Editorial
Was verbindet den Kirchenvater Basilius aus dem 4. Jahrhundert mit dem kürzlich verstorbenen Künstler Sigmar Polke, dem „Chamäleon unter den deutschen Malern“, dessen Bild „Neid und Habgier“ aus dem Jahr 1984 wir als Coverbild für die aktuelle Ausgabe des EULENFISCH gewählt haben? Ähren, Symbole für Ernte und Reichtum, sind hier aus dem Boden gelöst, entwurzelt – schweben haltlos über dem Grund. Statt der zu erwartenden Getreidekörner heben sich D-Mark- Münzen als schwarze Konturen von dem schlammig gehaltenen Farbgrund ab, laufen in scharfen dornenartigen Strichen, den Grannen der Körner, aus. „Du siehst nur Gold, denkst nur an Gold. Lieber siehst du das Gold als die Sonne. Das Getreide wird dir zu Gold, der Wein verdichtet sich dir zu Gold, das Gold erzeugt sich selbst, indem es sich durch Zinsen mehrt. Und doch wirst du nie satt, und deine Gier findet nie ein Ziel“ – das vom heiligen Basilius stammende Zitat liest sich wie ein Kommentar zu Polkes Bild und ist leichzeitig eine hochaktuelle Zeitdiagnose: Geld kann man nicht essen, es stillt nicht unseren Hunger und dennoch bestimmt es all unser Streben und die Sicht auf die Welt – Fernsehbilder von ölverschmierten Stränden und Vögeln aus dem Golf von Mexiko kommen uns in den Sinn. Die menschliche Gier findet immer neue Betätigungsfelder.
Die Zeitumstände haben uns das Heftthema geradezu aufgedrängt: Wirtschaftskrise, bröckelndes Vertrauen nicht nur in den Euro, sozial umstrittene Sparpakte, aber auch die Selbstinszenierungen in Casting-Shows, die Gier nach immer Neuem – wir leben zweifellos in gierigen Zeiten. Mit einer neuen Facette des uralten Lasters der Menschheitsgeschichte befasst sich auch der Vortrag des Chefredakteurs des Magazins „Focus“, Wolfram Weimer, am diesjährigen Tag der Religionspädagogik. Seine Überlegungen zur „Gier der Medienrepublik“ werden wir in der nächsten Ausgabe dokumentieren.
Die Gier wird seit alters her als die „Mutter aller Laster“ bezeichnet: Stolz, Geiz, Neid, Zorn, Wolllust, Völlerei und Trägheit – die heillosen Verstrickungen des Menschen wirken als Gifte der Menschlichkeit. Sie zerstören das Glück der Familie, zersetzen das Gemeinwesen und treiben den Einzelnen in einen blinden Egoismus: „Ein geiziges Auge trocknet die Seele aus“ (Sir 14,9) – die Erkenntnis, dass der Mensch von Natur aus gierig ist, teilt die Theologie mit aller menschlichen
Weisheit. Sie unterscheidet sich aber darin, dass sie erklärt, dass dies einmal nicht so war und dass dies nicht so bleiben muss: Trotz heilloser Verstrickungen gibt es einen rettenden Ausweg. Die christliche Logik des Schenkens durchkreuzt die Logik des Habenwollens und eröffnet einen Ausweg in gierigen Zeiten. Die Heiligen haben von Paulus über Elisabeth und Franz von Assisi bis zu Mutter Teresa und Damian de Veuster diese Option glaubhaft gelebt und uns das wahre Bild des Menschen und seines Glücks gezeigt: Im Auszug aus sich selbst kommt der Mensch zu sich selbst – die christliche Liebe ist hierfür die rettende Formel.
Martin W. Ramb
ist Chefredaktuer von EULENFISCH
Inhaltsverzeichnis
THEMA
Thomas Ruster
6 Heillos verstrickt, aber
prinzipiell heilbar
Gier als die Mutter aller Laster
Ursula Noth elle-Wildfeuer
12 Geben, um zu haben
Die Logik des Schenkens
Andreas Renz
16 „Geiz und Gier treiben
uns in den Abgrund“
Gerechtes Wirtschaften im Islam
PRAXIS
Karl Heinz König
19 Ein Leben gegen die Gier
Zwei Kirchenfenster zur hl. Elisabeth
Harald Kern
24 „Du sollst nicht begehren
deiner Nächsten Mann“
Soziale Netzwerke und das
10. Gebot des Dekalogs
UTE LONNY-PLATZBECKER / PAUL PLATZBECKER
30 „Geiz ist geil“ –
oder doch nicht?
Skizze einer kompetenzorientierten
Unterrichtssequenz
ANDREA S THELEN
37 Neugier wecken –
Mitmenschlichkeit erleben
Lernen mit Herz, Hand und Verstand
THOMAS MENGES
41 Gier. Zur Ikonographie einer
Todsünde
KUNST & KULTUR
INTERVIEW MIT JÖRG LÄNGER
48 „Riesige Köpfe mit aufgerissenen
Mündern“
Der Hamburger Künstler Jörg Länger
über seine Sicht auf die Gier
HELMUT ZIMMERMAN
50 Kloster Arnstein und
seine Bibel
SABINE BERTHOLD
53 König für einen Tag
Die Gier nach Status im
Grimm´schen Märchen
MARKUS SCHULZE
56 Neu gelesen
Abraham a Sancta Clara und seine
barocke Predigtkunst
SUSANE NORDHOFEN
58 Kann eine Reliquie
falsch sein?
Martin Walsers Novelle
„Mein Jenseits“
FORUM
INTERVIEW MIT NORBERT WALTER
62 „Gott hat uns gut und böse
gemacht“
JENS FELD UND ECKHARD NORDHOFEN
66 Besser gemeinsam?
Zur Zukunft des konfessionellen
Religionsunterrichts
INTERVIEW MIT ECKHARD NORDHOFEN
70 „Die Mysterien Gottes
erlebbar machen“
Über mystagogisches Lernen,
religiöse Praxis und die Zukunft des
Religionsunterrichts
MEDIEN
FRANZ GÜNTHER WEYRICH
73 Avaritia – filmische
Schlaglichter
Kurz- und Spielfilme (auch) für den
Religionsunterricht
STEFAN HEROK
77 Sieben Todsünden und
warum ich mit Brecht
eingebrochen bin
Aus meiner Religionsunterrichtswerkstatt
THOMAS SCHWEIKERT
79 Das gute Leben
Philosophie und Lebenskunst
THOMAS MENGES
79 Bildungsstandards in
der Praxis
Kompetenzorientiert unterrichten
MATTHIAS WERNER
81 Lehrbuch der
Religionsdidaktik
AKTUELLES
KATHARINA SAUER
82 Religiös kompetent werden
Der neue Teilrahmenplan katholische
Religion in Rheinland-Pfalz
85 Neuer Dezernent für
Bildung und Kultur
Professor Dr. Wilhelm Metz
übernimmt Leitung des Dezernates