöst hat. Trotz der biographisch bedingten Disposition, die Migration,
Familie, Nation und Kultur bündelt, geht es in Akıns Film weder um
einen Kulturdialog noch um einen Kulturkonflikt. Kultur wird in Auf der
anderen Seite vielmehr von einer Unbestimmtheit getragen, die moderne
und vormoderne Vorstellungen von Kultur, wie sie Dirk Baecker in
Wozu Kultur? ausführt,9 zusammenbringt. Jenseits einer Logik der Identität,
der Essentialisierung wird Kultur hier als Material und nicht als Ziel
der Selbstbestimmung verhandelt. Ak¤n ging es nach seinem Audiokommentar
zum Film darum, visuelle Ähnlichkeiten und somit visuelle
Beziehungen zwischen den Protagonisten zueinander und den Protagonisten
zu den Dingen und Landschaften zu schaffen.10 Sie bestimmen die
Behandlung und Bearbeitung von Kultur in diesem Film, die die behandelten
Kulturen »auf eine ›vorerste‹ [avant-première] (Derrida) Kultur
zurückführt, der man Prägungen, Verletzungen, Begehrlichkeiten verdankt,
die man empfangen hat, als man noch gar nicht wusste, dass es so
etwas wie eine Kultur gibt«.
Auch Andreas Pflitschs vergleichende Analyse der Romane Das Leben
ist eine Karawanserei von Emine Sevgi Özdamar, Leyla von Feridun
Zaimoğlu und Die Tochter des Schmieds von Selim Özdoğan konstatiert,
dass in der deutsch-türkischen Literatur nicht von Kulturalisierungen
die Rede sein kann. Vielmehr stehen nach Pflitsch beim Vergleich dieser
drei Romane in einem innerdeutsch-türkischen Verhältnis zwei Generationen
von AutorInnen gegenüber, die die gleichen Lebensgeschichten
der ersten Generation, bedingt durch unterschiedliche Narrationsformen
zwischen »migrierender Fiktion vs. fiktiver Migration«, differen

9 Baecker, Dirk: Wozu Kultur?, Berlin 2003, S. 28.
10 Akın, Fatih: Auf der anderen Seite, Spielfilm, Corazon International,
Deutschland/Türkei 2006/2007.
11 Baecker, Dirk: Wozu Kultur?, S. 31.

bearbeiten.12 Zwei Interviews mit prominenten Vertretern der zeitgenössischen
deutschen Literaturszene runden den zweiten Teil des Buches ab.
Beide Autoren, Zaimoğlu und Trojanow, zählen sich dezidiert nicht zur
Migrationsliteratur.13 Keiner sieht sich als Repräsentant einer bestimmten
»Kultur«, weder der deutschen noch der türkischen noch der bulgarischen
etc. Das Deutsche als Literatursprache bildet vielmehr einen
Raum, der mit Kontexten unterschiedlichster Herkunft angefüllt wird.
Die Beiträge zu den Kapiteln Schreibweisen der Migration und
Weltliteratur (dritter Teil) zielen in enger Relation zum Ausgangskapitel
Kulturalisierungen darauf, Veränderungen in Literatur, Kultur und den
Wissenschaften durch transkulturelle Bewegungen in Zeiten der Globalisierung
aufzuzeigen und sie kulturtheoretisch zu verorten. Aufgrund der
gesteigerten Zirkulation von Literatur in der Welt durch Migration und
hohe Mobilität wird seit den 1990er Jahren intensiv darüber diskutiert, ob
der traditionelle Begriff »Weltliteratur« in Zeiten der Globalisierung Bedeutung
haben kann oder ob es anderer Begriffe bedarf, um die neuen
nichtnationalen, transnationalen, transkulturellen Textgattungen und Rezeptionsgewohnheiten
zu beschreiben. In kurzen Abständen erschien eine
ganze Reihe von Artikeln und Büchern zum Thema Weltliteratur.

12 Siehe hierzu auch: Ezli, Özkan: »Von der Identitätskrise zu einer ethnographischen
Poetik: Migration in der deutsch-türkischen Literatur«. In:
Literatur und Migration, hg. v. Heinz Ludwig Arnold, Text und Kritik
Sonderband 9, München 2006, S. 61-73.
13 Die beiden Autoren waren im November 2007 als Poetikdozenten in Tübingen.
Die Vorlesungen wurden publiziert: Feridun Zaimoglu, Ilija Trojanow:
Ferne Nähe, hg. v. Dorothee Kimmich/Philipp Ostrowicz, Künzelsau
2008.
14 Die »American Comparative Literature Association« lässt in 10-jährigen
Abständen Berichte zur Lage der Disziplin schreiben. Nach Comparative
Literature in the Age of Multuculturalism (1995) erschien 2006 Comparative
Literature in the Age of Globalization. Haun Saussy, der den letzten
Bericht herausgab, konstatiert zwei seit 2003 aktuelle Modelle der komparatistischen
Forschung und Lehre: »›world literature‹ and the politics of
empire« (siehe: Saussy, Haun: Comparative Literature in an Age of Globalisation,
Baltimore 2006, S. viii). Die Hauptakteure dieser neuesten Weltliteraturdiskussion
sind vor allem Emily Apter, David Damrosch, Franco
Moretti, Christopher Prendergast. Aber auch in Deutschland und Frankreich
sind wichtige und vieldiskutierte Arbeiten entstanden. So hat Manfred
Koch in Weimarer Weltbewohner sehr differenziert die Entstehung
von Goethes Begriff »Weltliteratur« analysiert (siehe Koch, Manfred:
Weimaraner Weltbewohner. Zur Genese von Goethes Begriff ›Weltliteratur‹,
Tübingen 2002). Pascale Casanova hat in La république mondiale des
lettres (Paris 1999) ökonomisch-politische und literarische Zirkulationen

Trotz neuer Untersuchungen zu Aspekten der Übersetzung oder zum
Lesen als weltliterarischem Modus dominieren weiterhin kanonischqualitative
und extensiv-quantitative Konzepte das Feld der Weltliteraturdiskussion.
Franco Moretti hat sich deswegen auch gegen eine reine
Ausweitung der weltliterarischen Lesezone ausgesprochen und für ein
»distant reading« plädiert, das beispielsweise der wellenförmigen Wanderung
der Romangenres durch die Welt folgt.15 In welcher Weise Konzepte
von »Weltliteratur«, wie sie das 19. Jahrhundert vordenkt, die
heutige Rezeption und Produktion noch erfassen können, untersucht
Dorothee Kimmich. Nicht nur – vorwiegend in großen Weltsprachen geschriebene
und – weltweit verbreitete Texte bestimmen, was heute Weltliteratur
ist. Vielmehr gehört dazu gerade der Aspekt der transkulturellen
Überschreitung von »Kultur« als Wirklichkeit und Entität. Die neue
Weltliteratur initiiert weder einen »Dialog« der Kulturen noch »interkulturelle
« Kommunikation, sondern stellt vielmehr die Existenz von »Kulturen
« als Akteuren oder Systeme selbst in Frage.
Der Romanist Ottmar Ette kartographiert in seinem weit ausgreifenden
Aufsatz eine Theorie der europäischen Literatur, die sich nicht mehr
auf ein europäisches Territorium, sondern auf einen Bewegungsraum
zwischen dem National- und Weltliterarischen bezieht – und dabei an
Schreibwege und -formen des lateinischen Mittelalters erinnert. Nach
einem Überblick über Globalisierungsphasen schließt er an Überlegungen
Giorgio Agambens und Jorge Semprúns an und zeigt anhand eindrücklicher
Beispiele (Albert Cohen, Emma Kann, Cécile Wajsbrot oder
Max Aub), wie sich »aus den Konzentrationslagern ein neues, vielsprachiges
und vielkulturelles Europa erhebt, das zum Gegenpol jeglichen
totalitären Denkens wird« (zweites Kapitel). Er verbindet damit überraschenderweise
die Literatur der Shoah mit ihren Bewegungsmustern von
vielfacher Flucht, Deportation und Internierung mit der Imagination einer
globalisierten Literatur, die sich aus geschichteten Migrationsprozessen
speist und ein translinguales Schreiben im weltweiten Maßstab repräsentiert
(José Oliver, Emine Sevgi Özdamar, Sherko Fatah und Yoko Tawada).
Nacim Ghanbari untersucht anhand einer exemplarischen Analyse
von Buf-e kur (Die blinde Eule) des persischen Schriftstellers Sadeq
Hedayat wie sich durch diesen Text die weltliterarische Initiation der
kurzgeschlossen. Siehe aber auch die Arbeiten von Ottmar Ette und Elke
Sturm-Trigonakis: Global playing in der Literatur. Ein Versuch über die
Neue Weltliteratur, Würzburg 2007.
15 Moretti, Franco: »Conjectures on World Literature«. In: Debating World
Literature, hg. v. Christopher Pendergast, London/New York 2004, S. 148-
162.

iranischen Literatur vollzieht. Motoren für Hedayats weltliterarischen
Anspruch sind dabei die Mobilität von Texten, die Artikulation von
Rückständigkeit mittels Modernisierungstheorien oder der Import literarischer
und folkloristischer Stilmittel. Hedayat gelingt letztendlich ein
weltliterarischer Erfolg, weil er regionale Literatur mittels Verfahren der
Doppelung in Weltliteratur umschreibt.
Erhard Schüttpelz beleuchtet im Dialog mit Thomas Geider einen
anderen Aspekt der Weltliteratur:16 Er konstatiert im Zusammenhang mit
seinen Studien zur ethnoliterarischen Moderne in Die Moderne im Spiegel
des Primitiven viel eher eine Schrumpfung des Literaturbegriffs seit
den 1960er Jahren, der das völlige Aufbrechen des Eurozentrismus und
Universalismusanspruchs der »Neuen Weltliteratur« in Frage stellt.
Schüttpelz konstatiert, dass seit dem Poststrukturalismus und seinem
dominanten Textualismus ein Literaturbegriff entsteht, der die Einbindung
oraler Literatur in die Konzepte von Weltliteratur verhindert. Damit
bleiben trotz des subversiven Gestus postkolonialer Theorie Asymmetrien
erhalten. Denn während in der Hochzeit des Kolonialismus der
Zustrom verschriftlichter oraler Stimmen den europäischen Hochliteraturbegriff
zumindest zeitweise in Frage stellte und sich Autoren, Linguisten,
Ethnologen und Schriftsteller mit diesen – vielleicht einzigen
wirklich universalen – Traditionen aktiv auseinandersetzten, wird orale
Literatur nach 1960 aus dem Kanon ausgeschlossen. Das Mitte des 19.
Jahrhunderts beginnende Othering erschafft eine Dichotomie zwischen
der Mündlichkeit der Nicht-Europäer und Schriftlichkeit der Europäer,
die dazu führt, dass in den 1960er Jahren in den Medientheorien eine Rehabilitierung
der Mündlichkeit versucht wurde, die aber den Literaturbegriff
unangetastet ließ.
Schüttpelz und Geider werfen in diesem Band deswegen gemeinsam
einen Blick auf »Weltliteratur in der Longue durée«. Schüttpelz differenziert
dabei in Anlehnung an Ferdinand Braudels Erforschungen der
Weltwirtschaft zwischen einer »Weltliteratur« (littérature mondiale), die
alle literarischen Erzeugnisse der Welt meint, also die weltweite Literatur,
und einer »Weltliteratur« (littérature monde) als Teil-Ausschnitt der
literarischen Aktivitäten, die eine weltumspannende Literatur erst hervorgebracht
und gestaltet hat. Um dieser universalhistorischen Frage
nachzugehen, skizziert Schüttpelz die weltweite Mobilisierung von Personen,
Dingen und Zeichen anhand von fünf »Globalisierungen« und
damit das Forschungsprogramm für einen Begriff von Weltliteratur, der
die Effekte dieser Zeitschichten berücksichtigt.

16 Der folgende Abschnitt bezieht sich auf das 11. Kapitel »Weltliteratur im
imperialistischen Zeitalter« in Erhard Schüttpelz: Die Moderne im Spiegel
des Primitiven, München 2005, S. 351-379.

Der Afrikanist Thomas Geider versteht Weltliteratur als »einen diskursiven
Raum« und Kommunikationsakt, indem nicht nur literarische
Werke, sondern auch Literaturleser, -produzenten und -wissenschaftler
sowie Interpretationsansätze, Übersetzungen, literarische Topoi in Kontakt
stehen, was er eindringlich anhand einer Fallgeschichte beschreibt,
der Editions- und Übersetzungsgeschichte von Aniceti Kiterezas Roman
Bwana Myombekere na Bibi Bugonoka Ntulanalwo na Bulihwali (Die
Kinder der Regenmacher) zeigt. Geiders Analyse des Swahili-Romans
zeigt zugleich die Chancen und die Grenzen der heutigen »Neuen Weltliteratur
«.17
Die Bewegungen und Veränderungen, die in den Kapiteln Schreibweisen
der Migration und Weltliteratur skizziert werden, stehen in einem
gegenläufigen, jedoch besonderen Verhältnis zu den soziologischen und
ethnologischen Reflexionen im Einstiegskapitel Kulturalisierungen.
Wenn der Kulturenzwang einheitliche und ganzheitliche Kultursubjekte
konstituiert, die eine Entweder-oder-Struktur implizieren und dabei von
einem geobotanischen Menschenbild ausgehend Kultur nur als abstraktreine
Identität ideomotorisch18 denkt, treffen wir in den literarisch und
filmisch bearbeiteten Migrationen von Menschen und Dingen, in den
weltweiten transkulturellen Zirkulationen von Texten auf komplexe Verhandlungen
von Kulturen, die zwar künstlerisch geformt, jedoch realen
Lebensgeschichten entnommen sind und so eine zentrale sensitive Ebene
einführen. Diese Bindung von Ideo- und Sensumotorik,19 die aufgezeigte
Wechselseitigkeit von Leben und Fiktion ist wie in Fatih Akıns Filmen
keine trennbare. Dort wo sie getrennt wird, kommt es zu Kulturenzwängen,
wird Kultur zur Ideologie des 21. Jahrhunderts.
Der Band entstand durch eine Kooperation mit dem Exzellenzcluster 16
»Kulturelle Grundlagen von Integration« der Universität Konstanz,
dem wir auch für Förderung der Tagung und der Publikation herzlich
danken. Ein weiterer Dank geht an Philipp Ostrowicz für seine redaktionelle
Mitarbeit. Die Konzeption der Tagung und des Bandes entstand im
17 Zum Begriff der »Neuen Weltliteratur« siehe Sturm-Trigonakis, Elke: Global
playing in der Literatur. Ein Versuch über die Neue Weltliteratur,
Würzburg 2007.
18 Eine Ideomotorik bindet das Sichtbare, das Konkrete an ein abstraktes Gesetz,
an eine Idee.
19 Eine Sensumotorik bindet das Sichtbare an Körper und Dinge. Ihre Logik
ist nicht an abstrakte Begriffe oder Gesetze gebunden. Die Begriffe Ideound
Sensumotorik gehen auf eine Unterscheidung von Gilles Deleuze zurück.
Siehe: Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, München 1997,
S. 31.