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Schulische und außerschulische Erziehungshilfe Ein Werkbuch zu Arbeitsfeldern und Lösungsansätzen
Schulische und außerschulische Erziehungshilfe
Ein Werkbuch zu Arbeitsfeldern und Lösungsansätzen




Birgit Herz (Hrsg.)

Verlag Julius Klinkhardt
EAN: 9783781518568 (ISBN: 3-7815-1856-6)
334 Seiten, paperback, 17 x 24cm, 2012

EUR 24,90
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Die Nachfrage nach ambulanten und stationären Erziehungshilfen steigt ebenso an wie die Zahl der als verhaltensgestört etikettierten Schülerinnen und Schüler. Dabei handelt es sich um eine sehr heterogene Zielgruppe und eine ebenso heterogenen Förderlandschaft.

Das Werkbuch vermittelt beispielhaft Einblicke in einzelne Handlungsfelder und Institutionen und illustriert die vielfältigen Aspekte beruflicher Professionalität in der pädagogischen Praxis mit Kindern und Jugendlichen in schwierigen Lebenslagen. Die Wechselwirkungsprozesse zwischen der Komplexität ihrer emotionalen Krisen und Konflikte und der Arbeitsbereiche in der schulischen und außerschulischen Erziehungshilfe werden unter verschiedenen Perspektiven veranschaulicht.

Mit Bezug auf die derzeitige Inklusionsdebatte begründen die Beiträge die Bedeutung professioneller Unterstützungssysteme bei Verhaltensstörungen.
Rezension
Die Anzahl der Schulen für Erziehungshilfe hat sich in den letzten 15 Jahren verdoppelt. Pädagogik bei Verhaltensstörungen ist ein ganz besonders schwieriger (sonder-)pädagogischer Bereich. Zugleich wird der (sonder-)pädagogische Diskurs (in der Öffentlichkeit) immer stärker von einem Disziplinardiskurs verdrängt. Wie kann und soll man mit verhaltensgestörten Schülern umgehen? Vielfältige ambulante und stationäre Erziehungshilfe-Institutionen stehen bereit und bieten professionelle Unterstützungssysteme bei Verhaltensstörungen. Das zeigt dieses Werkbuch zur (außer-)schulischen Erziehungshilfe vielfältig auf und das sollte in der derzeit vehement geführten Inklusionsdebatte entsprechend berücksichtigt werden.

Dieter Bach, lehrerbibliothek.de
Inhaltsverzeichnis
Birgit Herz
Einführung in die schulische und außerschulische Erziehungshilfe 9

Birgit Herz
Über den Umgang mit Emotionen in der Erziehungshilfe: Dramatisierung, Abwehr und pädagogische Haltung 53

Birgit Herz
Aggression – Macht – Angst 55

Elisabeth von Stechow
Evidenzbasierte Förderung und Förderkonzepte von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischen
Förderbedarf in der sozialemotionalen Entwicklung 67

Axel Ramberg
Bindung und Mentalisierung – Überlegungen zur professionellen Haltung im Kontext der schulischen Erziehungshilfe 79

Birgit Herz
Inklusion 95

Birgit Herz
„Inclusive Education“ – Internationale Forschungsperspektiven 97

Matthias Meyer
Teilhabechancen aus gesellschaftskritischer und gerechtigkeitstheoretischer Perspektive 104

Christiane Mettlau
Mittendrin und doch daneben „Ausschluss inklusive“ für Kinder und Jugendliche mit Verhaltensstörungen? 116

Mirja Silkenbeumer
„Die Schüler haben ein Recht darauf in der Schule zu lernen“: Fallrekonstruktion zur Figur der Pseudo – Anwaltschaft 128

Marian Laubner
„Also das ist unsere Förderlehrerin“ – Deutungsmuster von Schülerinnen und Schülern zum Zwei-Lehrer-System im Gemeinsamen Unterricht 141

Rüdiger Kreth – Meik Neumann
Wozu beraten? – Der Beitrag lösungsfokussierter Haltungen und Methoden zum Gelingen einer inklusiven Beschulung im Förderschwerpunkt ESE 157

Birgit Herz
Geschlechterdifferenz 177

Sebastian Möller-Dreischer
Mehr Männer = bessere Förderung für Jungen und männliche Jugendliche aus dem Spektrum der Erziehungshilfe? Forschungsbefunde und -desiderate 179

Thomas Schier
„Die Jungen aus dem Blick verloren?“ –
Ein Beitrag zur Wahrnehmung von und Kooperation bei sexualisierter Gewalt in der Kinder- und Jugendhilfe 189

Wilhelm de Tera
„Auf Alter kommt man zu sprechen, Geschlecht wird verschweigend mitgedacht“ – Analyse von Altersverteilung und Geschlechterverhältnissen bei seelisch behinderten Kindern und Jugendlichen 201

Birgit Herz
Kooperation zwischen der Kinder- und Jugendhilfe und der Schule 217

Birgit Herz
Von der Reflexion einer „Maßnahmekarriere“ zu förderlichen Settingvariablen: Der Fallbericht: Jan M. 220

Marcus Hußmann
Zwischen Hilfeunterlassung und gemeinsamer Aufgabenbewältigung – helfendes Handeln aus der Perspektive von Jugendlichen in „besonderen Problemlagen“ 237

Birgit Herz
Heimerziehung 249

Fitzgerald Crain
Vorwärts zurück zur „totalen Institution“? 251

Birgit Herz
Jugendstrafvollzug 263

Jan Hoyer – Andrea Lohrengel
Slam-Texte junger Inhaftierter als Datenmaterial – Das Beispiel „Pasta Knasta“ 265

Ailine Horn
Diagnostisches Fallverstehen im Jugendstrafvollzug 276

Birgit Herz
Forschungszugänge in der schulischen und außerschulischen Erziehungshilfe 293

Andrea Dlugosch
Biographische Forschung – ein Beitrag zur Professionalisierung in der (schulischen) Erziehungshilfe? 296

Jan Hoyer
Idealisierte Denkmodelle in der Organisationsentwicklung von Beratungs- und Unterstützungssystemen 306

Ausblick

Helmut Reiser
Inklusion und Verhaltensstörungen – Ideologien, Visionen, Perspektiven 319


Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 331


Birgit Herz
Einführung in die schulische und außerschulische
Erziehungshilfe
1. Einleitung
Die Bundesrepublik Deutschland hat 2008 die Konvention über die Rechte von Menschen
mit Behinderungen ratifiziert. Die öffentlichen und fachwissenschaftlichen Diskussionen
über Inklusion betreffen vor allem die schulische Inklusion von Kindern und
Jugendlichen mit Sinnesbehinderungen, geistiger Behinderung und Körperbehinderung.
Die bildungspolitische Realität im sonderpädagogischen Förderschwerpunkt Beeinträchtigungen
der emotionalen und sozialen Entwicklung macht allerdings schnell deutlich,
dass platzieren, segregieren und separieren nach wie vor den pädagogischen Alltag dominieren.
Die Anzahl der Schulen für Erziehungshilfe hat sich in den letzten 15 Jahren verdoppelt
(295 Schulneugründungen), während die Zunahme bei den übrigen acht sonderpädagogischen
Förderschwerpunkte zusammen lediglich bei 26% liegt (vgl. Willmann 2010, 22).
Analog zu dieser Entwicklung steigt auch der Bedarf an ambulanten und stationären
Hilfen zur Erziehung dramatisch an; des Weiteren verdoppelten sich auch die Plätze in
der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Trotz dieser deutlichen Zunahme dieser Klientel der
schulischen und außerschulischen Erziehungshilfe besteht bei den FachvertreterInnen
Konsens darüber, dass schulisch wie außerschulisch eine dramatische Unterversorgung
an intensiven pädagogischen und therapeutischen Angeboten vorherrscht (vgl. Opp
2008; Willmann 2010; Herz 2010a).
So fordert Roland Stein im Hinblick auf die große Verbreitung von Verhaltensauffälligkeiten,
dass alle Lehrerinnen und Lehrer grundlegende Kompetenz und Sensibilität benötigen,
„um psychische Störungen oder deren Entstehung früh zu erkennen und damit
grundlegend umgehen zu können“ (Stein 2011, 327). Und Sabine Ader stellt für den
Bereich der Kinder- und Jugendhilfe fest, dass die besonders ‚schwierigen Kinder’ in
diesem System unverstanden bleiben und instrumentalisiert werden (vgl. Ader 2004,
437).
In der Praxis dient eine Komplexitätsreduktion von Verhaltensstörungen oft dazu, das
Krisen- und Konfliktpotential bei diesen Kindern und Jugendlichen verwaltungstechnisch
zu neutralisieren. So dominiert eine starke Tendenz, Verhaltensstörungen dem
einzelnen Kind oder Jugendlichen als individuelles Problem zuzuschreiben, was dazu
führt, dass sich Interventionen auf spezifische Teilaspekte beschränken und der Blick auf
das Kind oder den Jugendlichen auf diesen Teilaspekt reduziert wird. Marc Willmann
schreibt: „Der Markt wird dominiert von funktionalen Interventions- und Trainingsprogrammen,
die – vorwiegend in lernpsychologischer Tradition – schnelle Hilfen zur Be-
Birgit Herz (Hg.), Schulische und außerschulische Erziehungshilfe
ISBN 978-3-7815-1856-8
Verlag Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn 2012
10 Birgit Herz
arbeitung definierter Störungsbilder bzw. dem Aufbau spezifischer Kompetenzen versprechen“
(Willman 2010, 73).
Des Weiteren ist ein Trend zu verzeichnen, dass der (sonder-) pädagogische Diskurs von
einem Disziplinardiskurs verdrängt zu werden scheint (vgl. Dörr / Herz 2010; Herz
2010a). Gleichzeitig steigt die drop-out Rate kontinuierlich an. Kritische WissenschaftlerInnen
sprechen von „einer strukturellen Verantwortungslosigkeit“ der Professionellen in
ihren jeweiligen Unterstützungs- und Hilfesystemen (vgl. von Freyberg / Wolff 2006,
182).
Da unterschiedliche Professionen und institutionelle Systeme teilweise zeitgleich bei
Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensstörungen Förderung und Unterstützung verantworten,
zeichnet sich die schulische und außerschulische Erziehungshilfe durch eine
hohe Komplexität und Heterogenität aus. In diesem Werkbuch sollen Einblicke in Teilbereiche
vermittelt werden, ohne dabei einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben
oder eine Fachsystematik vorzulegen.
Der folgende erste Abschnitt dieses Werkbuches enthält einen allgemeinen Überblick
über Zielgruppen, Aufgabenfelder, Handlungsformen und charakteristischen Phänomene.
Im zweiten Teil werden unterschiedliche Praxisbereiche sowie theoretische Zugänge
exemplarisch dargestellt. Ein Ausblick auf Perspektiven zukünftiger Entwicklungen in
der Erziehungshilfe setzt sich mit den Konsequenzen der derzeitigen bildungspolitischen
Veränderungsprozesse im Hinblick auf Segregation und Inklusion kritisch auseinander.
2. Zielgruppe und pädagogische Herausforderungen
in der schulischen und außerschulischen Erziehungshilfe
Die schulische und außerschulische Erziehungshilfe zeichnet sich vor allem durch zwei
charakteristische Phänomene aus: National wie international existiert eine ausgesprochen
heterogene Terminologie sowie ein hohes Maß an interdisziplinären Bezügen zu anderen
Wissenschaftsdisziplinen.
2. 1 Erstes charakteristisches Phänomen: heterogene Begrifflichkeit
Was ist „normal“, was ist „gestört“? Der springende Punkt in der Fachrichtung Verhaltensgestörtenpädagogik
ist der Begriff der Normalität (vgl. Menzel 2009, 13f). Was
normal ist und was nicht, bestimmt die Dominanzkultur einer Gesellschaft. Verhaltensstörungen
sind ein sozial vermittelter Tatbestand, und alle Aussagen darüber, wer geschädigt,
gestört, behindert usw. ist, werden von gesellschaftlichen Konventionen, Normen
und Standards bestimmt. Verhalten ist immer abhängig von einem sozialen und
kulturellen Kontext, bzw. den soziokulturellen Verhältnissen (vgl. Warzecha 2001, 61).
Damit findet die Zuschreibung einer Verhaltensstörung nicht nur auf der bloß beschreibenden
Ebene statt, sondern enthält immer auch eine Wertung. Dass „normal“ und
„anormal“ keineswegs friedlich-deskriptive, sondern polemische Begriffe sind, darauf
machte bereits 1974 Canguilhem aufmerksam (vgl. Canguilhem 1974).
Im Alltagsverständnis wird der Begriff Verhaltensstörungen dazu benutzt, um Verhaltensweisen
zu beschreiben, die als von der Norm abweichend erlebt werden, sei es durch
Birgit Herz (Hg.), Schulische und außerschulische Erziehungshilfe
ISBN 978-3-7815-1856-8
Verlag Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn 2012