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Waldorfpädagogik Eine kritische Einführung
Waldorfpädagogik
Eine kritische Einführung




Heiner Ullrich

Beltz Verlag
EAN: 9783407257215 (ISBN: 3-407-25721-X)
182 Seiten, paperback, 17 x 24cm, Juli, 2015

EUR 24,95
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Der Dialog zwischen Waldorfpädagogik und Erziehungswissenschaft hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten beachtlich intensiviert. Diese Einführung präsentiert die Erziehungs- und Unterrichtsmodelle in Waldorfschulen und -kindergärten – von der kollegialen Organisation der Schule über das ganzheitliche Curriculum und das langjährige Klassenlehrerprinzip bis zur goetheanistischen Lehr- und Erziehungskunst. Zudem erhält der Leser einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand zur Waldorfschule, insbesondere über die Lehrer-Schüler-Beziehungen, die Wertorientierungen von Waldorflehrern und -schülern sowie die Erfahrungen und Berufswege von Absolventen dieser Schulen.

Die Waldorfpädagogik hat nach einer fast hundertjährigen weltweiten Erfolgsgeschichte einige innovative Modelle entwickelt, die auf aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen reagieren, zum Beispiel duale und interkulturelle Schulmodelle, Kleinschulen mit altersgemischtem Lernen oder modularisierte Formen der Waldorflehrerausbildung mit internationaler Vernetzung. Dabei geht der Autor auch der Frage nach, wie die heutigen Tendenzen zur Öffnung und Pluralisierung der Waldorfpädagogik mit der wissenschaftlich fragwürdigen Weltanschauung Rudolf Steiners in Einklang zu bringen sind.
Rezension
In Deutschland gibt es mehr als 220 Waldorfschulen mit mehr als 80.000 Schülern und rund 7.500 Lehrern. Die anthroposophische Schulbewegung kann mittlerweile neben der Montessori-Pädagogik als die erfolgreichste Reforminitiative gelten, die aus der klassischen Epoche der Neuen Erziehung bzw. der »Progressive Education« im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts hervorgegangen ist. Die Waldorfschulen nach den traditionell dominierenden Schulen in konfessioneller Trägerschaft zur zweitstärksten Kraft im deutschen Privatschulsektor avanciert. Aber auch 100 Jahre nach ihrer Entstehung ist die Waldorfpädagogik äußerst umstritten wie kaum eine andere Schulform: Befürworter und Gegner stehen sich erbittert gegenüber, ür die einen eine gelungene Alternative zur Mainstream-Pädagogik, für die anderen esoterische Scharlatanerie. Umso wichtiger ist "eine kritische Einführung" wie die hier anzuzeigende: Diese Einführung präsentiert umfassend die Erziehungs- und Unterrichtsmodelle in Waldorfschulen und -kindergärten (vgl. Inhaltsverzeichnis).

Oliver Neumann, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Schlagwörter:
Waldorfschule | Waldorfkindergarten | Klassenlehrerprinzip | Rudolf Steiner | goetheanistische Lehr- und Erziehungskunst
Inhaltsverzeichnis
1. Die Aktualität der Waldorfpädagogik 7

2. Die Waldorfschule – auf den ersten Blick 15

2.1 Grundzüge ihrer öffentlichen Selbstdarstellung 15
2.2 Eine Schule der klassischen Reformpädagogik? 20
2.3 Der reformpädagogische Blick verfehlt das Proprium der Waldorfschule 27

3. Was die Waldorfschule anders macht – Beschreibung und Analyse des anthroposophischen Schulmodells 31

3.1 Organische Schularchitektur: der Schulbau als menschliche Gestalt 31
3.2 Schulautonomie und kollegiale Schulleitung: eine Schule ohne Direktor 34
3.3 Personale Nähe und Kontinuität: ein Klassenlehrer für acht Jahre 39
3.4 Rhythmen und Rituale im Unterricht 48
3.5 Genetisch und organisch – der Waldorflehrplan 53
A. Lehrplan der Unterstufe 56
B. Lehrplan der Oberstufe 61
3.6 Goetheanistisch – die Methode des Lehrens 70
3.7 Eurythmie – die anthroposophische Bewegungskunst als Schulfach 76
3.8 Der Waldorfkindergarten – eine mütterliche Wohnstube für Spiele, Märchen und Feste 80
3.9 Seelenpflege – der Ansatz der anthroposophischen Heilpädagogik 87

4. Anthroposophie – die weltanschaulichen Grundlagen 91

4.1 Rudolf Steiner – Philosoph, Theosoph und Lebensreformer 91
4.2 Die Erkenntnis der übersinnlich-geistigen Welt – der Schulungsweg 95
4.3 Die Entwicklung der Welt und des menschlichen Geistes – die Kosmologie 99
4.4 Die vier kosmischen Wesensglieder des Menschen – die Anthropologie 104
4.5 Reinkarnation und Karma 109
4.6 Die funktionelle Dreigliedrigkeit des Menschen 111
4.7 Die vier Temperamente 115
4.8 Die Jahrsiebte der Entwicklung im Lebenslauf 120

5. Die Anthroposophie im kritischen Diskurs der Wissenschaften 126

5.1 Weltanschauung statt Wissenschaft 126
5.2 Die Grenzenlosigkeit des Erkennens 129
5.3 Determinismus statt Freiheit 130
5.4 Die Wiederkehr des mythischen Denkens 132
5.5 Die Aufhebung der Differenz vonWissen und Glauben 138
5.6 Im innersten Kern esoterisch 141
5.7 Exkurs: Rassenlehre und Völkerpsychologie in der Anthroposophie Steiners 144

6. Wirklichkeit und Wirkungen der Waldorfschulen–Wege und Befunde der empirischen Forschung 149

6.1 Was wird aus Waldorfschülern? – Absolventenstudien 149
6.2 Lernerfahrungen und Bildungsprozesse in der Waldorfschule 154
6.3 Die Waldorflehrer – ein pädagogischer Orden? 159
6.4 Lehrer-Schüler-Beziehungen in der anthroposophischen Schulkultur 164
6.5 Die Bildungsorientierungen von Waldorfeltern 168

7. Schluss 172

Literatur 175
Internetquellen 182



1. Die Aktualität der Waldorfpädagogik
»Die Waldorfschule wird zum Exportschlager« titelt 2014 eine der großen deutschen
Tageszeitungen. Denn die Zahl der Neugründungen von Waldorfschulen steigt weiterhin
kontinuierlich an. Heute findet man Freie Waldorfschulen und die mit ihnen
verwandten vorschulischen und heilpädagogischen Einrichtungen auf allen fünf Kontinenten.
Die anthroposophische Schulbewegung kann mittlerweile neben der Montessori-
Pädagogik als die erfolgreichste Reforminitiative gelten, die aus der klassischen
Epoche der Neuen Erziehung bzw. der »Progressive Education« im ersten Drittel des
20. Jahrhunderts hervorgegangen ist.
Im Jahre 2014 gibt es nach Angaben der Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners
weltweit 1039 Waldorfschulen, davon 715 in Europa. In Deutschland sind es derzeit
232 Schulen, in Österreich 17 und in der Schweiz 34 (im Jahre 1971 gab es weltweit
erst 95 Waldorfschulen, darunter 32 in Deutschland). Aktuell liegt die Zahl der
Waldorfkindergärten, aus denen die Waldorfschulen meist erst hervorgehen, weltweit
bei circa 2000, in Deutschland bei 548, in Österreich bei 29 und in der Schweiz bei
64. Die Waldorfschulen und -kindergärten werden in der ganzen Welt ergänzt von
646 heilpädagogischen und sozialtherapeutischen Einrichtungen für Menschen mit
Behinderungen.
Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs hat sich die Waldorfbewegung stark nach Osteuropa
ausgedehnt, insbesondere nach Ungarn (25 Waldorfschulen), Tschechien (15),
Rumänien (11), Estland (9) und Russland (18). In den Vereinigten Staaten von Amerika
hat sich die Zahl der Waldorfschulen im Laufe der vergangenen drei Jahrzehnte
nahezu versechsfacht. Mit diesem auffälligen Zuwachs hat sich auch die Elternklientel
verändert: Gerade die Computereliten – z.B. im Silicon Valley – schicken ihre Kinder
mit Vorliebe in eine Rudolf Steiner School, die sie als Gegenmodell zu einem öffentlichen
Schulsystem betrachten, das die Schüler wie Lernmaschinen behandelt. Interessant
ist auch die allmähliche Expansion der Waldorfschulen in den ostasiatischen
Raum: Neben den acht japanischen und fünf koreanischen gibt es inzwischen sechs
chinesische Waldorfschulen und – gerade in der Volksrepublik China – Dutzende von
Gründungsinitiativen, die vor ihrer Genehmigung stehen.Viele wohlhabende chinesische
Eltern, vor allem diejenigen, die im Westen studiert haben und es sich leisten können,
über die Erziehung ihrer Kinder nachzudenken, finden offensichtlich gerade in
den Waldorfschulen die Alternative zur »Lern- und Prüfungshölle« der chinesischen
Regelschulen.
Die Ursachen und Gründe für diese erstaunlich starke, aber erst am Ende des vergangenen
Jahrhunderts verstärkt einsetzende internationale Expansion der Rudolf-
Steiner-Schulen, Waldorfkindergärten und heilpädagogischen Einrichtungen auf anthroposophischer
Grundlage sind sicher vielfältig. Sie können in einemzunehmenden
Interesse an kindzentrierten schulischen Alternativen gesehen werden, vor allem aus
bildungsorientierten sozialen Milieus in hoch entwickelten Gesellschaften, aber auch
in einer größeren Öffnung mancher Staaten für private bzw. freie Schulen und in der
damit eventuell verbundenen Gewährung finanzieller Unterstützung. Ein weiterer
Grund für die steigende Akzeptanz vonWaldorfschulen könnte auch darin liegen, dass
sich dieses Schulmodell inzwischen vielerorts etabliert hat und dass die immer größer
werdende Zahl der ehemaligenWaldorfschüler für die eigenen Kinder wieder den
Besuch einer solchen Schule samt Kindergarten bevorzugt. In Deutschland jedenfalls
hat auch der massiv einsetzende Rückgang der Schülerzahlen das Wachstum der Waldorfbewegung
bisher nicht aufhalten können. Nach Angaben des waldorfinternen Instituts
für Bildungsökonomie lag der Anteil der Waldorfschüler1 an der Schülerschaft
aller privaten Schulen – mit zunehmender Tendenz – im Jahre 2011 bei 84 048 (bzw.
11,9 Prozent). Damit sind die Waldorfschulen nach den traditionell dominierenden
Schulen in konfessioneller Trägerschaft zur zweitstärksten Kraft im deutschen Privatschulsektor
avanciert.
Waldorfschulen werden in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Einen heftigen
Meinungsstreit im Internet hat die Gründung der »ersten deutschen staatlichen
Waldorfschule« in Hamburg-Wilhelmsburg ausgelöst. Um die Eröffnung einer weiteren
privaten Waldorfschule und eine damit drohende Spaltung der Schülerschaft
im Problem-Stadtteil zu vermeiden, führte die Schulbehörde die Initiative für eine
Interkulturelle Waldorfschule, die schon einenWaldorfkindergarten betreibt, mit dem
Lehrerkollegium der Ganztagsgrundschule Fährstraße in Wilhelmsburg zusammen.
Diese Grundschule wird aktuell von circa 270 Schülern besucht, davon fast 90 Prozent
mit Migrationshintergrund. Ergebnis der monatelangen intensiven Kooperation ist
die Vereinbarung und Genehmigung eines auf zehn Jahre angelegten Schulversuchs,
in dem die Lehrerschaft der staatlichen Grundschule zusammen mit Waldorfpädagogen
den Leistungs- und Bildungsanspruch des öffentlichen Schulwesens mit wichtigen
Elementen der Waldorfpädagogik verbinden soll. Im Zentrum dieser staatlich finanzierten
»Schule für alle« stehen das langjährige Klassenlehrerprinzip, der mehrwöchige
täglich zweistündige Epochenunterricht, ein herkunftssprachlicher und ein früher
Fremdsprachenunterricht sowie ein breites Angebot von handwerklich-künstlerischen
und musischen Lernangeboten. Auf Schulnoten soll möglichst lange verzichtet werden,
und Eurythmie soll lediglichWahlfach sein. Durch eine höhere Klassenmesszahl
wird jede Klasse von einem Staatsschul- und einemWaldorflehrer gemeinsam geleitet
werden. Ob sich die Waldorfpädagogik an der Wilhelmsburger Grundschule bewährt,
soll das staatliche Institut für Qualitätsentwicklung evaluieren. Mit dem Schulversuch
verbindet die Schulbehörde die Hoffnung, die bildungsorientierten und ethnisch
deutschen Eltern an einen Standort zu binden, an dem die überwiegende Mehrheit
der Bevölkerung eine Zuwanderungsgeschichte hat oder soziale Unterstützungsleistungen
erhält.
Die örtliche Waldorfinitiative und der Bund der Freien Waldorfschulen begrüßen
den Schulversuch, weil er zeigen kann, dass Waldorfpädagogik auch in bildungsfernen
Stadtteilen gelingt. Schließlich gründete ja auch Rudolf Steiner die erste Waldorfschule
1919 in Stuttgart für Kinder aus der Arbeiterklasse. Der Privatschulkenner Christian
Füller betrachtet die »erste staatliche Waldorfschule« mit ihrer Verbindung von bürgerschaftlichem
Engagement und staatlicher Schulorganisation als ein Zukunftsmodell:
»Denn in einer von unten initiierten public-private partnership könnteman sicher
besser Schule machen – vielleicht ist es gar die Zukunft des deutschen Schulwesens,
was bisher immer noch beinahe rein staatlich daherkommt« (www.taz.de vom 30. Januar
2013).
Die Aufnahme der Waldorfpädagogik in das öffentliche Schulwesen hat nicht nur
Befürworter. Sie stößt vielmehr auf Unverständnis und heftigen Widerstand vor allem
bei den zahlreichen Kritikern der anthroposophischen Weltanschauung Rudolf
Steiners. In der ersten Reihe der Gegner steht die »Gesellschaft zur wissenschaftlichen
Untersuchung von Parawissenschaften e.V.«. In einemOffenen Brief an den Hamburger
Schulsenator Ties Rabe fordern die Mitglieder ihres wissenschaftlichen Beirats die
Rücknahme des Schulversuchs u.a. aus folgenden Gründen: »Die Waldorfpädagogik
wurde durch den Esoteriker und Okkultisten Rudolf Steiner begründet und ist Teil seiner
esoterischen, anthroposophischen Lehre. Sie enthält ein Sammelsurium von antiaufklärerischen,
pseudowissenschaftlichen und rassistischen Ideen. […] Diese esoterischen
Konzepte durchdringen alle Fächer, auch den musisch-künstlerischen Bereich.
Sie sind ein zentraler Teil der Waldorflehrerausbildung und kommen bis heute im
Unterricht zur Anwendung. […] Die Waldorfpädagogik versteht sich als geschlossenes
Konstrukt, daher ist es nach unserer Ansicht nicht möglich, einzelne ›positiv‹
erscheinende Komponenten davon herauszupicken, ohne die schädlichen Komponenten
zwangsläufig mit einzukaufen. Lapidar ausgedrückt: ein bisschenWaldorf geht
ebenso wenig wie ein bisschen schwanger« (www.gwup.org/1230, abgerufen am 18.
August 2014). Der Bremer Lehrer Axel Sebastiani hat als Mitglied der GWUP in Ergänzung
des Offenen Briefes eine Online-Petition über den erzieherischen »Schaden«
der »gefährlichen Ideologie« der Waldorfpädagogen verfasst, die inzwischen von mehr
als 2 300 Menschen unterstützt wird. Angesichts dieser bis zu den Fundamenten der
Waldorfpädagogik reichenden Kritik und Polemik warnt der Hamburger Schulsenator
davor, den Schulversuch für einen Glaubenskrieg zu missbrauchen.
Insgesamt zeigt dieser aktuelle Disput, dass Waldorfpädagogik ein komplexes Theorie-
Praxis-Gebilde darstellt, das weder allein über seine organisatorischen Strukturen
und methodischen Formen noch ausschließlich über seine weltanschaulichen
Grundlagen und Normen verstanden werden kann. Deshalb ist es nur konsequent,
Waldorfeltern – und auch dem Senator und seinen Fachleuten in der Hamburger
Schulbehörde – zu empfehlen, sich nicht nur mit den alternativen Praxiselementen
der Waldorfpädagogik, sondern ebenso mit ihren anthroposophischen Grundlagen
vertraut zu machen.
Waldorfschulen werden auch von ihren »Kunden« zwiespältig erlebt. Mit der Wahl
einer Waldorfschule treten viele »staatsschulsozialisierte« Eltern in eine unvertraute
Schulkultur ein, die für sie und für ihr Kind neben den gewünschten pädagogisch-alternativen
Zielsetzungen, Lerninhalten und Lernformen viele unbekannte Züge aufweist.
Für eine Studie über »Bildungserfahrungen an Waldorfschulen« (Liebenwein/
Barz/Randoll 2012) wurden in offenen, problemzentrierten Interviews 26 Waldorfeltern
und 31 Waldorfschüler umAntworten u.a. auf die Frage gebeten: »Anwas denken
Sie beim Begriff Waldorfschule?« Dabei ergab sich aus den Assoziationen der Eltern
das folgende Cluster, worin die Nennungen nach positiven, neutralen und negativen
Gefühlskomponenten gruppiert sind.
Die Eltern erleben offensichtlich in der Waldorfschule eine wohlwollende Atmosphäre
enger sozialer Verbundenheit und Wertschätzung des Einzelnen. Sie treffen hier auf
eine pädagogische Provinz, in der die Persönlichkeitsentwicklung und Vergemeinschaftung
der Schüler höchste Priorität besitzt, sowie auf eine Lernkultur, welche außerfachliches
und unkonventionelles Lernen in enger Verbindung mit Naturerfahrungen
in besonderer Weise akzentuiert. Den negativen Gegenpol bildet das Erleben von
organisatorischemChaos im Schulalltag, von Überlastung der Lehrer durch die große
Heterogenität der Schülerschaft und die damit verbundenen Disziplinprobleme mit
schwierigen Schülern. Waldorflehrer werden auch als fachlich eher unprofessionelle
Lehrpersonen wahrgenommen, deren Handeln – pointiert gesagt – von weltfremden
konservativen Ideen bestimmt wird, die mit dem Werk Rudolf Steiners in Zusammenhang
gebracht werden. Eher nüchtern wird auf die mit der Wahl der Waldorfschule
verbundene enge Mitwirkung der Elternschaft am Klassen- und Schulgeschehen hingewiesen
sowie auf Spezifika wie die große Bedeutung der Theateraufführungen im
Schulleben u.a.m.
Die parallel befragten Schülerinnen und Schüler assoziieren als weitere Positiva die
Lernfreude im Unterricht, die hochgradige Permissivität der Lehrpersonen und die
guten Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern in einem architektonisch ansprechenden
Lebensraum. Die Schüler äußern sich deutlichweniger reserviert: Sie bemängeln
indes das Fehlen von klaren Leistungserwartungen und Verhaltensrichtlinien und
ärgern sich über die häufig zu konstatierende, ungerechtfertigte Abwertung der eigenen
Schule durch gleichaltrige Jugendliche aus Regelschulen.
Die Waldorfpädagogik wird in der Erziehungswissenschaft unterschiedlich rezipiert
– als beeindruckende Praxis oder als dubiose Theorie. Parallel zur aufsehenerregenden
Expansion der Rudolf-Steiner-Schulen hat etwa seit der Mitte der achtziger
Jahre auch in der Erziehungswissenschaft eine intensive und äußerst kontroverse Diskussion
über die Pädagogik der Waldorfschulen und ihre Grundlagen eingesetzt.
Auf eine geradezu enthusiastische Würdigung der Waldorfpädagogik trifft man bei
Peter Paulig. Er stellt seiner Argumentation die bekannten Worte des reformpädagogischen
Physikdidaktikers Martin Wagenschein voran: »[Ich habe] den größten Respekt
vor der Leistung Rudolf Steiners, entgegen dem Zug der Zeit nicht mit den Atomen,
sondern mit den Seelen angefangen zu haben. Die pädagogischen und die ärztlichen
Auswirkungen beweisen mir die Echtheit dieses Gegenzuges. Ich kann nicht beurteilen,
ob die Waldorfschulen die besten aller möglichen Schulen sind. Aber ich halte
sie für die besten, die wir heute haben, und wünschte, sie gewännen die Zukunft«
(Wagenschein 1989, S. 25). Für Paulig sind die Waldorfschulen »Schulen vom Kinde
aus«, in denen die Schüler ohne »ruinöse Leistungskonkurrenz« das Lernen als »etwas
Begeisterndes, Sinnstiftendes und Welterschließendes erfahren« (Paulig 1990, S. 371).
Anders als an den bürokratischen staatlichen Schulen sind die Waldorflehrer »freie
Lehrer«, die sich bei ihrem pädagogischen Handeln »nur abhängig wissen von den
Erkenntnissen, die das Wesen der Erziehung und das pädagogische Verhältnis zu den
[ihnen] anvertrauten Schülern ausmachen, nicht aber von Vorschriften und Gesetzen,
die am Individuum orientiertes Handeln behindern« (ebd. S. 377). Paulig fühlt
sich positiv beeindruckt von der »eigentümlichen Spiritualität« der Waldorflehrer, die
ihr gesamtes pädagogisches Handeln durchdringt und »ihren Ausdruck in einer nur
schwer beschreibbaren Haltung und Ge-sinn-ung [findet]« (ebd., S. 384). Diese, an die
Welt der Ordensschulen erinnernde Spiritualität wünscht er sich als Ergebnis eines
Selbstbildungsprozesses für jeden Lehrer. Als Fazit seiner Beschäftigung mit der Praxis
der Waldorfschulen formuliert er: »Ich sehe die Bedeutung der Waldorfschulen darin,
dass sie den staatlichen Schulen wichtigste Anregungen, Beispiele, ja Vorbilder dafür
geben können, wie Schule vomKinde aus zu gestalten ist« (ebd., S. 385).
Eine diametral entgegengesetzte Position gegenüber der Waldorfpädagogik nimmt
Klaus Prange ein. Er kritisiert das »›populärwissenschaftlich-mythische‹ Welt- und
Menschenbild, das der Praxis der Waldorfpädagogik vorausliegt« (Prange 1986, S. 554)
und für sich den Status eines exklusiven Sonderwissens reklamiert. Der Unterrichtskultur
der Waldorfschulen, dem entwicklungsgemäßen Lehrplan, den altersspezifischen
Erzählstoffen und der Artikulation des erziehenden Unterrichts spricht er jede
Originalität ab, indem er sie als Variante des antiquierten österreichischen Herbartianismus
rekonstruiert. Imkindgemäßen Lernen der Waldorfschule wird für Prange die
Reflexion ausgeblendet, »beim Lehrer ebenso wie beim Schüler: So wie die Erkenntnislehre
Steiners einen regressiven Zug hat und den Versuch darstellt, vormodernes und
geradezu archaisches Bewusstsein zu stabilisieren, so hat seine Unterrichtsmethodik
eine Tendenz zur Stabilisierung kindlich-gesamthafter Erlebnisweisen« (Prange 2000,
S. 140). Und im langjährigen Klassenlehrerprinzip an der Waldorfschule sieht Prange
eine »Fessel, die auch als geliebte Fessel nichts daran ändert, dass Freiheit eben doch
nur als Freiheit am Bande der Erziehung erscheint, die gestützt auf kosmisch-karmische
Notwendigkeiten immer schon besser weiß, was für den Lernenden gut ist, als
dieser selbst«(ebd. S. 122). Waldorferziehung sei Erziehung aus dem Führungsprinzip,
keine Erziehung vom Kinde aus. Zwar ergäben sich das Lernen und die Themen des
Lernens »aus der Sicht auf das Kind«, aber »sie ist anthroposophisch bis in das Detail
der Präsentation von Legenden oder Biographien, Mineralien oder Blumen, Tieren
oder Geschichten. So gesehen, wird in der Waldorfschule zur Anthroposophie erzogen,
und zwar umso nachhaltiger, als sie nicht direkt und kontrollierbar ›gelehrt‹, sondern
gleichsam eingeflößt wird« (ebd., S. 117). Für Prange ist Waldorfpädagogik also im
tiefsten Grund »Erziehung zur Anthroposophie« und damit »ein Beispiel für eine verfehlte
Erziehung« (ebd., S. 198).
So lassen sich grob drei unterschiedliche Positionen zur Waldorfpädagogik unterscheiden:
Die reformpädagogische Seite hebt die »sinnerfüllte Praxis« einer kindgemäßen
und »ganzheitlichen« Erziehung hervor und vernachlässigt dabei deren Grundlegung
in der Anthroposophie Rudolf Steiners. Die ideologiekritische Seite unterzieht
gerade die okkulte »Neo-Mythologie« Steiners einer vernichtenden Kritik und warnt
vor der Gefahr daraus entspringender Indoktrination in der Unterrichts- und Erziehungspraxis
der Waldorfschule als einer »Weltanschauungsschule«. Dabei verlieren
diese Kritiker den unbefangenen Blick für die oft ungewöhnlichen, nicht selten auch
anregenden Praxisformen der Waldorfschulen. Die ideologiekritische Seite sieht sich
indes nur allzu leicht bestätigt durch die orthodoxe Position der anthroposophisch
inspirierten Pädagogen, nach deren Überzeugung sich alle Normen und Formen ihrer
Erziehungspraxis auf die »Anregungen« Rudolf Steiners, des »vielleicht genialsten
›eingeweihten‹ Universalisten unseres Jahrhunderts« (Schreiner 1983, S. 12) zurückführen
lassen.
Es gibt also kaum eine Persönlichkeit in der Geschichte der Pädagogik des 20. Jahrhunderts,
die so unterschiedliche Reaktionen und Bewertungen in der Fachwelt auslöst
wie der Begründer der Anthroposophie und Gründer der ersten Waldorfschule.
Es kennzeichnet das Werk Rudolf Steiners, dass es einerseits eine so starke und immer
noch weiter wachsende erziehungspraktische Wirkung entfaltet und andererseits eine
vergleichsweise geringe Beachtung in der akademischen Fachöffentlichkeit gefunden
hat. Steiners Impulse der Lebensreform wirken inzwischen weltweit nicht nur im Bereich
der Waldorfpädagogik, sondern auch auf den Gebieten der heilpädagogischen
und sozialtherapeutischen Arbeit, der psychosomatischen Medizin, der biologischdynamischen
Landwirtschaft und Pharmazie, der gemeinnützigen Betriebswirtschaft,
der darstellenden und bildenden Künste sowie der Architektur.
Es gibt wohl auch keinen anderen weltanschaulichen Denker und Lebensreformer,
dessen Denken und Wirken insgesamt seit Langem so kontrovers beurteilt werden.
Das Spektrum der Reaktionen reicht von enthusiastischer Bewunderung von Steiners
Genialität vor allem innerhalb seiner anthroposophischen Schülerschaft über pragmatische
Versuche der Anerkennung von innovativen Potenzialen bis zur radikalen Infragestellung
und polemischen Demontage der ideellen Grundlagen als einem bloßen
Synkretismus. Wer sich über die Waldorfpädagogik ein eigenes Urteil bilden möchte,
sieht sich früher oder später zur Auseinandersetzung mit der ihr zugrunde liegenden
Lehre über den Menschen und seine Stellung in Natur und Gesellschaft genötigt.
Sie ist in den zahlreichen Schriften Steiners und in einem gigantischen Vortragswerk
niedergelegt, die bisherige Gesamtausgabe umfasst circa 350 Bände. Nicht nur dieser
Umfang erschwert die systematische Auseinandersetzung mit der Waldorfpädagogik,
sondern vor allem die oft fremdartig-esoterische, eher bildhaft als begrifflich-präzise
anmutende Terminologie, mit der Steiner sich auf die für sein spirituelles Verständnis
des Menschen grundlegenden »übersinnlichenWesenheiten« bezieht.
Zwei neueren Entwicklungen ist es zu danken, dass sich dieser kontroverse Diskurs
nicht noch stärker polarisiert oder mit der Wiederholung längst bekannter Argumentationen
nur weiter im Kreise dreht: dem seit etwa zwei Jahrzehnten intensiver
werdenden, zuerst von Waldorfpädagogen angeregten Dialog mit Erziehungswissenschaftlern
und der inzwischen in Gang gekommenen empirischen Erforschung der
Waldorfschulen.
Die bisher vorliegenden Einführungen in die Waldorfpädagogik sind nahezu ausnahmslos2
aus der Perspektive anthroposophisch orientierter Autoren verfasst worden.
Ob Frans Carlgren (1981), Christoph Lindenberg (1975), Stefan Leber (1985)
oder Johannes Kiersch (2010) – um nur die im deutschsprachigen Raum bekanntesten
zu nennen – sie alle waren nach einer kürzeren oder längeren Unterrichtstätigkeit
an Waldorfschulen schließlich als Dozenten an Ausbildungsstätten für Waldorflehrer
tätig. Aus ihren Kursen und Seminaren sind bis heute lesenswerte praxiskundige Einführungen
entstanden, deren Sichtweise indes ganz von der Identifikation mit der
idealistischen und esoterischen Geisteswelt Rudolf Steiners bestimmt ist. Relativie-
rungs- oder Distanzierungsversuche gegenüber der charismatischenAutorität Steiners
erfolgen weder in pädagogischer noch in weltanschaulicher Hinsicht. Und Anschlüsse
an erziehungswissenschaftliche und fachdidaktische Diskurse finden sich nur selten.
Dieses Muster einer »internen« Einführung in die Waldorfpädagogik lässt sich pointiert
als ein Konzept aus »Dogma und Handwerk« bezeichnen, das geschichtlich gesehen
für eine Lehrerbildung kennzeichnend war, die sich stärker an einer Gesinnung
als an wissenschaftlichemWissen und einer darauf Bezug nehmenden Professionalität
orientierte.
Die moderne Erziehungswissenschaft ist säkular und antidogmatisch. Als methodisch
reflektierte, objektiv nachprüfbare Forschung und systematische Reflexion verzichtet
sie wie alleWissenschaft auf ontologisch-metaphysische Aussagen. Sie zieht eine
strikte Grenze zwischenWissen und Glauben und liefert grundsätzlich kein konkretes
Welt- und Menschenbild. DieWaldorfpädagogik beruht indes in weiten Teilen auf den
metaphysischen Inhalten einer spirituellen Weltanschauung, deren Geltungsanspruch
nach heutigen Erkenntnisstandards wissenschaftlich nicht beweisbar ist. Ähnlich wie
auf dem Feld der Religion geht mit der Anthroposophie, der ideellen Grundlage der
Waldorfpädagogik, ein konkretes Welt- und Menschenbild sowie eine Auffassung vom
guten Leben einher, die auch maßgeblich für das pädagogische Handeln sein soll. In
einer (post-)säkularen pluralistischen Gesellschaft haben religiöse und spirituelle
Überzeugungen – wir folgen hier den Überlegungen von Jürgen Habermas (2005) –
nicht schlechthin nur einen irrationalen Status. Vielmehr sind ihre kognitiven und
ethischen Gehalte daraufhin zu befragen, ob sie, und wenn ja, welche Beiträge sie für
die humane Weiterentwicklung der demokratischen Gesellschaft leisten können.
Die hier vorgelegte von Verständnis und Kritik geprägte Einführung baut überwiegend
auf eigenen Vorarbeiten auf. Sie möchte ausgehend vom aktuellen Forschungsstand,
aus der Außensicht des Beobachters und mit größtmöglicher Fairness, die
Grundzüge der Waldorfpädagogik und ihre spirituellen Grundlagen ausführlich darstellen
und reflektieren. Neben dem Formenreichtum und der Spezifik ihrer Denkformen
können so vielleicht auch die Potenziale der Waldorfpädagogik erkennbar
werden, die sie zur Gestaltung einer humanen Erziehung für heutige Kinder und
Jugendliche einbringen kann. Es versteht sich von selbst, dass im Folgenden nur ein
Überblick gegebenwerden kann über die wichtigsten Spezifika der Waldorfpädagogik,
durch die sie sich vom aktuellen Mainstream der Schulpädagogik unterscheidet.