lehrerbibliothek.deDatenschutzerklärung
Beratung als Herausforderung für Grund- und Förderschullehrkräfte im Spannungsfeld der Neugestaltung des Schulanfangs Fallporträts im Spiegel des Arbeitsbogenkonzepts
Beratung als Herausforderung für Grund- und Förderschullehrkräfte im Spannungsfeld der Neugestaltung des Schulanfangs
Fallporträts im Spiegel des Arbeitsbogenkonzepts




Stephanie Teumer

Verlag Julius Klinkhardt
EAN: 9783781518605 (ISBN: 3-7815-1860-4)
226 Seiten, paperback, 17 x 24cm, 2012

EUR 32,00
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Der Anspruch allen Kindern am Schulanfang ein gemeinsames Lernen zu ermöglichen, verlangt von Grundschullehrerinnen und -lehrern Beratung für das eigene pädagogische Handeln anzufragen und anzunehmen, ohne die Verantwortung für eine als besonders schwierig erlebte Lehr- und Lernsituation abzugeben.

Gleichsam werden von den Förderschullehrerinnen und -lehrern Veränderungen im Hinblick auf ihr professionelles Rollenverständnis erwartet. Nicht mehr die sonderpädagogische Diagnostik der Förderbedarfe des Kindes und die sonderpädagogische Förderung von Schülerinnen und Schülern sollen den Kern ihrer Professionalität ausmachen. Vielmehr wird von ihnen verlangt, dass sie ihre diagnostischen und pädagogischen Kompetenzen in einen Beratungsprozess einbringen, in dessen Zentrum die Gestaltung individualisierter Lernangebote durch die Grundschullehrerinnen und -lehrern steht.

Im Hauptteil der Schrift rekonstruiert die Autorin anhand der Reflexionen von Grund- und Förderschullehrerinnen Dynamiken und Spannungsfelder, die sich im Verlauf der Beratung bezogen auf Lernschwierigkeiten eines Kindes in der Schuleingangsphase entwickeln.

Die Arbeit endet mit dem Entwurf eines Konzeptes für kollegiale Beratungsprozesse, das sich sowohl in seiner thematischen Ausrichtung als auch in seiner komplexen Struktur an enttraditionalisierten Professionalisierungsanforderungen eines inklusionsorientierten Schulsystem orientiert.
Rezension
Die z.Zt. im Entstehen begriffene inklusive Schule, die formell notwendig wird, weil die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2009 das "Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen" von 2006 ratifiziert hat (sog. UN-Behindertenrechtskonvention), bringt vielfältige Veränderungen und neue Anforderungen an Gesellschaft, Schulen, Lehrer und Schüler mit sich, die erst noch bewältigt sein wollen. Dieser Band focussiert auf das neue Verhältnis von Grundschul- und Förderschullehrern: Nicht mehr die sonderpädagogische Diagnostik der Förderbedarfe des Kindes und die sonderpädagogische Förderung von Schülerinnen und Schülern sollen die Kernaufgabe von Förderschullehrern sein, sondern dass sie ihre diagnostischen und pädagogischen Kompetenzen in einen Beratungsprozess einbringen, in dessen Zentrum die Gestaltung individualisierter Lernangebote durch die Grundschullehrerinnen und -lehrern steht. Notwendig wird damit ein kollegialer Beratungsprozess zwischen den Lehrkräften, wie es dieser Band aufzeigt.

Oliver Neumann, lehrerbibliothek.de
Inhaltsverzeichnis
Vorwort und Danksagung 8

1 Einleitung 10

2 Die neue Schuleingangsphase als institutionelle und professionelle Herausforderung – eine Einführung in das Forschungsfeld 14

2.1 Die Schuleingangsphase in der Bundesrepublik Deutschland 14
2.1.1 Neugestaltung der Schuleingangsphase im Spannungsfeld der Debatte um „veränderte Kindheit“ und „Schulfähigkeit“ 14
2.1.2 Zielstellungen, Merkmale und Organisationsformen der Schuleingangsphase in der Bundesrepublik Deutschland 17
2.1.3 Die Schuleingangsphase im Spannungsfeld von Bildungsstandards und inklusiver Orientierung 20
2.1.4 Widersprüchliche Aufgaben im Bereich des professionellen Lehrerhandelns im Schuleingangsbereich 22
2.2 Die Schuleingangsphase in Sachsen-Anhalt 24
2.2.1 Eine Situationsanalyse 24
2.2.2 Die Bildung von Förderzentren in Sachsen-Anhalt 27
2.2.3 Die Zusammenarbeit von Grund- und Förderschullehrkräften als Herausforderung 31
2.3 Resümee 32

3 Kooperation und Beratung im Kontext von Pädagogik 34

3.1 Forschungsstand 35
3.2 Ausgewählte Beratungskonzeptionen in sonderpädagogischen Handlungsfeldern 38
3 2.1 Das Modell der Kooperativen Beratung 38
3.2.2 Das Modell der Systemischen Beratung 43
3.2.3 Das Modell der lösungs- und entwicklungsorientierten Beratung 48
3.2.4 Das Modell der sonderpädagogischen Beratung als Konsultation 52
3.3 Lehrerberatung im Kontext aktueller Theoriebildung: eine Zusammenfassung 59

4 Die Beratungsanfrage als vermittelnde Instanz: eine quantitative Erkundungsstudie 61

4.1 Anliegen und Zielstellung der Studie 61
4.2 Methodisches Vorgehen 63
4.3 Ergebnisse der quantitativen Studie bezogen auf den Elementarbereich 66
4.4 Ergebnisse der quantitativen Studie bezogen auf den Schuleingangsbereich 69
4.5 Vergleiche von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Elementarbereich und Schuleingangsbereich 73
4.6 Resümee und Ausblick 74

5 Forschungsmethodische Zugänge im qualitativen Design 76

5.1 Anliegen und Fragestellung 76
5.2 Erhebung des Datenmaterials 77
5.2.1 Das problemzentrierte Interview 77
5.2.2 Ergänzende Dokumentenanalyse 81
5.3 Methoden der Dateninterpretation 82
5.3.1 Das Verfahren der dokumentarischen Methode 82
5.3.2 Das Arbeitsbogenkonzept 87
5.4 Zugang zum Forschungsfeld und Fallauswahl 91

6 Beratungsprozesse – vier Fallporträts im Spiegel des Arbeitsbogenkonzeptes 94

6.1 Das Fallporträt Eva 94
6.1.1 Besonderheiten beim Feldzugang und Sample 94
6.1.2 Zur Vorgeschichte 95
6.1.3 Die erste Analyseebene: Aufgabenkomplexe des Arbeitsbogens 104
6.1.4 Die zweite Analyseebene: Komponenten des Arbeitsbogens zum Beratungsprozess 115
6.1.5 Zusammenfassung 117
6.2 Das Fallporträt Ute 117
6.2.1 Besonderheiten beim Feldzugang und Sample 117
6.2.2 Zur Vorgeschichte 118
6.2.3 Die erste Analyseebene: Aufgabenkomplexe des Arbeitsbogens 124
6.2.4 Die zweite Analyseebene: Komponenten des Arbeitsbogens zum Beratungsprozess 140
6.2.5 Zusammenfassung 142
6.3 Fallporträt Shirin 142
6.3.1 Besonderheiten beim Feldzugang und Sample 142
6.3.2 Vorgeschichte 143
6.3.3 Die erste Analyseebene: Aufgabenkomplexe des Arbeitsbogens 147
6.3.4 Die zweite Analyseebene: Komponenten des Arbeitsbogens zum Beratungsprozess 160
6.3.5 Zusammenfassung 161
6.4 Fallporträt Nils 162
6.4.1 Besonderheiten beim Feldzugang und Sample 162
6.4.2 Zur Vorgeschichte 163
6.4.3 Die erste Analyseebene: Aufgabenkomplexe des Arbeitsbogens 166
6 4.4 Die zweite Analyseebene: Komponenten des Arbeitsbogens zum Beratungsprozess 179
6.4.5 Zusammenfassung 180
6.5 Zusammenschau der empirischen Befunde entlang des Arbeitsbogenkonzeptes 181
6.5.1 Komparative Sequenzanalyse entlang der Komponenten der Arbeitsbögen bezogen auf die Einzelfälle 181
6.5.2 Zusammenfassung 190

7 Resümee 192

8 Literatur- und Quellenverzeichnis 208
9 Abbildungs- und Tabellenverzeichnis 224



Vorwort und Danksagung
Ich möchte zunächst näher auf meine persönlichen Beweggründe eingehen, die mich dazu veranlasst
haben, diese Arbeit zu schreiben und, was mir ganz besonders wichtig ist, mich bei all
denen bedanken, die mich auf diesem Weg in ganz unterschiedlicher Art und Weise begleitet
und unterstützt haben.
Im August 1989 begann ich meinen Schuldienst an einer damaligen Hilfsschule. Meine Hauptaufgabe
war es, Kinder zu unterrichten, die laut ihrer Gutachten als lernbehindert etikettiert
worden sind. In den folgenden Jahren veränderten sich zunehmend meine Aufgabenfelder.
Das Unterrichten vor der eigenen Klasse trat immer mehr in den Hintergrund. Es veränderten
sich nicht nur meine Arbeitsaufgaben, sondern auch meine Dienstorte. Ich pendelte zwischen
verschiedenen Grundschulen, einer integrativen Kindertagesstätte und der Förderschule. Ich
unterrichtete deutlich weniger und übernahm zunehmend Arbeitsaufgaben wie: die Planung
und Umsetzung des gemeinsamen Unterrichts für Kinder an den Grundschulen, die Gestaltung
von Übergängen vom Elementar- in den Primarbereich und die Beratung von Eltern und
Kolleginnen und Kollegen der allgemeinen Schule.
Über ein berufsbegleitendes Studium an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg erhielt
ich im Oktober 2002 das Angebot, mit einer halben Stelle als abgeordnete Lehrerin an
der Universität zu arbeiten. Von Beginn an war hier für mich die Arbeit von Lehrkräften im
Schuleingangsbereich von besonderem Erkenntnisinteresse und dies gerade vor dem Hintergrund
einer Debatte um die Gestaltung einer Schuleingangsphase, in der alle Kinder in der
Grundschule willkommen sind. In diesem spannungsgeladenen Feld wollte ich forschen und
bewarb mich im Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt um eine Freistellung zur Promotion
an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Von Seiten des Ministeriums und
des Landesverwaltungsamtes wurde ich in meinem Anliegen unterstützt und konnte mit Beginn
des Schuljahres 2007/08 von der Rolle der Lehrerin in die Rolle der Forscherin wechseln,
zumindest für eine bestimmte Anzahl von sogenannten Anrechnungsstunden. Dieser Wechsel
vollzog sich nicht plötzlich mit Beginn des offiziellen Datums für die Freistellung, sondern
wurde vielmehr zu einem Prozess. In diesem habe ich es zunehmend besser verstanden den
hierfür notwendigen Perspektivenwechsel zuzulassen und mir gedanklich eine „neue Brille“
aufgesetzt, mit der ich nun auf ein Feld schaue, in dem ich bisher als unterrichtende und beratende
Lehrkraft tätig war.
Zu Beginn war nicht absehbar, welche Irritationen der Wechsel auslösen und welchen Einfluss
diese auf meine berufliche Entwicklung haben würden. Ich habe gelernt, dass Forschung ein
anstrengender, von Widersprüchen bestimmter, am Ende aber gewinnbringender Arbeitsprozess
ist. Weiter durfte ich die wertvolle Erfahrung machen, dass ich in jeder Phase des Forschungsprozesses
Menschen an meiner Seite hatte, die in ihrer ganz eigenen Art präsent waren.
Ihnen gilt mein ganz besonderer Dank.
Teumer, Beratung als Herausforderung für Grund- und Förderschullehrkräfte im Spannungsfeld der
Neugestaltung des Schulanfangs
ISBN 978-3-7815-1860-5
VERLAG JULIUS KLINKHARDT, BAD HEILBRUNN 2012
Vorwort und Danksagung | 9
Zu allererst ein herzlicher Dank an alle Lehrerinnen, die sich für die Interviews viel Zeit genommen
haben und mich an ihren Erwartungen und Wünschen in Bezug auf die Beratung
haben teilhaben lassen.
Ich danke Prof. Dr. Ute Geiling und Prof. Dr. Kirsten Puhr, die diese Arbeit von Beginn an
durch ihre fachlichen und methodischen Anregungen, Nachfragen und Hilfestellungen begleitet
haben.
Mein Dank geht weiter an Dr. Tanja Kinne, Nadja Kulig, Livia Makrinus, Toni Simon, Constanze
Söllner und Prof. Dr. Sandra Tänzer, die in unserer Forschungswerkstatt gemeinsam mit
mir Daten interpretiert, Texte zur Korrektur gelesen haben und immer da waren, wenn es so
schien, als würde es nicht weiter gehen. Neben der Forschungswerkstatt in der Universität gab
es auch, ich nenne sie mal ehrenamtliche Forscherinnen, die sich immer wieder angeboten haben,
Texte schon in ihrer Rohfassung zu lesen oder mir einfach nur zuhörten, wenn ich gerade
mal wieder das Gefühl hatte, nicht weiter zu wissen – Babett Sensel, Beate Dawils, Daniela
Naumann, Helga Herrmann, Dr. Ricarda Hübner vielen Dank dafür.
Danke sage ich allen, die im Forschungskolloquium meinen Ausführungen zum gerade aktuellen
Forschungsstand zugehört und deren Rückmeldungen mich im Anschluss wieder ein Stück
vorangebracht haben.
Frau Dr. Karin Greve, als eine Vertreterin des Kultusministeriums, danke ich für ihre Unterstützung
und ihren fachlichen Rat immer dann, wenn der Schwerpunkt meiner Recherchen
sich auf die administrative Seite der Schulreformen des Landes Sachsen-Anhalt konzentrierte.
Stellvertretend für die schulfachlichen Referenten danke ich Herrn Thomas Redlich für seine
Unterstützung vor allem im Prozess der Datenerhebung für die quantitative Studie.
Schließlich danke ich meiner Familie, ganz besonders meinen Eltern, meinem Ehemann, meiner
Tochter und Christian, ohne sie hätte ich nicht den Mut gehabt, mit dieser Arbeit zu
beginnen und ohne sie hätte ich sie auch nicht beenden können.
Danke sage ich allen, die es mir zugetraut haben, diese Arbeit zu schreiben.
Teumer, Beratung als Herausforderung für Grund- und Förderschullehrkräfte im Spannungsfeld der
Neugestaltung des Schulanfangs
ISBN 978-3-7815-1860-5
VERLAG JULIUS KLINKHARDT, BAD HEILBRUNN 2012


1 Einleitung
Nunmehr seit 90 Jahren lassen sich vielfältige Diskussionen um die Gestaltung des Schulanfangs
nachzeichnen. Den Forschungsergebnissen von Faust-Siehl und Speck-Hamdan folgend
reichen diese von der Forderung nach einem
„Ausbau der Schulkindergärten für zurückgestellte Schulanfänger, einem Boom der Vorschulerziehung
in den 60er und 70er Jahren, 1970 die Einbeziehung des Elementarbereichs in den Strukturplan des
Bildungswesens, in der gleichen Zeit die Einrichtung von Eingangsstufen mit einer Schulaufnahme
der Fünfjährigen, mehrfach Veränderungen des Einschulungsalters und des Einschulungstermins, Entwicklung
und Diskussion von Diagnoseverfahren zur Schulfähigkeit, der Beobachtungszeitraum mit
der Möglichkeit der Ausschulung, Diagnose-Förder-Klassen, Vorlaufkurse für Kinder mit nichtdeutscher
Muttersprache, die Kooperation Kindergarten – Grundschule zur besseren Abstimmung von
Elementar- und Primarbereich und schließlich Schulversuche zur neuen Schuleingangsstufe“ (ebd.
2001, 7).
Als Ausgangspunkt der unterschiedlichen Reformansätze wird zumeist darauf verwiesen, dass
die Zusammensetzung der Grundschülerschaft zunehmend heterogen ist und somit individuelle
Entwicklungsdifferenzen von ein bis drei Lernjahren bereits in der Schuleingangsphase zur
Regel werden.
Im Mittelpunkt aktueller Reformbestrebungen des Schulanfangs steht das Kind mit seinen
individuellen Voraussetzungen und Bedürfnissen. Die Realisierung einer derart ausgerichteten
Vision kann als fachliche Herausforderung an alle an der Neugestaltung des Schulanfangs
Beteiligten gewertet werden. Mit dieser grundlegenden Neuakzentuierung verbindet sich ein
Abschied von einer lang gehegten Illusion, dass es über bestimmte Diagnoseinstrumente gelingen
kann, sogenannte homogene Lerngruppen zu Schulbeginn einzurichten. Vielmehr geht
es darum, die Heterogenität als Lernchance anzunehmen und sich auf diese neue Herausforderung
einzulassen.
Im Rahmen dieser Auseinandersetzung ist zu beobachten, dass unter anderem Ziele, Anforderungen
und notwendige Rahmenbedingungen zur Gestaltung des Überganges vom Elementar-
zum Primarbereich sowie zur Gestaltung der Schuleingangsphase immer wieder neu
thematisiert werden. Da die Hoheit über das Bildungssystem in Deutschland bei den Ländern
liegt, gibt es hierzulande nahezu 16 Varianten der strukturellen und curricularen Gestaltung
der Schuleingangsphase.
Innerhalb meiner Arbeit konzentriere ich mich vorrangig auf das Spannungsfeld zwischen
Grund- und Förderschule bei der Gestaltung der Schuleingangsphase, und zwar fokussiert auf
Veränderungen im Bundesland Sachsen-Anhalt. Im Schulgesetz des Landes ist festgelegt, dass
grundsätzlich alle Kinder, die bis zum 30. Juni das sechste Lebensjahr vollenden, in die Grundschule
eingeschult werden. Mit dieser Festlegung sind „Grundschulen nunmehr nach dem
Neunten Gesetz zur Änderung des Schulgesetzes verpflichtet, sich konzeptionell, schulorganisatorisch
und inhaltlich mit der Ausgestaltung des flexiblen Schuleingangs auseinanderzuset-
Teumer, Beratung als Herausforderung für Grund- und Förderschullehrkräfte im Spannungsfeld der
Neugestaltung des Schulanfangs
ISBN 978-3-7815-1860-5
VERLAG JULIUS KLINKHARDT, BAD HEILBRUNN 2012
Einleitung | 11
zen“ (Bek. des MK – 32-81027, 15.08.2005). Mit Blick auf die administrative Umsetzung dieser
gesetzlichen Neuregelung, insbesondere der bildungspolitischen Veröffentlichungen hierzu,
zeigt sich allerdings, dass in Sachsen-Anhalt weiterhin eine deutliche Trennung zwischen den
Zuständigkeitsbereichen von Elementar- und Primarbereich sowie Grund- und Förderschulen
beibehalten wird.
Von Seiten des Förderschulsystems wurden bzw. werden in Sachsen-Anhalt Förderzentren mit
dem Ziel einer signifikanten Verbesserung der Anschlussfähigkeit von Lern-, Bildungs- und
Persönlichkeitsentwicklung zwischen den institutionellen Bereichen aufgebaut und weiterentwickelt.
Innerhalb der Rahmenkonzeption zur Entwicklung der Förderzentren wird ausdrücklich
der kooperative Zusammenschluss der beteiligten Institutionen aus dem Elementar-,
Primar- und Förderschulbereich thematisiert. Im Kern wird ein Perspektivenwechsel von der
pädagogischen Einzelarbeit der professionellen Akteure mit dem Kind hin zu vernetzten Arbeitsprozessen
in einem Team eingefordert, mit dem Ziel, einen Schulanfang und eine Schuleingangsphase
zu gestalten, in der alle Kinder gemeinsam lernen können.
In diesen Reformprozess ist die Institutionalisierung der sogenannten „Beratungsanfrage” als
förderpädagogisches Angebot in das System der Grundschule eingebettet, die dem Antrag auf
ein sonderpädagogisches Feststellungsverfahren vorgeschaltet wurde. Die Beratungsanfrage
wurde mit Beginn des Schuljahres 2006/07 als vermittelnde Instanz zwischen den unterschiedlichen
Bereichen und als Arbeitsinstrument eingeführt. Mit Hilfe der Beratungsanfrage soll
überprüft werden, ob die jeweilige Antragsstellung auf Einleitung des sonderpädagogischen
Feststellungsverfahrens gerechtfertigt ist. Bisher weiß man wenig darüber, wie die Lehrkräfte1
der Grund- bzw. Förderschule mit dieser neuen Situation, einerseits der Beauftragung beratend
tätig zu sein (Auftrag an Förderschullehrerin) und andererseits dem Auftrag Beratung
anzunehmen (Auftrag an Grundschullehrerin), umgehen. Es stellt sich die Frage, wie die Akteure
ihr professionelles Handeln im Kontext der Bearbeitung der Beratungsanfrage ausrichten
und welche Deutungs- und Begründungsmuster in diesem professionellen Aktionsbereich
rekonstruiert werden können. In diesem spannungsgeladenen Feld ist das Promotionsthema
angesiedelt. Zielstellung ist es, differenzierte Einblicke in die vielschichtigen Dynamiken des
gemeinsamen Beratungsprozesses, ausgelöst durch eine Beratungsanfrage, zu gewinnen.
Im Zentrum des Erkenntnisinteresses stehen Grund- und Förderschullehrerinnen, die im Schuleingangsbereich
der Grundschule tätig sind, hier aber in getrennten Zuständigkeitsbereichen
arbeiten. Dies gestaltet sich in der Form, dass die Grundschullehrerin Kinder unterrichtet, und
die Förderschullehrerin als Beraterin immer dann dazu kommt, wenn eine schulische Situation
als schwierig erlebt wird. Hauptgegenstand der Arbeit ist die Beschreibung und Rekonstruktion
der Beratungsprozesse zwischen den Lehrerinnen. Forschungsleitend ist dabei, was
Grundschullehrerinnen dazu veranlasst, eine Beratungsanfrage für ein Kind zu stellen, das im
ersten oder zweiten Schulbesuchsjahr in der flexiblen Schuleingangsphase lernt und welche Erwartungen
damit verbunden sind. Darüber hinaus interessiert, welche Handlungspraxen bzw.
Beratungspraxen der Förderschullehrerinnen, die mit der Bearbeitung der Beratungsanfrage beauftragt
werden, rekonstruierbar sind und welche Handlungsintentionen thematisiert werden.
Erste Einblicke in das Feld ermöglichte eine schriftliche Befragung, die sich an alle in den
Schuljahren 2007/08 und 2008/09 zugelassenen regionalen Förderzentren richtete (Kapitel 4).
1 Da in den Fallporträts ausschließlich Lehrerinnen über die Beratungsprozesse reflektieren und aus Gründen der
besseren Lesbarkeit, werde ich im weiteren Text die weibliche Form verwenden und darauf verzichten, jeweils die
weibliche und männliche Form gesondert zu nennen. Selbstverständlich sind, falls nicht anders gekennzeichnet,
immer beide Geschlechter gemeint.
Teumer, Beratung als Herausforderung für Grund- und Förderschullehrkräfte im Spannungsfeld der
Neugestaltung des Schulanfangs
ISBN 978-3-7815-1860-5
VERLAG JULIUS KLINKHARDT, BAD HEILBRUNN 2012
12 | Einleitung
Abgeklärt werden konnte, wie hoch der prozentuale Anteil der Kinder aus dem Elementarbereich
und dem Schuleingangsbereich ist, für die Beratungsanfragen gestellt werden und wie
häufig im Ergebnis der Beratung präventive Angebote installiert bzw. wie häufig empfohlen
wird, einen Antrag auf Einleitung des sonderpädagogischen Feststellungsverfahrens für ein
Kind zu stellen.
Die in dem Kapitel vorgestellten Ergebnisse deuten auf einen Bruch zwischen den Ansprüchen
an eine veränderte inklusiv orientierte Schuleingangsphase (vgl. hierzu Kapitel 2) und der tatsächlichen
Anfrage- und Beratungspraxen der Lehrerinnen im Schulalltag hin. Einblicke in das
Beratungsgeschehen auf der Interaktionsebene zwischen Grund- und Förderschullehrerinnen
konnten im Rahmen der quantitativen Studie nicht gewonnen werden. Um diese zu erhellen,
wurde ein qualitativer Forschungszugang (Kapitel 5) gewählt, der auf den Einzelfall fokussiert.
Als Fall wird jeweils der Beratungsprozess in seiner Gesamtheit betrachtet, der zustande
kommt, wenn eine Beratungsanfrage für ein Kind, das in der Schuleingangsphase lernt und
für das besondere Schwierigkeiten im Bereich des Lernens vermutet werden, gestellt wird. Akteure
jedes Falls sind eine Grundschullehrerin, die die Beratungsanfrage formuliert und eine
Förderschullehrerin, die die Anfrage bearbeitet. Für die Analyse und Interpretation der abgeschlossenen
Beratungsprozesse liefert das Arbeitsbogenkonzept (Schütze 1984, 1987, 1999/
Strauss 1991, 1998) einen theoretischen Rahmen. Der Einsatz des Arbeitsbogenkonzeptes hat
sich als besonders wertvoll erwiesen, weil es durch ihn gelungen ist, eine Varianz von Reflexionen
der interviewten Lehrerinnen zum Verlauf und Ergebnis der Beratungsprozesse zu
rekonstruieren. Für die Rekonstruktion werden, der Logik des Arbeitsbogenkonzeptes folgend,
zwei Ebenen unterschieden. Auf der ersten Ebene wird analysiert, wie die Lehrerinnen im jeweiligen
Fall kooperieren und wie sich ihre Zusammenarbeit anhand von Aufgabenkomplexen
gestaltet. Die Darstellung erfolgt jeweils mit Hilfe ausführlicher Zitate aus den Interviews und
deren dokumentarischer Interpretation (Kapitel 5). Die zweite Ebene konzentriert sich auf die
einzelnen Komponenten des Arbeitsbogens und fasst Arbeitsaufgaben, die sich auf das Feld
der Beratung beziehen, nach ihrer Arbeitslogik zusammen. Den beiden Ebenen vorangestellt
werden Besonderheiten des Feldzuganges und Samples sowie ein chronologischer Abriss der
Vorgeschichte bis zum Stellen der Beratungsanfrage aus den unterschiedlichen Perspektiven
der Lehrerinnen (Kapitel 6).
Im theoretischen Teil der Arbeit werden zwei Schwerpunkte bearbeitet. Zunächst konzentrieren
sich die Ausführungen auf die Beschreibung von Impulsen für eine Neugestaltung der
Schuleingangsphase in der Bundesrepublik Deutschland (Kapitel 2). Der Blick richtet sich
von dort aus auf Zielstellungen, Merkmale, unterschiedliche Organisationsformen und Handlungsanforderungen
an die Lehrerinnen, die zum Teil paradox erscheinen. Die weiteren Ausführungen
konzentrieren sich ausschließlich auf das Bundesland Sachsen-Anhalt.
Der zweite theoretische Schwerpunkt konzentriert sich auf bisher vorliegende Beratungskonzeptionen.
Dieser Vorstellung vorangestellt werden Forschungsergebnisse zum Themenfeld
der Kooperation von Lehrkräften des Förder- und Regelschulbereichs. Es werden erste Spannungsfelder
angedeutet, die auf die Bedeutung einer systematisierten und professionalisierten
Beratungsarbeit hinweisen.
Im abschließenden Kapitel (Kapitel 7) werden die Untersuchungsergebnisse aus den vorangegangenen
Kapiteln zusammengeführt. Hierbei sollen Schlussfolgerungen für die disziplinäre
Diskussion um sonderpädagogische Professionalität gezogen werden. Ebenso soll betrachtet
werden, welche Konsequenzen für die handlungspraktische Ebene erwogen werden könnten,
vor allem unter der Frage, welche Bedeutung die Ergebnisse für die drei Phasen der Lehrer-
Teumer, Beratung als Herausforderung für Grund- und Förderschullehrkräfte im Spannungsfeld der
Neugestaltung des Schulanfangs
ISBN 978-3-7815-1860-5
VERLAG JULIUS KLINKHARDT, BAD HEILBRUNN 2012
Einleitung | 13
ausbildung haben könnten. Darüber hinaus ist von Interesse, welcher forschungsmethodische
Gewinn durch die Kombination der dokumentarischen Methode mit dem Arbeitsbogenkonzept
beschreibbar ist.
Insgesamt wird ein umfassender und differenzierender Einblick in das komplexe Feld der Beratungsprozesse
zwischen Förder- und Grundschullehrerinnen im Kontext des organisatorischen
Rahmenelements der Beratungsanfrage gewonnen werden.
Teumer, Beratung als Herausforderung für Grund- und Förderschullehrkräfte im Spannungsfeld der
Neugestaltung des Schulanfangs
ISBN 978-3-7815-1860-5
VERLAG JULIUS KLINKHARDT, BAD HEILBRUNN 2012