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Jenseits der Therapie Philosophie und Ethik wunscherfüllender Medizin
Jenseits der Therapie
Philosophie und Ethik wunscherfüllender Medizin




Tobias Eichinger

Transcript
EAN: 9783837625431 (ISBN: 3-8376-2543-5)
308 Seiten, paperback, 15 x 23cm, 2013

EUR 34,99
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Perfektes Aussehen und ewige Jugend, Intelligenz und Kreativität, Kraft und Konzentration. All diese Wünsche soll und will die Medizin heute erfüllen. Ob Anti-Aging, Schönheitschirurgie, Neuroenhancement oder Gendoping – neben ihrem klassisch-therapeutischen Auftrag folgt ärztliche Hilfe zunehmend auch dem Ziel der Wunscherfüllung. Ganz ohne Krankheitsbezug und Indikationsstellung, als Medizin für Gesunde.

Nach einer philosophischen Untersuchung der Bedeutung von Wünschen und Bedürfnissen analysiert Tobias Eichinger die theoretischen Grundlagen wunscherfüllender Medizin. Er zeigt auf: Ärztliche Hilfe jenseits der Therapie kann zu erheblichen ethischen Problemen führen.

Tobias Eichinger (Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Medizin- und Bioethik sowie philosophische Anthropologie.
Rezension
Früher war Medizin gebunden an Notwendigkeiten; sie diente ausschließlich der Gesundung des erkrankten Patienten. Im vergangenen Jahrzehnt hat sich hingegen ein großer Bereich in der Medizin etabliert, der sich "jenseits der Therapie" (Buchtitel!) verortet und sich auf die Erfüllung menschlicher Wünsche spezilisiert hat: von der Schönheits-Chirurgie über Anti-Aging bis zum Enhancement hat sich eine Medizin der Wunscherfüllung verselbständigt, ganz ohne Krankheitsbezug und Indikationsstellung, als Medizin für Gesunde, mit der sich sehr viel Geld verdienen läßt. Das wirft zugleich vielfältige ethische Fragestellungen auf, u.a. welche medizinischen Ressourcen hier gebunden werden, welches Menschenbild gefördert wird, wie sich der Gesundheitsbegriff verändert oder wer an dieser "wunscherfüllenden Medizin" (Untertitel) partizipieren darf und was das für die Ausgeschlossenen bedeutet ... Der hier anzuzeigende Band geht diesen medizin-ethischen, anthropologischen und philosophischen Problembereichen nach: Ärztliche Hilfe jenseits der Therapie kann zu erheblichen ethischen Problemen führen.

Dieter Bach, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Schlagworte:
Medizinethik, Enhancement, Wunschmedizin, Philosophische Anthropologie, Wunsch, Bedürfnis, Schönheitschirurgie, Medizin, Ethik, Medizinsoziologie, Philosophie
Adressaten:
Medizinethik, Philosophie, Medizin, Ethik, Soziologie sowie die interessierte Öffentlichkeit

Editorial zur Reihe:
Die jüngste (Wieder-)Entdeckung des Körperbegriffs in den Sozial- und Kulturwissenschaften »verkörpert« paradigmatisch ein neuartiges materialistisches Verständnisses von Gesellschaft und Kultur, das von einer Inkorporierung symbolischer Ordnungen ausgeht. Die Reihe KörperKulturen stellt diesen innovativen Diskursen um den Körperbegriff ein eigenes editorisches Profil zur Verfügung, das die interdisziplinäre Vielfalt körpertheoretisch inspirierter Perspektiven zeigt.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung | 7

1. Medizin für Gesunde | 7
2. Wünsche in der Medizin | 13
3. Aufbau und Vorgehen der Untersuchung | 16

ERSTER TEIL: WUNSCH UND BEDÜRFNIS | 23

A. Handlungen als Veränderungen der Wirklichkeit | 25

1. Ein Handlungsmodell | 26
2. Bedürfnis und Wunsch in der Handlungsgenese | 30

B. Wunsch und Wünschen | 35

1. Wunschtypen | 37
2. Ist Wunscherfüllung immer wünschenswert? | 54
3. Zur motivationalen Funktion | 58
4. Reflexion und Identitätsbildung | 63

C. Zum Bedürfnis | 67

1. Handlungstheoretische Implikationen | 67
2. Differenzierungskriterien | 73
3. Philosophische Anthropologie des Bedürfnisses | 84

D. Fazit | 136

ZWEITER TEIL: AUSWEITUNG DER MEDIZIN | 141

A. Zur Struktur ärztlichen Handelns | 143

1. Indikation und Patientenwille | 145
2. Das therapeutische Paradigma | 155
3. Integrität und Vertrauen | 158

B. Die Aufwertung von Gesundheit | 162

1. Wandel des Gesundheitsverständnisses in der Medizin | 162
2. Grenzen des Gesundheitsbegriffs | 176

C. Zwischenfazit | 186

D. Optionen einer Ausweitung der Medizin | 187

1. Pathologisierung: Neue Krankheiten | 189
2. Medikalisierung: Neue Ziele | 197

E. Ausweitung der Medizin als Wunscherfüllung | 212

1. Formen wunscherfüllender Medizin | 212
2. Der Patient als Klient, der Arzt als Dienstleister | 216
3. Medikalisierung und die Orientierung an GESUNDHEIT | 219
F. Fazit | 224

DRITTER TEIL: ANTI-AGING-MEDIZIN | 229

A. Praxis und Leitmotive | 232

1. Mittel und Methoden | 232
2. Paradigmen eines Transformationsprozesses | 235

B. Anti-Aging als Entgrenzung der Medizin | 243

1. Abgrenzungskonflikte | 244
2. Kampf um Deutungshoheit | 250
3. An den Grenzen der Medizin | 252

C. Schrittmacher fraglicher Tendenzen und Werte | 259

1. Allokations- und Gerechtigkeitsprobleme | 260
2. Das Altersbild der Anti-Aging-Medizin | 261
3. Das Leben und sein Wert | 263
4. Abschaffung des Menschen | 264

D. Fazit | 266

Schlussbemerkungen | 269

Literatur | 273

Personenregister | 299

Danksagung | 305



EINLEITUNG
Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich mit der Frage, wie eine Ausweitung
der Medizin in medizinethischer Hinsicht beurteilt werden kann. Zunächst
steht hierfür eine Erörterung des Begriffspaars Wunsch/Bedürfnis aus handlungstheoretischer
und philosophisch-anthropologischer Perspektive im Mittelpunkt
der Arbeit sowie die Frage, inwieweit diese Analyse für die Beurteilung
der Eingangsfrage fruchtbar gemacht werden kann. Anschließend wird die medizintheoretische
Frage aufgeworfen, wie eine Ausweitung des ärztlichen Handlungsfeldes
begründet werden und zu welchen Problemen eine Expansion der
Medizin als Wunscherfüllung führen kann. Diese allgemeine medizinethische
Thematik wird abschließend am Beispiel der Anti-Aging-Medizin dargestellt.
1. Medizin für Gesunde: Aktueller Hintergrund
Einer der großen Wünsche, von deren Erfüllung die Menschheit seit tausenden
von Jahren träumt, ist der Wunsch nach ewiger Jugend und anhaltender Vitalität.
Das unweigerliche Altern mit seinen negativen Begleiterscheinungen und Abbauprozessen,
die weder Körper noch Geist verschonen und im Laufe des Lebens
ihre Spuren hinterlassen, sind dem Menschen dagegen schon immer
beschwerliche Last und Anlaß für Klagen, gegen die die längste Zeit jedoch wenig
bis nichts auszurichten war. Jüngere Entwicklungen in der Biogerontologie
und Biomedizin deuten darauf hin, dass sich dies allmählich zu ändern beginnt
und die Unverfügbarkeit sowohl degenerativer Alterungsprozesses als auch einer
limitierten Lebensspanne in nicht allzu ferner Zukunft der Vergangenheit angehören
könnte. Im Namen der so genannten Anti-Aging-Medizin nähren Biowissenschaftler
und Mediziner die Hoffnung, „das Altern nicht länger fürchten zu
müssen“1, da mittlerweile „konkret[e], praktisch[e] Möglichkeiten, Altern zu
1 Huber/Buchacher (2007), S. 11.
8 | JENSEITS DER THERAPIE
verhindern“2 zur Verfügung stünden. Anti-Aging-Mediziner erklären damit die
Bekämpfung des Alterns zu einer legitimen Form ärztlicher Zuständigkeit.
Aber nicht nur das Älterwerden des Menschen mit seinen natürlichen Begleiterscheinungen
gerät mehr und mehr in den Handlungsbereich und zur Sache
der Medizin. Zahlreiche Aspekte des gesamten Lebens und der Lebensführung
werden heute mit medizinischen Mitteln und Leistungen gestaltet und verbessert,
ohne mit einer Krankheit in Verbindung stehen zu müssen. So ist es mittlerweile
gang und gäbe, nichtmedizinische Probleme mit ärztlicher Hilfe zu lösen. Gesunde
Menschen, die ihre körperlichen oder geistigen Eigenschaften und Fähigkeiten
steigern und optimieren wollen, finden dafür im Leistungsspektrum der
Medizin geeignete Maßnahmen sowie bereitwillige Ärzte3, die solchermaßen
neuartige Behandlungen wunschgemäß in die Tat umsetzen.
Schon innerhalb des traditionell definierten Zuständigkeitsbereichs der Medizin,
der die Bekämpfung und Heilung von Krankheiten, die Leidenslinderung
und den Erhalt der Gesundheit umfasst, wachsen die technisch-medizinischen
Möglichkeiten der Behandlung des erkrankten und verletzten menschlichen
Körpers beträchtlich, was nicht nur zu einer enormen Verbesserung bestehender
therapeutischer Ansätze, sondern auch zu ganz neuen Therapieoptionen führt –
Optionen, die bislang nur zu wünschen waren. Doch gerade auch außerhalb therapeutischer
Zusammenhänge werden medizinische Maßnahmen immer öfter als
geeignete Mittel angesehen, um sich Wünsche zu erfüllen, die ohne ärztliche
Hilfe so nicht realisierbar sind. Der Einsatz von Medizin für Zwecke, die nicht
zu den herkömmlichen Zielen der Medizin zählen, wird dabei nicht nur von Interessierten
gesucht und angefordert, entsprechende Leistungen werden auch von
Ärzten zur nichttherapeutischen Anwendung angeboten und umgesetzt.4 Und das
beileibe nicht nur, um das Altern mit seinen Begleiterscheinungen zu bekämpfen.
Wer mit seinem äußeren Erscheinungsbild nicht zufrieden ist, kann seine Gestalt
durch operative Eingriffe wunschgemäß formen lassen, sich die Haut straffen,
überschüssige Körperpartien entfernen und fehlende ergänzen lassen. Wer
gerne leistungsfähiger wäre, kann seine motorischen und kognitiven Fähigkeiten
mit Hilfe von Medikamenten und Implantaten erheblich steigern. Wer sich emo-
2 Schmitt/Homm (2008), S. 13.
3 Im Folgenden wird ausschließlich der leichteren Lesbarkeit halber durchweg die
männliche Form verwendet, ohne damit eine entsprechende inhaltliche Bedeutung –
und Beschränkung – zu implizieren. Ärztinnen, Patientinnen etc. sind selbstverständlich
immer mitgemeint.
4 Vgl. Maio (2007c).
EINLEITUNG | 9
tional nicht mehr von äußeren Einflüssen und unberechenbaren Launen bestimmen
lassen möchte, kann seine Stimmung mit pharmakologischen Mitteln oder
gar neurostimulierenden Interventionen auf Knopfdruck heben. Wessen Kinder
sich nicht planmäßig und kontrolliert verhalten, kann den zappeligen Nachwuchs
mit Tabletten ruhig stellen. Wer willens, aber nicht fähig ist, sich auf natürlichem
Wege fortzupflanzen (weil der Partner unfruchtbar ist oder dem selben
Geschlecht angehört; weil es gar keinen Partner gibt), kann mit Hilfe der Reproduktionsmedizin
eigene Kinder bekommen, während Menschen, die fähig, aber
nicht willens sind, sich fortzupflanzen, unerwünschten Nachwuchs mit ärztlicher
Unterstützung verhindern können. Wer ungewollt schwanger geworden ist, kann
die Schwangerschaft von einem Arzt abbrechen lassen. Wer – gewollt schwanger
– die Geburt wunschgemäß terminieren oder den Strapazen einer natürlichen
Geburt aus dem Weg gehen will, kann sein Kind mittels einer Wunschoperation
zur Welt bringen. Wer sicherstellen will, dass das eigene Kind nicht behindert
sein wird oder wer sich ein Kind mit einem bestimmten Geschlecht wünscht,
kann sich diese Wünsche dank modernster Medizin erfüllen. Wer unter dem Geschlecht,
mit dem er geboren worden und aufgewachsen ist, übermäßig leidet,
kann dieses auf medizinischem Wege wechseln. Und wer schließlich im Sterben
liegt, kann sich zur völligen Bewusstlosigkeit sedieren lassen, um das Leiden des
allerletzten Lebensabschnitts zu umgehen – von der Möglichkeit, mit Hilfe medizinischer
Unterstützung auf Verlangen aus dem Leben zu scheiden, ganz zu
schweigen.
Diese zahlreichen Beispiele veranschaulichen, wie die Medizin und ihre
Möglichkeiten heute bereits wahrgenommen, nachgefragt und genutzt werden
als durch Wissenschaft und technologischen Fortschritt zur Verfügung gestellte
Mittel, die in instrumenteller Weise eingesetzt werden können, um einerseits altbekannte
Ziele schneller und effektiver sowie andererseits ganz neue Ziele, die
bislang nur teilweise oder gar nicht realisiert werden konnten, zu erreichen. Die
Einstellung zu Ziel und Zweck ärztlichen Handelns wandelt sich jedoch nicht
nur auf Seiten der Adressaten und Nutznießer derartiger Maßnahmen. Auch Mediziner
selbst bieten ihr Wissen und Können zur Erfüllung von Wünschen an, die
nichts mit den klassisch-therapeutisch ausgerichteten Zielen der Medizin zu tun
haben und stellen ihre Kompetenz in den Dienst von Selbstgestaltung und Verbesserung
gesunder und normaler Menschen, die ihre körperlich-geistige Verfassung
ihren persönlichen Wünschen gemäß verändern möchten. So zeichnet sich
gegenwärtig eine deutliche Ausweitung des Einfluss- und Zuständigkeitsbe10
| JENSEITS DER THERAPIE
reichs der Medizin sowie des ärztlichen Handlungsfeldes ab, die durchaus als
Entgrenzung bezeichnet werden kann.5
In dieser Expansionstendenz manifestiert sich nicht weniger als ein grundlegender
Wandel und Transformationsprozess der Medizin als Ganzer. Bestimmung
und Grenzen ärztlichen Handelns scheinen nicht mehr länger an die Zielsetzungen
kurativer, rehabilitativer und palliativer Praxis gebunden, sondern
verschieben sich mehr und mehr zu einem Verständnis von Medizin als einer
Dienstleistung, die auf Wunsch angefordert und erbracht werden kann. Es liegt
auf der Hand, dass gerade die Öffnung und Ausweitung der Medizin zu einem
umfassenden und dabei passgenauen Angebot für jeden, ob krank oder gesund,
direkt mit gesellschaftlichen Faktoren zusammenhängt und auf diese zurückwirkt.
Ohnehin kann die Medizin in ihrer Bestimmung und Entwicklung nicht
isoliert von ihrer kulturell-sozialen Einbettung erörtert werden. So sind auch die
Lebensverhältnisse in den westlichen, pluralistischen Gesellschaften der Spätmoderne
geprägt von tiefgreifenden Veränderungen, die sämtliche Lebensbereiche
der Menschen durchziehen. In alltäglichen Lebens- und Arbeitsverhältnissen,
im sozialen Nahbereich und Kommunikationsverhalten, in der Freizeitgestaltung
und im Berufsleben spielen Eigenschaften wie Mobilität, Flexibilität
und Originalität im Zeichen der epochalen Leitwerte von Individualität, Autonomie
und Selbstverwirklichung sowie angesichts einer alle Lebenslagen betreffenden
‚Multioptionalität‘ eine immer wichtigere Rolle.6 Die Medizin, ihre gesellschaftliche
Position und Funktion sowie die Einstellung, mit der ihr begegnet
und in der sie praktiziert wird, sind mit dieser soziokulturell bestimmenden Entwicklung
und gesellschaftlichen Prägung in einem Verhältnis gegenseitiger
Wechselwirkung untrennbar verknüpft.
Allerdings stellt die Medizin einen Bereich von besonderer gesellschaftlicher
Relevanz dar, der nicht nur eine privilegierte Stellung und hohes Ansehen genießt,
sondern auch in spezifischer Weise reguliert, normiert und in seiner Handlungsstruktur
und Zielbestimmung wesentlich an ethischen Prinzipien orientiert
ist. Deshalb kann eine vielfältig ansetzende und weitreichende Erweiterung des
medizinischen Tätigkeitfeldes, wie sie als Reaktion auf nichtmedizinische Ansprüche
und Wünsche zu beobachten ist, nicht erfolgen, ohne die Grundfrage
nach der Legitimation ärztlichen Handelns aufzuwerfen und bereits gegebene
Antworten angesichts der aktuellen Herausforderungen erneut zu überprüfen.
Die moralische Bestimmung und Ausrichtung der Medizin ist verankert in
einer auf eine lange Tradition zurückgehenden Zielformulierung, die primär und
5 Vgl. Viehöver/Wehling (2010a).
6 Vgl. Gross (1994).
EINLEITUNG | 11
zentral auf die Behandlung von Krankheiten bezogen ist (wenngleich sie sich
nicht in kurativer Therapie allein erschöpft). Die erwünschten und zum Teil bereits
praktizierten Anwendungen, in denen sich Ausweitungstendenzen manifestieren,
stimmen in der überwiegenden Mehrzahl nur indirekt oder in einem sehr
geringen Maße mit den klassischen Zielen der Medizin überein, bei vielen ist
selbst ein schwacher Bezug fraglich, und einige lassen sich überhaupt nicht mehr
mit einer auf Krankheit bezogenen Behandlungsintention in Verbindung bringen.
Nicht zuletzt wegen der mangelnden Rückbindung an das traditionelle und
etablierte Selbstverständnis und Ethos der Medizin zieht die Tendenz zur Expansion
des ärztlichen Handlungsbereiches vielfältige Kritik auf sich.7 Dabei zeigt
sich jedoch, dass Versuche, gegen eine Ausweitung der Medizin allein mit Verweis
auf die hippokratische Tradition und bisherige Bestimmung ärztlichen Handelns
zu argumentieren, erheblichen begründungstheoretischen Schwierigkeiten
ausgesetzt sind. So wird mittlerweile vermehrt angezweifelt, ob das für das klassische
Verständnis zentrale Konzept des Krankheitsbegriffs als Bezugspunkt für
die Definition heutiger Medizin noch geeignet und als Grundlage einer normativen
Abgrenzung zwischen Therapie und Enhancement haltbar ist.8 Gerade für
Grenz- und Graubereiche zwischen medizinischen und nichtmedizinischen Anwendungsfeldern,
die die Ausweitungstendenz in charakteristischer Weise hervorbringt,
gilt vielen die Differenzierung zwischen gesund und krank bzw.
zwischen (Heil-)Behandlung und Verbesserung zu uneindeutig, um die nötige
normativ belastbare Klärung bringen und für die Legitimierung und Limitierung
ärztlichen Handelns dienen zu können.9 Einige Autoren plädieren angesichts der
Probleme und Unschärfen, die diese Unterscheidungen aufweisen, dafür, den
Krankheits- und Therapiebegriff als normative Konzepte für die Medizin ganz
fallen zu lassen.10 Außerdem existieren bereits Bereiche innerhalb des medizinischen
Feldes, in denen eine Orientierung am Krankheitsbegriff bzw. die auf
Krankheit ausgerichtete Zielbestimmung entweder nie existiert haben oder ganz
aufgegeben und durch andere, außermedizinische Kriterien ersetzt worden sind,
7 Vgl. Kass (1985); PCBE (2003b); Maio (2006); Pöltner (2007); Eibach (2008); Schockenhoff
(2008); Unschuld (2009); Asmuth (2011); Lanzerath (2011).
8 Vgl. Juengst (1998); Daniels (2000); Lenk (2004); Synofzik (2006); Biller-Andorno
(2008); Düwell (2009); Quante (2009); Talbot (2009); Heilinger (2010).
9 So etwa jüngst Willy Viehöver und Peter Wehling, die befinden, „dass die Unterscheidung
von Therapie und Enhancement kaum geeignet erscheint, klare medizinische
und ethische Orientierungen zu bieten, geschweige denn konsensfähige Grenzen legitimen
medizinischen Handelns zu benennen“. Viehöver/Wehling (2010b), S. 15.
10 Vgl. Wiesing (1998); Synofzik (2006); Ach/Lüttenberg (2010).
12 | JENSEITS DER THERAPIE
um das ärztliche Handeln zu rechtfertigen – so wie in Teilen der Geburts- und
Fortpflanzungsmedizin, der Rechtsmedizin und der Sportmedizin. Wenn insofern
der Krankheitsbegriff und damit die Unterscheidung zwischen Therapie und
Enhancement ihre Überzeugungskraft als belastbare Kriterien für die Abgrenzung
nichtmedizinischer Ziele von medizinischen Zielen verlieren, scheint es für
eine einheitliche und normierende Bestimmung legitimer Ziele der Medizin
kaum mehr plausible und tragfähige Möglichkeiten zu geben.
Damit wäre ganz im Sinne einer konsequenten Stärkung der freien Mit- und
Selbstbestimmung des Patienten, des obersten und weithin verbindlichen Grundwertes
medizinischen Handelns und medizinethischer Prinzipien, für die Rechtfertigung
neuartiger ärztlicher Eingriffe die Achtung des autonomen Willens
bzw. des informiert vorgebrachten Wunsches des Patienten bzw. Klienten als
maßgeblicher Bezugspunkt anzusehen. Entsprechend würde ärztliches Handeln
zu einer optionalen Dienstleistung auf Wunsch und Medizin zu einem freien Angebot
zur Selbstgestaltung transformiert werden können.
Für diese Idee einer individualisierten Wunschmedizin für Selbstzahler hat in
den letzten Jahren die von Matthias Kettner geprägte Formel der „wunscherfüllenden
Medizin“ im deutschen Sprachraum für Aufmerksamkeit gesorgt.11 Kettner
sieht in dem Phänomen einen langfristigen Trend, der auf einen tiefgreifenden
„Gestaltwandel der Medizin“12 hinausläuft. In Kontrast zur kurativen
Medizin stellt er als Hauptmerkmal wunscherfüllender Medizin vor allem eine
stark gesundheitsorientierte Einstellung und Herangehensweise heraus, die medizinisches
Wissen und Können primär als „Assistenz zum besseren Leben“13 in
Anspruch nimmt. Auch wenn verschieden gelagerte Kritik an Kettners Begrifflichkeit
und an seiner Charakterisierung der neuen Medizinrichtung vorgebracht
wurde, so stimmen doch mehrere Autoren, die sich in der Folge mit dem Konzept
auseinandergesetzt haben, mit Kettner darin überein, dass im Zuge des beschriebenen
Gestaltwandels die Wünsche der Nutzer medizinischer Leistungen
11 Zuerst in Kettner (2005), vgl. auch Kettner (2006b) sowie Kettner (2009). Unter der
Federführung Kettners stand auch 2006 die Jahrestagung der Akademie für Ethik in
der Medizin unter dem gleichlautenden Thema. Kettner versteht seine Begriffsprägung
als „philosophisch konstruiertes Beobachtungsinstrument“. Kettner (2006b), S.
85.
12 Ebd., S. 82.
13 Kettner (2006a).
EINLEITUNG | 13
zur ausschlaggebenden Bezugsgröße für Behandlungsentscheidungen werden.14
Demnach nimmt wunscherfüllende Medizin exakt die Folgerungen auf, die sich
aus der Erschütterung und Erosion traditioneller Leitwerte und einer normativ
verbindlichen Zielbestimmung für ärztliches Handeln ergeben und betont nicht
zuletzt durch die prägnante Titelgebung die maßgebliche legitimatorische Funktion
des Wunsches.
2. Wünsche in der Medizin: Theoretische Relevanz
Angesichts der zentralen Stellung, die dem Patienten- bzw. Klientenwunsch für
ärztliches Handeln damit zugesprochen wird, ist eine erstaunliche Lücke in der
medizinethischen und philosophischen Literatur zu dem Thema festzustellen. So
existiert keine zeitgenössische Wunschtheorie, die ein anschlussfähiges Konzept
für die in der künftigen Entwicklung der Medizin – eben hin zu einer wunscherfüllenden
Medizin – bedeutende Legitimationsgröße des Wunsches enthält. Theoretisch-
philosophische Auseinandersetzungen mit dem Wunschbegriff jüngeren
Datums sind einzig in der analytischen Handlungstheorie zu finden, deren Vertreter
allerdings durchweg einen – ihrem Anliegen entsprechend – sehr reduzierten
Wunschbegriff zugrunde legen, der wesentlich auf handlungsrelevante Bezüge
fokussiert ist.15 Einige Autoren verknüpfen im Kontext ihrer Entwürfe zu
Theorien praktischer Rationalität die Funktion und Bedeutung von Wünschen so
eng mit begrifflich-logischen Bedingungen vernünftigen Handelns, dass damit
zwar ein funktionalistisches Moment in der Mechanik eines utilitaristischen
Handlungskalküls präzise erfasst wird, welches für ein philosophisch-anthropologisches
Interesse an der Übertragung theoretischer Wunschkonzepte in Bereiche
der angewandten Ethik allerdings zu kurz greift und insgesamt etwas blutleer
daherkommt.16
Die vorliegende Untersuchung beansprucht, mit einer breiter ansetzenden
Analyse von Struktur und Bedeutung des Wunsches und des Wünschens auf diese
Situation zu reagieren und versucht, die entsprechende Lücke zwischen philosophisch-
anthropologischen und medizinethischen Ansätzen zu schließen. Dieses
Vorhaben erscheint in dem behandelten Zusammenhang aus mindestens zwei
14 Exemplarisch dafür kommt Matthis Synofzik zu dem Schluss, dass „die subjektiven
Präferenzen und Wünsche eine zentrale Entscheidungsrelevanz für die Durchführung
einer medizinischen Maßnahme“ erhalten. Synofzik (2009), S. 175.
15 Vgl. ...