|
Inklusion als Herausforderung schulischer Entwicklung
Widersprüche und Perspektiven eines erziehungswissenschaftlichen Diskurses
Joachim Schwohl, Tanja Sturm (Hrsg.)
Transcript
EAN: 9783837614909 (ISBN: 3-8376-1490-5)
364 Seiten, paperback, 15 x 22cm, 2010, zahlr. z.T. farb. Abb.
EUR 32,80 alle Angaben ohne Gewähr
|
|
Umschlagtext
Mit dem Ziel der Entwicklung einer inklusiven Schule sind vielfältige Herausforderungen verbunden.
Dieser Band stellt eine Reflexionsgrundlage sowohl für die Theorie als auch die Praxis schulischer Inklusion her und greift Fragen gesellschaftlicher, institutioneller und unterrichtlicher Gestaltungsmöglichkeiten einer inklusiven Schule auf. Die Beiträge reflektieren Inklusion aus unterschiedlichen erziehungswissenschaftlichen Blickwinkeln heraus, wie z.B. der Interkulturellen, der Gender- und der Behindertenpädagogik. Sie zeigen Perspektiven eines erziehungs- und bildungswissenschaftlichen Diskurses auf, der auf die Herausforderungen der Gestaltung einer inklusiven Schule reagiert und damit eine Folie für die zukünftige Diskussion eröffnet.
Rezension
»Die ›Inklusive‹ Schule könnte eine Bedingung der Möglichkeit sein, die bei uns vorherrschenden Bilder von Schule, Unterricht und Kindern international anschlussfähig so zu verändern, dass wir bereit und in der Lage sind, allen Kindern im gesamten Heterogenitätsspektrum differenzierende Bedingungen für nächste, erfolgreiche Lernschritte auf dem Weg in eine erfolgreiche Bildungskarriere zu schaffen: Es ist der wertschätzende und unterstützende Umgang mit den individuellen Aneignungsaktivitäten auf jedem Entwicklungsniveau und unter allen Bedingungen ohne Deklassierung, Selektionsbedrohung und Chancenbeschneidung.« (Karl Dieter Schuck, Zwei-Säulen-Modell: Schritt in die falsche Richtung?, in: Hamburg macht Schule 4,2007, S.8-9: 9) Mit diesem Zitat wird von den Autor/inn/en dieses Bands zur inklusiven Schule nicht nur der Autor geehrt, sondern auch das Programm des Buches insgesamt umrissen. Insbesondere Wissenschaftler/-innen der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Hamburg äußern sich in diesem Sammelband zu der Frage nach aktuellen Herausforderungen der Gestaltung einer inklusiven Schule.
Dieter Bach, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Schlagworte:
Inklusion, Schulentwicklung, Heterogenität, Benachteiligung und Gesellschaft
Adressaten:
Erziehungs- und Bildungswissenschaft, Bildungssoziologie
Joachim Schwohl ist Lehrkraft für besondere Aufgaben im Arbeitsbereich Behindertenpädagogik an der Fakultät Erziehungswissenschaften, Psychologie und Bewegungswissenschaften der Universität Hamburg. Seine Forschungs- und Lehrschwerpunkte sind Integrations- und Inklusionspädagogik und Diagnostik bei Kindern mit Lern- und Verhaltensproblemen.
Tanja Sturm (Dr. phil.), Assistenzprofessorin für Schulentwicklung und qualitative Forschungsmethoden an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, ist derzeit Vertretungsprofessorin für Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Sonderpädagogik mit dem Schwerpunkt Lernen und inklusive Pädagogik an der Universität Hamburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind unterrichtliche Heterogenitäts- und Homogenitätskonstruktionen, inklusive Schulentwicklung und Umgang mit Differenzen im Bildungssystem.
WWW: Sturm
WWW: Schwohl
Inhaltsverzeichnis
Vorwort | 9
Inklusion als Herausforderung schulischer Entwicklung.
Eine Einführung
Joachim Schwohl und Tanja Sturm | 13
1 INKLUSION ALS ERZIEHUNGS- UND BILDUNGSWISSENSCHAFTLICHES THEMA
»Inclusive Education« – Desiderata in der deutschen Fachdiskussion
Birgit Herz | 29
Eine Schule für alle – eine Gesellschaft für alle?
Helmut Richter | 45
Inklusion – Hinweise zur Verortung des Begriffs im Rahmen der internationalen politischen und sozialwissenschaftlichen Debatte um Menschenrechte, Bildungschancen und soziale Ungleichheit
Iris Beck und Sven Degenhardt | 55
2 INKLUSION UND SOZIALRÄUMLICHE DIFFERENZEN
Heterogenität und Homogenität an Hamburger Schulen – Besichtigung der Normalität
Norbert Maritzen und Tanja Sturm | 85
Eine Schule für alle in der deutschen Großstadt mit der schärfsten Polarisierung von Reichtum und Armut – Fakten, Probleme und Herausforderungen
Wulf Rauer | 103
Die Schule für alle – überall? Rückfragen zum Hamburger Schulversuch
»Integrative Grundschule im sozialen Brennpunkt«
Joachim Schroeder | 119
3 INKLUSION UND HETEROGENITÄT
Differenzskonstruktionen im Kontext unterrichtlicher Praktiken
Tanja Sturm | 141
Eine Schule für alle – aber getrennte Bereiche für Mädchen und Jungen?
Hannelore Faulstich-Wieland und Barbara Scholand | 159
Kooperative Bildung im Schulalltag – Zur Notwendigkeit von heterogenen Unterrichtsformen
mit Schülerinnen und Schülern mit einer schwersten Behinderung
Wolfgang Praschak | 179
Religionsunterricht für alle in einer Schule für alle. Inklusion statt Separation
Wolfram Weiße | 193
Auf dem Weg zu einer neuen Sprachbildung für alle – Das Modellprogramm FÖRMIG
Ingrid Gogolin | 211
Frühförderung im Kontext der sprachlichen Entwicklung des Kindes
Alfons Welling | 229
4 INKLUSION UND SCHULENTWICKLUNG
Schuleffektivität, Pluralität und soziale Gerechtigkeit. Spannungen und Widersprüche gegenwärtiger
Qualitätsstrategien im Bildungssystem
Mechtild Gomolla | 243
Inklusive Schulen entwickeln. Wie helfen Daten aus Lernstandserhebungen?
Eva Arnold | 277
Inklusive Schule braucht Unterstützung(ssysteme)
Waldtraut Rath und Christine Pluhar | 293
5 INKLUSION UND DER BLICK AUF ENTWICKLUNGEN
Ansätze einer (behinderten-)pädagogischen Diagnostik in einer inklusiven Schule
Gabriele Ricken | 315
Entwicklungsbewertung und Inklusion
André F. Zimpel | 333
Die Autorinnen und Autoren | 355
Leseprobe:
Inklusion als Herausforderung schulischer Entwicklung
Eine Einführung
Joachim Schwohl und Tanja Sturm
Inklusion, so die leitende Grundannahme dieses Buches, fordert die Institution
Schule heraus. Die Herausforderungen, so unsere Annahme
weiter, sind grundsätzlicher Art, d.h., sie betreff en die gesamte Institution;
gehen also über oberfl ächliche Veränderungen hinaus und laden
dazu ein, die Schule in ihren Grundformen zu hinterfragen. Historisch
gewachsene Strukturen und kulturell geprägte Vorstellung des deutschen
Schulsystems werden durch die politisch formulierte und erziehungs- und
bildungswissenschaftlich unterstützte Aufgabe, eine inklusive Schule zu
gestalten, infrage gestellt. Davon sind alle Ebenen der Schule betroff en:
die der schulischen Struktur, die der Einzelschule und die des Unterrichts.
Für alle drei Ebenen sind unterschiedliche Zuständigkeiten und Kooperationen
notwendig, um inklusive Veränderungen und Entwicklungen zu
initiieren und zu etablieren, auf dem Weg der Annäherung an das Ziel, zu
dem sich Deutschland und die Europäische Union durch die Ratifi zierung
der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen
verpfl ichtet haben: eine Schule für alle zu schaff en und verantwortungsvoll
zu gestalten (vgl. UN 2006; 2008).
In der Konvention, die den rechtlichen Aufhänger des Ziels einer inklusiven
Schule darstellt, heißt es im § 24, der die Fragen von Bildung
und Schule bearbeitet: »Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf
der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die
Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen und le14
JOACHIM SCHWOHL UND TANJA STURM
benslanges Lernen […].« (§ 24) Die Behindertenrechtskonvention gilt, auch
wenn ihr Name anderes vermuten lässt, für alle Menschen, d.h., sie stellt
nicht partikulare Interessen heraus. Vielmehr beschreibt sie, als Teil der
Allgemeinen Menschenrechte, diese aus der Perspektive und dem Erfahrungshintergrund
von Menschen mit Behinderungen. Als solche stellt sie
eine Gelegenheit dar und bietet die Möglichkeit zur Diff erenzierung und
Ergänzung der universellen Menschenrechte (vgl. Bielefeldt 2010: 66).
Bremen hat als erstes Bundesland die Entwicklung einer inklusiven
Schule in sein Schulgesetz aufgenommen. Dort heißt es in der Fassung
des Schulgesetzes vom Juni 2009 im § 3:
»Bremische Schulen haben den Auftrag, sich zu inklusiven Schulen zu entwickeln.
Sie sollen im Rahmen ihres Erziehungs- und Bildungsauftrages die Inklusion aller
Schülerinnen und Schüler unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft, ihrer
Staatsbürgerschaft, Religion oder einer Beeinträchtigung in das gesellschaftliche
Leben und die schulische Gemeinschaft befördern und Ausgrenzungen einzelner
vermeiden.« (Bremen, 2009)
In den Vorstellungen zum Aufbau einer inklusiven Schule im Bremer
Schulgesetz fi ndet sich ein Diskurs wieder, der in den Erziehungs- und
Bildungswissenschaften und in der Schulpädagogik – wenn bisher auch
noch weniger aufeinander bezogen – geführt wird. Überlegungen zur Gestaltung
einer inklusiven Pädagogik im Kontext einer inklusiven Schule
sind bisher überwiegend in der Behinderten- und Integrationspädagogik
geführt worden (vgl. Hinz 2009, Wocken 2009). Die seit den 1980er Jahren
geführte Diskussion integrativer Beschulungsmöglichkeiten für Kinder
und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf scheint auf
den ersten Blick der Vorläufer zur Entwicklung einer Schule für alle. Ein
zentraler Unterschied zwischen dem integrativen und dem inklusiven
Diskurs besteht jedoch darin, dass der um eine Schule für alle – so wird
es auch im Bremer Schulgesetz formuliert – nicht ausschließlich eine im
Schulsystem verankerte Trenn- und Exklusionslinie in den Blick nimmt.
Mit einer derart einseitigen Betrachtung wäre das Risiko verbunden, »partikulare
und gruppenkategorial ausgerichtete Anteile« (Hinz 2009: 173) in
den Blick zu nehmen und andere, im Schulsystem sowie in der Gesellschaft
(re-)produzierte Ungleichheiten, die entlang anderer sozialer Kategorien
legitimiert werden, auszublenden.
INKLUSION ALS HERAUSFORDERUNG SCHULISCHER ENTWICKLUNG 15
Gemeinsam ist in den unterschiedlichen erziehungs- und bildungswissenschaftlichen
Diskursen, die sich mit Ausgrenzungsprozessen im
Kontext von Schule und Unterricht auseinandersetzen, die Annahme,
dass eine dichotome Zuschreibung von Diff erenzkategorien als zu überwinden
angesehen wird (vgl. z.B. Faulstich-Wieland/Weber/Willems
2004, Gomolla 2005, Sturm 2010). Ziel ist die Überwindung solcher binären
Zuschreibungsformen, bezogen auf sozial konstruierte Kategorien,
die üblicherweise mit einer hierarchischen Relation der Ausformungen
einhergehen und so mehr oder weniger off ensichtlich und legitimiert die
Benachteiligung und/oder Diskriminierung einer der Gruppen zur Folge
hat. Die Gemeinsamkeit der größtenteils entlang der jeweils betrachteten
sozialen Kategorie geführten Diskurse liegt darin, die schulischen
und unterrichtlichen Herstellungsformen der Kategorie in den Blick zu
nehmen, sie zu erkennen und Perspektiven ihrer Überwindung aufzuwerfen.
Mit anderen Worten, es werden behindernde und ermöglichende
Formen und Prozesse der Teilhabe an unterrichtlichen und schulischen
Bildungs- und Erziehungsprozessen betrachtet. Zudem werden darin die
erziehungswissenschaftliche Disziplin und ihre Teildisziplinen herausgefordert,
Gemeinsamkeiten ihrer Erkenntnisse herauszuarbeiten und
Diff erenzen zu refl ektieren, indem die unterschiedlichen Dimensionen
überwunden werden, ohne ein Plädoyer für die Abschaff ung spezifi schen
Wissens halten zu wollen.
Ein weiterer durch die Aufgabe der Inklusion herausgeforderter erziehungswissenschaftlicher
Diskursstrang ist die Schulentwicklung. Als
erziehungs- und bildungswissenschaftliche Teildisziplin setzt sie sich mit
Fragen der Unterstützung und Gestaltung schulischer und unterrichtlicher
Veränderungsprozesse auseinander. Ein zentrales Thema stellt ein
veränderter Umgang mit der Heterogenität der Schülerschaft dar, der die
Schulentwicklung herausfordert (vgl. Altrichter/Hauser 2007, Baumert
2002). Die Überlegungen schulischer Entwicklung sind durch die Gestaltungsaufgabe
einer inklusiven Schule herausgefordert, einen konkreten
Inhalt im Kontext ihrer Veränderungsstrategien mitzudenken.
Die politisch gestellte Aufgabe ist die Gestaltung einer inklusiven Schule,
in der es im Kern um eine Konzeption geht, die niemanden ausschließt,
ja, einen Ausschluss gar nicht in Betracht ziehen kann, da sie sich an der
Maxime orientiert, eine Schule zu gestalten, die inklusiv ist, und nicht
nach Möglichkeiten sucht, Kinder und Jugendliche, in diese Schule zu inkludieren.
Mit Karl Dieter Schuck (2001) kann und soll in diesem Band ge16
JOACHIM SCHWOHL UND TANJA STURM
fragt werden, welche Vorstellungen von Bildung, Erziehung, Lernen und
Entwicklung einer derartigen Schule für alle zugrunde liegen sollen.
Die Schule in Deutschland, der im internationalen Vergleich eine hohe
Selektivität bescheinigt wird, ist von der Illusion durchzogen, dass homogene
Lerngruppen nach allen Regeln der fachlichen Kunst herzustellen
sind. Dies zeigt sich auf der Ebene der Schulstruktur: eine mehrgliedrige
Struktur – wenn auch durch strukturelle Veränderungen in einzelnen
Bundesländern politisch infrage gestellt – stellt eines der Charakteristika
der deutschen Schule dar. Veränderungen auf dieser Ebene sind wesentlich
politischer Art und können, wie das Beispiel Hamburgs zeigt, zu
einem Politikum genutzt werden. Es sind also Politik und Gesellschaft aufgefordert,
die notwendigen Rahmenbedingungen für die Gestaltung einer
inklusiven Schule herzustellen. Hierzu gehört es, all jene Aspekte zu refl
ektieren und zu prüfen, die einer solchen Idee im Wege stehen. Hierzu
gehören auch Formen der Leistungsmessung und Standardisierung, die
Rankings ausschließlich im kognitiven Leistungszuwachs bemessen (vgl.
Wedell 2005: 5).
Auch die Einzelschule, die im Zentrum aktueller Schulentwicklungsüberlegungen
steht, so auch jener, die sich explizit mit der Gestaltung einer
inklusiven Schule auseinandersetzen (vgl. z.B. Ainscow 2007, Boban/Hinz
2004), ist herausgefordert, historisch gewachsene Gewohnheiten und Ordnungen
zu hinterfragen und neue Modelle zu entwerfen. Hierzu gehört
die Idee homogener Jahrgangsklassen ebenso wie die leistungshomogener
Klassen, wie sie beispielsweise in Kooperativen Gesamtschulen anzutreff
en sind. Der schulkulturelle Umgang mit sozialer Heterogenität und
Diff erenzen insgesamt ist zu hinterfragen und auf ermöglichende und behindernde
Bedingungen zu prüfen.
Der Unterricht, häufi g als schulisches Kerngeschäft bezeichnet, also
die Lehr-Lern-Interaktionen zwischen Lehrenden und Schülern/Schülerinnen,
ist häufi g auf die Idee der homogenen Lerngruppe zugeschnitten,
indem er als »7-G-Unterricht« gestaltet wird: »Die gleichen Schüler lösen
beim gleichen Lehrer im gleichen Raum zur gleichen Zeit im gleichen
Tempo die gleichen Aufgaben mit dem gleichen Ergebnis« (Scholz 2008:
2). Auch sind die Konzepte und Vorstellungen, die Lehrkräfte von Heterogenität
und Homogenität sowie dem unterrichtlichen Umgang mit diesen
haben, zu hinterfragen. Petriswskyj weist darauf hin, dass Vorstellungen
von Schulreife und/oder zusätzliche fi nanzielle und personelle RessourINKLUSION
ALS HERAUSFORDERUNG SCHULISCHER ENTWICKLUNG 17
cen für bestimmte Behinderungen einer inklusiven Unterrichtsgestaltung
im Wege stehen (vgl. Petriwskyj 2010).
Darauf, dass Lerngruppen, anders als im deutschen Schulsystem angenommen,
nur vermeintlich homogen sind bzw. maximal hinsichtlich
eines Kriteriums, verwiesen Klafki und Stöcker bereits 1976. Doch auch
sie waren nicht die ersten, die auf diesen Zusammenhang hinwiesen: »Die
Verschiedenheit der Köpfe ist das große Hindernis aller Schulbildung.«
(Johann Friedrich Herbart, in: Rutt 1957: 176) Sie zu würdigen und als Ausgangspunkt
der Gestaltung einer Schule für alle zu erkennen und anzuerkennen,
ist eine Herausforderung für die gesellschaftliche Institution
Schule.
Dieses Buch möchte einen Beitrag dazu leisten, die Herausforderungen,
die mit der Gestaltung einer inklusiven Schule verbunden sind, aus
unterschiedlichen Blickwinkeln und Perspektiven zu betrachten. So wird
die Schule in ihrer bisherigen Konzeption infrage gestellt. Gleichzeitig ist
die erziehungs- und bildungswissenschaftliche Diskussion herausgefordert
– auch hierzu möchte das Buch einen Anstoß geben – den Anspruch
einer Pädagogik für alle zu formulieren. So soll jener fachwissenschaftliche
Diskurs diff erenziert und gestärkt werden, der sich der Thematik
gegenüber verantwortlich fühlt und gesellschaftlich verpfl ichtet ist.
Die Buchbeiträge sind fünf unterschiedlichen Abschnitten zugeordnet,
in denen jeweils ein Themenbereich im Zentrum steht. Gleichwohl wird
deutlich, dass sich zahlreiche ineinandergreifende Aspekte und Anknüpfungspunkte
in den jeweils anderen Kapiteln fi nden lassen. Im ersten Kapitel
»Inklusion als erziehungs- bzw. bildungswissenschaftliches Thema«
wird über die Schulpädagogik hinausgeblickt. Dabei werden zentrale Diskurslinien
aufgezeigt. Birgit Herz analysiert aus bildungssoziologischer
Perspektive den schulischen Inklusionsdiskurs. In diesem Kontext diff erenziert
sie zwischen Inklusionsrhetorik und Inklusionsrealität und verweist
auf entsprechende Konsequenzen der Exklusion für Schüler/-innen
mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der kognitiven oder der emotionalen
und sozialen Entwicklung. Helmut Richter vertritt in seinem Beitrag
die These, dass eine Schule für alle nicht ohne eine Gesellschaft für alle
zu denken ist. Er legt Widerstände dar, die sich aus der Konstitution einer
Konkurrenzgesellschaft ergeben. Um eine Partizipation aller zu erreichen,
bedarf es einer umfassenderen Bildungsoff ensive, die über die Betrachtung
der Schule hinausgeht. Er schlägt vor, Formen der Ganztagsbildung
und der außerschulische Bildung mit einzuschließen. Iris Beck und Sven
18 JOACHIM SCHWOHL UND TANJA STURM
Degenhardt erörtern in ihrem Artikel den Inklusionsbegriff vor dem Hintergrund
zweier Diskussionslinien. Zum einen wird die Verankerung des
Begriff s in internationalen Vereinbarungen und Erklärungen beleuchtet.
Zum anderen wird er als Leitbegriff der sozialen Ungleichheitsforschung
herangezogen. Der Beitrag gibt Hinweise auf die Verbindung von Inklusion
mit politisch-normativen Fragen der Menschenrechte und weltweiten
Verteilungskonfl ikten sowie auf die diesbezüglichen sozialwissenschaftlichen
Auseinandersetzungen. Gleichzeitig fordert er zu einer Diskussion
und Transformation interkultureller und globaler Hintergründe auf, die
die deutsche Debatte um Inklusion in Bildung und Erziehung in ihrer
Ausrichtung und in der Frage der Umsetzung fruchtbar erweitern.
Im zweiten Abschnitt des Buches – »Inklusion und sozialräumliche
Diff erenzen« – wird gefragt, wie sich diese Diff erenzen auf die Gestaltung
einer inklusiven Schule auswirken. Im ersten Beitrag dieses Abschnitts
analysieren Norbert Maritzen und Tanja Sturm Ergebnisse des Hamburger
Bildungsmonitorings. Sie schlussfolgern, dass auf den Ebenen von Schulsystem,
Einzelschule und Unterricht Formen sozialer Heterogenität bestehen
und gleichzeitig Tendenzen von Homogenisierungen zu erkennen
sind. Eine Gruppe kann zugleich als homogen und als heterogen betrachtet
werden. Dies hängt von der jeweiligen sozialen Kategorie bzw. der Einheit
ab, die betrachtet wird. Ist es die milieuspezifi sche Zusammensetzung, die
in den Fokus gerückt wird, lässt sich für einige Hamburger Stadtteile nachweisen,
dass soziale Disparitäten sich in entsprechenden Leistungen niederschlagen,
wodurch unterschiedliche Voraussetzungen für die Gestaltung
einer inklusiven Schule in den verschiedenen Stadtteilen entstehen.
Auch im Artikel Wulf Rauers bilden die Daten des Hamburger Bildungsmonitorings
einen zentralen Bezugspunkt. Am Beispiel dieser deutschen
Großstadt wird der Frage nachgegangen, ob eine Schule für alle tatsächlich
nachhaltig zur Überwindung der Bildungsbenachteiligung beitragen
kann. Angesichts der dramatisch wachsenden Polarisierung von Reichtum
und Armut in deutschen Großstädten und des damit verbundenen Auseinanderdriftens
der Stadtteile ergeben sich für Kinder und Jugendliche
je nach Stadtteil unterschiedliche Aneignungsbedingungen. Pädagogische
Maßnahmen innerhalb einer inklusiven Schule können jedoch nur begrenzt
prekäre Aneignungsbedingungen kompensieren. Sozialpolitische
Maßnahmen, Stadtentwicklungs-, Wohnbau- und Familienpolitik müssen
die pädagogischen Maßnahmen begleiten, wenn diese nicht an ihren eigenen
Zielen scheitern sollen, so der Autor. Dennoch hat die Pädagogik ihren
INKLUSION ALS HERAUSFORDERUNG SCHULISCHER ENTWICKLUNG 19
Beitrag zu leisten. Sie muss sich aber ihrer begrenzten Möglichkeiten bewusst
sein, damit sie nicht als illusionär diff amiert wird, so Rauer. Joachim
Schroeders Artikel beleuchtet ebenfalls die sozialräumliche Entwicklung.
Er legt den Fokus auf zwei Exklusionslinien: Behinderung und soziale Benachteiligung.
Für Schroeder bildet der Hamburger Schulversuch »Integrative
Grundschule im sozialen Brennpunkt« den Ausgangspunkt für die
Erörterung. Er fragt, inwiefern eine Neugestaltung des Unterrichts diesen
Dimensionen der schulischen Exklusion entgegenwirken kann. Dabei stellt
er »inklusive« und »milieusensible« Konzepte einander gegenüber, die in
dem (sonder-)pädagogischen Diskursfeld der Entwicklung von Strategien
zur Vermeidung von Bildungsbenachteiligungen konkurrieren. Schroeder
plädiert für eine schulische Bildung, die einerseits auf Basis einer Sozialraumanalyse
entwickelt wird und andererseits die individuellen Lebenslagen
der Schüler/-innen angemessen berücksichtigt.
Das dritte Kapitel trägt den Titel »Inklusion und Heterogenität«. Die
Ausdiff erenzierung in verschiedene Bereiche der Erziehungswissenschaft
entlang sozialer Dimensionen hat einerseits wichtige Erkenntnisse hervorgebracht,
andererseits trägt die Fixierung auf ein bestimmtes Merkmal
auch zur Konstruktion von Unterschieden bei. Die in diesem Abschnitt
subsumierten Beiträge beschäftigen sich mit dem Thema i.d.R. aus der
Perspektive einer Heterogenitätsdimension, aber mit dem Ziel weniger
das Unterschiedliche als vielmehr das Gemeinsame zu betonen. Der erste
Beitrag thematisiert die Frage, wie Diff erenz konstruiert wird. Tanja Sturm
stellt in ihrem Beitrag Ergebnisse einer von ihr durchgeführten Untersuchung
vor. Gruppendiskussionen mit Lehrkräften hat sie mit dem Ziel geführt,
Auskünfte darüber zu bekommen, mit welchen Kriterien Lehrkräfte
Unterschiede ihrer Schüler/-innen konstruieren und in ihren praktischen
Unterrichtshandlungen realisieren. Dabei kommt Sturm zu dem Schluss,
dass Heterogenität häufi g als binäre Zuschreibung verwendet wird. In
dem vorgestellten Fall wird Heterogenität von Lehrkräften vor allem in Bezug
auf unterschiedliche Leistungsniveaus wahrgenommen, insbesondere
dann, wenn diese Auswirkungen auf die eigene Unterrichtsgestaltung
hat. Hannelore Faulstich-Wieland und Barbara Scholand beschreiben im
anschließenden Artikel explizit eine zentrale Dimension, wenn es darum
geht, soziale Unterschiede zu konstruieren. Die Autorinnen betrachten die
Debatte um Inklusion aus der Perspektive der erziehungswissenschaftlichen
Geschlechterforschung. Während die Idee der Inklusion, ausgehend
vom Menschenrecht auf Bildung, eine Schule für alle Kinder fordert, ist
20 JOACHIM SCHWOHL UND TANJA STURM
in der schulischen Geschlechterpolitik seit vielen Jahren ein gegenläufi -
ger Trend zu beobachten: Unter dem Label der »Geschlechtergerechtigkeit
« werden vor allem geschlechtsgetrennte Angebote durchgeführt. Der
Aufsatz geht den theoretischen Begründungen für geschlechtsgetrennte
Angebote nach und entwickelt eine Perspektive, in der Koedukation und
Inklusion zusammen gedacht werden. Wolfgang Praschak setzt sich mit der
Heterogenitätsdimension Behinderung auseinander. Er stellt Überlegungen
an, welche Auswirkungen die Gestaltung eines inklusiven Schulsystems
für die schulische Entwicklungsförderung von sogenannten schwer
und mehrfach behinderten Schülern/Schülerinnen hat. Bisher wird – ausgehend
von einer vermeintlichen primären Behinderung – versucht, die
schulische Förderung der Betroff enen schädigungsspezifi sch zu homogenisieren,
so der Autor. Dieser Ordnungsversuch hat jedoch zumeist
eine willkürliche und intransparente Aussonderung der Schüler/-innen
zur Folge, die die Gefahr mit sich bringt, dass eine Art »Restschule« entsteht.
Prakschak vertritt die These, dass eine solche Restschule im Lichte
der neueren Inklusionsbestrebungen nicht mehr zu legitimieren ist. Um
dieser Gefahr entgegenzutreten, skizziert er ein zweistufi ges Modell, das
zunächst die Aufhebung der Ausgrenzung innerhalb der Sonderschulen
thematisiert. In einem zweiten Schritt sollen die Betroff enen dann in eine
Schule für alle Kinder integriert werden. Für den Unterricht in dieser
schlägt Praschak das Prinzip der Elementarisierung der Unterrichtsformen
und ihre Flexibilisierung vor. Wolfram Weiße greift eine weitere Heterogenitätsdimension
auf. Mit der Zugehörigkeit zu einer Kultur kann die
Übernahme bestimmter Normen und Werte, die auch religiös beeinfl usst
sind, verbunden sein. Vor dem Hintergrund der zunehmenden religiösen
Pluralisierung europäischer Gesellschaften vertritt Weiße in seinem Text
die These, dass Religionsunterricht in der Schulbildung einen wichtigen
Beitrag zur interreligiösen Verständigung innerhalb von Lerngruppen sowie
auch zur friedlichen Koexistenz verschiedener Gruppierungen in der
Gesellschaft leisten kann. Anhand empirischer Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt
REDCo (Religion in Education. Contribution to Dialogue
or Factor of Confl ict in transforming societies of European Countries) zu
den Einstellungen Jugendlicher aus acht europäischen Ländern zeigt Weiße
eine große Aufgeschlossenheit der Teenager gegenüber religiöser Heterogenität
auf. Dies bestätigt den hohen Stellenwert des Religionsunterrichts.
Anhand des Hamburger Fallbeispiels »Religionsunterricht für alle«
verdeutlicht er, dass insbesondere ein gemeinsam für alle Schüler/-innen
INKLUSION ALS HERAUSFORDERUNG SCHULISCHER ENTWICKLUNG 21
erteilter Religionsunterricht ein im Kontext Europas zukunftsweisendes
Einübungsfeld für interreligiösen Dialog und damit für eine inklusive
Schule sein kann. Ingrid Gogolin attestiert den deutschen Schulen einen
monolingualen Sprachhabitus. In nahezu allen deutschen Schulen wird
vorausgesetzt, dass die Schüler/-innen in der Lage sind, dem Unterricht,
der in den meisten Fächern in der deutschen Sprache abgehalten wird, zu
folgen. Für Schüler/-innen mit Migrationshintergrund stellt sich hiermit
eine besondere Herausforderung. Trotz verschiedener Bemühungen ist
es noch nicht hinreichend gelungen, den Zusammenhang von kultureller
Herkunft und Leistungsmöglichkeiten zu entkoppeln. Eine inklusive
Schule muss sich auch daran messen lassen, wie es ihr gelingt, zu dieser
Entkoppelung beizutragen. Einen Ansatz, wie dies im Rahmen pädagogischer
Möglichkeiten gelingen kann, stellt Gogolin in ihrem Artikel anhand
des FörMig-Projekts dar. Theoretische Grundlage ist die Erkenntnis, dass
eine bildungsspezifi sche Sprache eng mit den Merkmalen der Schriftsprache
verknüpft ist. Deswegen geht es weniger um die Entwicklung einer
allgemeinen Kommunikationsfähigkeit, als um die Entwicklung einer Bildungssprache.
Gogolin plädiert für ein bewusstes Verwenden und Vermitteln
von Sprache als Medium von Lernen und Lehren. Sprachförderung
muss, so die Autorin, deswegen Aufgabe jeden Unterrichts sein. Sie vertritt
die These, dass es um die Entwicklung von Gesamtkonzepten sprachlicher
Bildung geht. Zudem muss die sprachliche Bildung in Kooperation
mit anderen vorangetrieben werden. Das FörMig-Projekt kann hierfür als
ein gelungenes Beispiel angesehen werden. Ähnlich wie Gogolin, die betont,
dass häufi g die Schnittstellen von einem Bildungsgang in den nächsten
für Kinder mit Migrationshintergrund eine Schwierigkeit darstellen, verweist
Alfons Welling auf den schwierigen Eintritt in die Grundschule bei Kindern
mit sprachlichen Auff älligkeiten. Diesen Eintritt entsprechend zu gestalten,
muss Aufgabe einer inklusiven Schule sein. Zwar können auch in einer inklusiven
Schule die Schüler/-innen in ihrer sprachlichen Entwicklung gefördert
werden, doch sollte eine Sprachförderung schon früher stattfi nden.
Sprachentwicklung muss sich von Anfang an im Kontext mit der Umgebung
gemeinsam entwickeln, so Welling. Die frühe Entwicklung des Kindes wird
in diesem Beitrag also nicht im Sinne des Verständnisses einer funktionsorientierten,
eindimensionalen Förderung des Kindes gesehen. Vielmehr
wird betont, dass die Einbeziehung der Eltern des Kindes bzw. des Umfeldes
bis hin zu seiner Förderung im Rahmen der Grundschule angestrebt werden
muss.
22 JOACHIM SCHWOHL UND TANJA STURM
Im vierten Kapitel des Buches – »Inklusion und Schulentwicklung« – werden
Aspekte der Schulentwicklung beschrieben und analysiert, wie sie den
Prozess zur Entwicklung einer inklusiven Schule befördern oder behindern
können. Im Zentrum von Mechtild Gomollas Beitrag steht eine Analyse von
Schuleff ektivität als spezifi schem curricularem und pädagogischem Diskurs,
der ausgehend von den angelsächsischen Ländern im letzten Drittel
des 20. Jahrhunderts weltweit zunehmend Bedeutung erlangt hat. Dabei
fragt sie nach der Angemessenheit dieses rational-technischen Ansatzes
im Hinblick auf die Heterogenität von Bildungsvoraussetzungen, Identitäten
und Lebenshintergründen von Schülern/Schülerinnen in einer zunehmend
fragmentierten sozialen Welt. Sie erörtert, inwiefern und mit
welchen Folgen für wen Aspekte der Diversität, Pluralität und sozialen
Gerechtigkeit im Schuleff ektivitätsdenken inkorporiert, verzerrt oder ausgeschlossen
werden. Vor diesem Hintergrund werden Perspektiven entwickelt,
wie die Verbesserung der Qualität von Bildungs- und Erziehungsprozessen
mit dem Bemühen um eine inklusive, partizipatorische und
sozial gerechte Bildungspraxis verknüpft werden kann. Eva Arnold geht in
ihrem Artikel der Frage nach, welchen Beitrag Lernstandserhebungen zur
Schul- und Unterrichtsentwicklung leisten können, wenn es darum geht,
dem Ziel der inklusiven Schule näherzukommen. Dabei stellt sie Chancen
und Risiken dieses Vorgehens einander gegenüber. Grundlage für ihre
Ausführungen sind ausgewählte Ergebnisse eines Bremer Schulentwicklungsprojekts,
in dem Lernstandserhebungen als Impuls für Schul- und
Unterrichtsentwicklung genutzt wurden. Aus den Resultaten der Studie
schlussfolgert Arnold, dass die Arbeit mit Lernstandserhebungen im Sinne
des Leitziels nützlich sein kann. Vor allem, wenn es gelingt, die Aufmerksamkeit
von Lehrkräften und Schülern/Schülerinnen auf individuelle
Lernvoraussetzungen und individuell angemessene Lernarrangements
zu lenken. Einem anderen Schwerpunkt der Schulentwicklung widmen
sich Waltraud Rath und Christine Pluhar. Um den Lernbedürfnissen aller
Schüler/-innen in einer inklusiven Schule gerecht zu werden, bedarf es zusätzlicher
Unterstützungssysteme, so die leitende These der Autorinnen.
Anhand der Entstehungsgeschichte und der aktuellen Ausgestaltung des
Landesförderzentrum Sehen in Schleswig ziehen sie Rückschlüsse für die
Entwicklung anderer Unterstützungs- und Beratungssysteme. Sie vertreten
die These, dass die in Schleswig-Holstein zugrunde gelegten Konzepte
übertragen oder für Gruppen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen
anderer Art sinnvoll modifi ziert werden können. Zunächst ist
INKLUSION ALS HERAUSFORDERUNG SCHULISCHER ENTWICKLUNG 23
dieses Modell als Verlegenheitslösung oder als Sparmodell betrachtet worden,
doch nach mehr als 25 Jahren hat es sich zu einem leistungsfähigen
großen Unterstützungs- und Beratungszentrum für Kinder, Jugendliche
und junge Erwachsene mit Blindheit oder Sehbehinderung entwickelt.
Der fünfte Abschnitt des Bandes »Inklusion und der Blick auf Entwicklungen
« beschäftigt sich mit Fragen der Wahrnehmung und Bewertung
von Entwicklungsprozessen in einem inklusiven Schulsystem. In diesem
Kontext stellt Gabriele Ricken Aspekte aus dem Bereich der pädagogischen
Diagnostik in den Fokus ihrer Betrachtung. Sie vertritt die These, dass sich
in einer inklusiven Schule eine Kultur der Angebots-Entwicklungsprozess-
Diagnostik entwickeln müsse, um die Lern- und Entwicklungsprozesse
der Kinder und Jugendlichen beobachten und bewerten zu können. Ein
Umdenken muss insofern stattfi nden, als dass Diagnostik insbesondere
bei Schülerinnen und Schülern, die mit größerem Aufwand lernen, eine
prozessbegleitende Tagesaufgabe sei. Der pädagogische Förderbedarf ist
nicht, wie bisher im sonderpädagogischen Kontext üblich, auf das Kind
oder den Jugendlichen und nicht auf einmalige Erhebungen zu begrenzen.
Vielmehr muss ein pädagogisch und diagnostisch fl exibler Umgang mit
entstandenen Problemlagen in dem jeweiligen Kontext entwickelt werden,
so Rickens Plädoyer. André Zimpel stellt Überlegungen der Zuteilung von
Schülern/Schülerinnen in entsprechende Schulformen an den Anfang seiner
Ausführungen. Unserem jetzigen Schulsystem liegt die Annahme zugrunde,
dass sich Kinder mithilfe entsprechender Strategien bestimmten
Schulformen zuordnen lassen. Die Grundlage für Schullaufbahnentscheidungen
bilden Entwicklungsbeurteilungen und -prognosen, die immer
auf irgendeiner Annahme über eine menschliche Entwicklungslogik beruhen.
Beurteilungen sind jedoch niemals unabhängig von den Urteilenden.
Wird z.B. die Intelligenz einer Person beurteilt, stellt sich sofort die
Frage: Wie intelligent ist das Urteil? Zimpel kritisiert damit die Strategien
und die aktuelle Praxis der schulischen Selektion. Weil die Zuweisung in
bestimmte Bildungsgänge aufgrund der unzureichenden diagnostischen
Mittel fehlerhaft ist, fehlt auch die Legitimation für die Selektion. Ein Verzichten
auf das Selektieren führt letztlich zu einer inklusiven Schule.
Die kurze Vorstellung der Buchbeiträge verdeutlicht, welche Herausforderungen
auf dem Weg zu einer inklusiven Schule zu bewältigen sind.
Unser Anliegen war und ist es, die Diskurse, die in den unterschiedlichen
Teildisziplinen der Erziehungs- und Bildungswissenschaft geführt werden,
zusammenzuführen. Vor allem die Frage, wie Bildungsbenachteiligung
24 JOACHIM SCHWOHL UND TANJA STURM
abgebaut werden kann, hat uns in der Zusammenstellung der Beiträge
motiviert. Die einzelnen Beiträge dokumentieren aus unterschiedlichen
Perspektiven Ansatzpunkte, wie Inklusion als Herausforderung schulischer
Entwicklung angegangen werden kann. Die Stärke des Buches liegt
u.E. nicht nur darin, dass verschiedene Diskurslinien zum Thema der Gestaltung
einer inklusiven Schule zusammengeführt werden, sondern auch
darin, Überschneidungen in den Diskursen off engelegt zu haben. Wir
wünschen uns, dass es aufgrund der aufgezeigten Zusammenhänge zu
verstärkten Kooperationen und einer damit verbundenen Weiterentwicklung
der erziehungs- und bildungswissenschaftlichen Disziplin kommt.
Wenn die Diskurse der jeweiligen Bereiche überhaupt zur Kenntnis genommen
werden, dann kommt es im Falle von Überschneidungen und
Gemeinsamkeiten, nur selten zu einer kooperativen Zusammenarbeit.
So wird beispielsweise in der Behindertenpädagogik zwar zur Kenntnis
genommen, wie Lernprobleme mit Mehrsprachigkeit zusammenhängen.
Kooperationen zwischen Behindertenpädagogik und interkultureller Pädagogik
sind jedoch eher die Ausnahme als die Regel. Eine breitere Kooperation
zwischen den Teildisziplinen würde auch die Weiterentwicklung
schulpädagogischer Konzepte befördern. Erste Ansätze, die zur Bewältigung
der anstehenden Herausforderungen infolge der Ausgestaltung eines
inklusiven Schulsystems nötig sind, können wir hier präsentieren. Zudem
machen die Autorinnen und Autoren an vielen Stellen ihrer Beiträge deutlich,
wie gesellschaftliche Bedingungen Ausgangslagen für schulisches
Handeln beeinfl ussen und mit diesem verknüpft sind. Folglich wäre es
eine Überforderung, das Gelingen schulischer Inklusion allein davon abhängig
zu machen, wie es der Institution mittels pädagogischer Konzepte
gelingt, zum Abbau von Bildungsbenachteiligung beizutragen. Wenn die
Erziehungs- und Bildungswissenschaft für ein inklusives Schulsystem plädiert,
kommt sie deswegen nicht umhin, gesellschaftliche Veränderungen
einzufordern. Wir sind der Überzeugung, wichtige Ergebnisse und Überlegungen
präsentieren zu können, die dazu beitragen, den Diskurs über
die Gestaltung einer inklusiven Schule voranzubringen.
INKLUSION ALS HERAUSFORDERUNG SCHULISCHER ENTWICKLUNG 25
LITERATUR
Ainscow, Mel (2007): »Taking an Inclusive Turn«, in: Journal of Research
in Special Educational Needs 7, S. 3-7.
Altrichter, Herbert/Hauser, Bernhard (2007): »Umgang mit Heterogenität
lernen«, in: Journal für LehrerInnenbildung 7, S. 4-11.
Baumert, Jürgen (2002): »Umgang mit Heterogenität. Ein Gespräch mit
Professor Jürgen Baumert«, in: Forum Schule H.1, S. 72-75.
Bielefeldt, Heiner (2010): »Menschenrecht auf inklusive Bildung. Der Anspruch
der UN-Behindertenrechtskonvention«, in: Vierteljahreszeitschrift
für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 79, S. 66-69.
Boban, Ines/Hinz, Andreas (2004): »Der Index für Inklusion – ein Katalysator
für demokratische Entwicklung in der ›Schule für alle‹«, in:
Heinzel, Friederike/Geiling, Ute (Hg.), Demokratische Perspektiven in
der Pädagogik, Wiesbaden: VS Verlag, S. 37-48.
Bremen, Freie Hansestadt (2009), Bremer Schulgesetze. URL: www.
bildung.bremen.de/fastmedia/13/Fassung1.pdf( 27.03.2010).
Faulstich-Wieland, Hannelore/Weber, Martina/Willems, Katharina (2004):
Doing Gender im heutigen Schulalltag. Empirische Studien zur sozialen
Konstruktion von Geschlecht in schulischen Interaktionen, Weinheim,
München: Juventa Verlag.
Gomolla, Mechtild (2005): Schulentwicklung in der Einwanderungsgesellschaft.
Strategien gegen institutionelle Diskriminierung in England,
Deutschland und in der Schweiz, Münster, New York, München, Berlin:
Waxmann Verlag.
Hinz, Andreas (2009): »Inklusive Pädagogik in der Schule – veränderter
Orientierungsrahmen für die schulische Sonderpädagogik!? Oder doch
deren Ende??«, in: Zeitschrift für Heilpädagogik 5, S. 171-179.
Klafki, Wolfgang/Stöcker, Hermann (1976): »Innere Diff erenzierung des
Unterrichts«, in: Zeitschrift für Pädagogik 22, S. 497-523.
Petriwskyj, Anne (2010): »Diversity and Inlusion in the Early Years«, in:
International Journal of Inclusive Education 14, S. 195-212.
Scholz, Ingvelde (2008): »Es ist normal, verschieden zu sein. Unterrichten
in heterogenen Klassen«, in: Der altsprachliche Unterricht Latein,
Griechisch 51, S. 2-13.
Schuck, Karl Dieter (2000): »Diagnostik«, in: Borchert, Johann (Hg.),
Handbuch der Sonderpädagogischen Psychologie, Bern: Huber Verlag,
S. 233-249.
26 JOACHIM SCHWOHL UND TANJA STURM
Sturm, Tanja (2010): »Heterogenitätskonstruktionen durch Lehrende.
Zur Bedeutung des Habituskonzepts für die Lehrerbildung«, in: Müller,
Florian H./Eichenberger, Astrid/Lüders, Manfred/Mayr, Johannes
(Hg.), Lehrerinnen und Lehrer lernen – Konzepte und Befunde zur
Lehrerfortbildung, Münster: Waxmann Verlag, S. 89-105.
UN, United Nations (2006; 2008): Übereinkommen über die Rechte
von Menschen mit Behinderungen (dreisprachige Fassung im
Bundesgesetzblatt Teil II Nr. 35 vom 31.12.2008) (Manuskriptdruck).
URL:http://www2.bgbl.de/Xaver/start.xav?startbk=Bundesan
zeiger_BGBl&bk=Bundesanzeiger_BGBl&start=//*%5B@attr_
id=%27bgbl208s1419.pdf %27%5D( 27.03.2010).
Wedell, Klaus (2005): »Dilemmas in the Quest for Inclusion«, in: British
Journal of Special Education 32, S. 3-11.
Wocken, Hans (2009): »Integration & Inklusion. Ein Versuch, die Integration
vor der Abwertung und die Inklusion vor Träumereien zu bewahren
«, in: Stein, Annedore/Krach, Stefanie/Niediek, Imke (Hg.),
Integration und Inklusion auf dem Weg ins Gemeinwesen. Möglichkeitsräume
und Perspektiven, Bad Heilbrunn: Klinkhardt Verlag,
S. 204-235.
Weitere Titel aus der Reihe Theorie Bilden |
|
|