Seit das Wort Fleisch ward, ist das Sehen in ständiger Erwartung.
Was für ein Satz aus dem Munde des seligen Papstes Johannes Paul II.! Er hat ihn in seinen Meditationen über die Sixtinische Kapelle formuliert. Jeder, der Michelangelos Bildwunder einmal sehen durfte, begreift, dass das lateinische Christentum hier eine große visionäre Phase hatte. Es konnte Gott in seiner Verborgenheit preisen, indem es das Sehen feierte. Kannte Michelangelo eigentlich das zweite der Zehn Gebote? Unser weihnachtliches Titelbild ,,Sacra Famiglia" von Dosso Dossi bleibt in dieser Erfah- rungsspur: In Jesus, dem fleischgewordenen Logos, hatte sich die Schrift erfüllt: ,,Und das Wort ist Fleisch geworden" (Joh 1,14). Maria zeigt bei Dosso Dossi das Deiizit der Buchreli- gion. Ihr Finger zeigt auf eine Stelle im aufgeschlagenen Codex. Dort fehlt der Text! Und fra- gend blickt sie auf den Fleisch gewordenen Logos, ihr nacktes kleines Kind. Wort und Fleisch begegnen sich in unserem Weihnachtsbild in dramatisch gesteigerter Weise. Maria macht den Betrachter zum Zeugen eines epochalen ,,Medienwechsels". Der Ort Gottes ist nicht mehr im Text allein. Das Fleisch, aus dem ewigen Wort geboren, tritt an die Stelle der verlorenen Buch- staben. Dosso Dossi erweist sich mit dieser Deutung des weihnachtlichen Geschehens als scharfsinniger Bild—Theologe, der es meisterlich versteht, einen entscheidenden Wendepunkt in der Mediengeschichte des Monotheismus ins Bild zu setzen. ,,Jenseits der Schrift" haben wir die jüngste Ausgabe des EULENFISCH genannt und be— geben uns mit dem Gründungsherausgeber unseres Magazins, Eckhard Nordhofen, auf eine bewegte Reise durch die Geschichte des biblischen Monotheismus, an dessen Anfang eine klare Weisung steht. Das Gottesbilderverbot des Dekalogs führt ins Zentrum biblischer Theo- logie und gleichzeitig in einen spannungsreichen Dialog mit Judentum und Islam, die in der Bilderfrage einen anderen Weg beschritten haben als das apostolische Christentum. Profi~ lierte Stimmen des Judentums und des Protestantismus reagieren auf Eckhard Nordhofens Deutungsvorschlag im Bilderstreit zustimmend und kritisch, ergänzt durch Perspektiven des Islams und der Orthodoxie. Nicht unwahrscheinlich, dass in dieser Debatte das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. Ermutigt durch die positive Resonanz auf unser Booklet mit Klassikertexten in der letzten Ausgabe haben wir erneut einen Band in der Reihe ,,Eulenfisch Klassiker Theologie" aufgelegt. Die ,,Texte zur Bildtheologie" sind eine kommentierte Auswahl von einschlägigen Textquellen, an der entlang die Faszination des Gottesbilds in der biblischen Tradition zwischen radikaler Ablehnung und quasi—sakramentaler Verehrung verfolgt werden kann. Erwachsenenbildner und Religionspädagogen werden mit diesen Texten gut arbeiten können, die bislang nur sehr verstreut vorlagen. Mit dem Team des EULENFISCH wünsche ich Ihnen ein gesegnetes Weihnachtsfest und ein gutes neues Jahr!
Martin W. Ramb
Inhaltsverzeichnis
THEMA "Du sollst dir kein Gottesbildnis machen ..." | Schrift, Bild, Verkörperung – als Medien Gottes | Grenzen des Schriftparadigmas? | Ikonen wollen geküsst werden | Bilderverbot im Islam?
PRAXIS Sprachheimat – Psalmengebet | "Hört! Euch ist ein Kind geboren" | Jetzt wird’s gelb | Interreligiöse Podcasts
KUNST & KULTUR Ein Gebäude als Gedicht interpretieren | Inkarnation und Inkarnat | Malen mit Licht und Glas | Erkenne dich selbst! | Mosaikhafte Ganzheit | Berührend
FORUM Fachcurriculum Katholische Religion | Der Jesus der Evangelien | Von Kunst-Künstlern und Kuratoren-Gurus
MEDIEN Wie in einem Spiegel | Kunst für kleine Leute | Bildaktiv | "Half a Wind Show" | Verstehendes Sehen
AKTUELLES Klöster sind einfach anders | Türen zu Gott |Kinder werden gefördert | Schöne Grüße aus dem Bistum Limburg | Kirche im Kleinen | Religionsunterricht kann Türöffner des Glaubens sein