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Sportsoziologische Aufklärung Studien zum Sport der modernen Gesellschaft
Sportsoziologische Aufklärung
Studien zum Sport der modernen Gesellschaft




Karl-Heinrich Bette

Transcript
EAN: 9783837617252 (ISBN: 3-8376-1725-4)
260 Seiten, paperback, 15 x 22cm, 2011

EUR 28,80
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
Wer die moderne Gesellschaft komplexitätsangemessen auf den Begriff bringen möchte, darf über den Sport nicht schweigen! Karl-Heinrich Bette setzt diese Forderung konsequent und innovativ in die Tat um und analysiert ausgewählte Phänomene wie die Begeisterung des Sportpublikums, das Sportheldentum, den Abenteuer- und Risikosport sowie das Doping im Spitzensport vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse.

Außerdem wird mit der Sportsoziologie jene Disziplin vorgestellt und durchleuchtet, die in der modernen Gesellschaft für eine amoralische, fremde und inkongruente Beobachtung des Sports ausdifferenziert wurde.
Rezension
Moderne Gesellschaften sind ohne Sport nicht vorstellbar und Sport ist ohne moderne Gesellschaften nicht vorstellbar. Wie modern ist der Sport und wie sportlich ist die moderne Gesellschaft? Dieser Band aus der Reihe "KörperKulturen" zeigt die vielfältigen Facetten des modernen Sports und seiner prägenden Kraft für unsere Gesellschaft: Sportbegeisterung, Sporthelden, Extrem- und Risikosport, Doping etc. Sport wird in diesem Buch vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse und deren Wirkungen diskutiert, - das geschieht selten genug und ist insofern ebenso notwendig wie innovativ. Eine These des Autors lautet: Der Sport konnte durch die Ausdifferenzierung eigener Regeln und Organisationen sowie die Internationalisierung und mediale Verbreitung seiner Sinnbezüge zum ersten Teilsystem der Weltgesellschaft reüssieren.

Dieter Bach, lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Karl-Heinrich Bette ist Professor für Sportwissenschaft an der Technischen Universität Darmstadt. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Sportsoziologie, der Soziologie des Körpers sowie der neueren soziologischen Systemtheorie.

Schlagworte:
Sportsoziologie, Sportpublikum, Sporthelden, Abenteuer- und Risikosport, Doping
Adressaten:
Soziologie, Sportwissenschaft und die an gesellschaftstheoretischen Perspektiven auf den Sport interessierte Öffentlichkeit

Interview
... mit Prof. Karl-Heinrich Bette
1. »Bücher, die die Welt nicht braucht.« Warum trifft das auf Ihr Buch nicht zu?
Wer meint, über den Sport bereits alles zu wissen, sollte das Buch nicht lesen. Er ginge das Risiko ein, durch die Lektüre eines Besseren belehrt zu werden.
2. Welche neuen Perspektiven eröffnet Ihr Buch?
Durch die strikt gesellschaftstheoretische Ausrichtung der einzelnen Analysen wird ein Manko behoben, das die Sporttheorie seit Jahrzehnten blockiert hat.
3. Welche Bedeutung kommt dem Thema in den aktuellen Forschungsdebatten zu?
Zunächst keine, da die meisten Debatten darauf verzichten, den Sport vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse und deren Wirkungen zu diskutieren.
4. Mit wem würden Sie Ihr Buch am liebsten diskutieren?
Niklas Luhmann, aber der ist leider schon tot!
5. Ihr Buch in einem Satz:
Meine Empfehlung: Lesen Sie das Buch und lassen Sie sich irritieren!

Editorial zur Reihe:
Die jüngste (Wieder-)Entdeckung des Körperbegriffs in den Sozial- und Kulturwissenschaften »verkörpert« paradigmatisch ein neuartiges materialistisches Verständnisses von Gesellschaft und Kultur, das von einer Inkorporierung symbolischer Ordnungen ausgeht. Die Reihe KörperKulturen stellt diesen innovativen Diskursen um den Körperbegriff ein eigenes editorisches Profil zur Verfügung, das die interdisziplinäre Vielfalt körpertheoretisch inspirierter Perspektiven zeigt.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort 7

1 Sportbegeisterung und Gesellschaft 15

2 Sporthelden: Zur Soziologie sozialer Prominenz 47

3 X-treme: Sinnmotive im Abenteuer- und Risikosport 71

4 Risikokörper und Abenteuersport 87

5 Kollektive Personalisierung im Dopingdiskurs 111

6 Biografische Risiken und Doping 131

7 Doping als transintentionales Konstellationsprodukt 143

8 Sportsoziologie 181

Siglen 237
Abbildungen 239
Textnachweise 241
Literatur 243



Vorwort
Der vorliegende Band versammelt ausgewählte Studien zum Sport der modernen
Gesellschaft. Damit wird ein Sozialbereich erkundet, der mit seinen Erlebnisofferten
und Handlungsmodellen seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine stetig
wachsende Nachfrage zu verzeichnen hat. Einige markante Phänomene, die im
Gefolge der Verselbständigung des Sports und seiner gesellschaftlichen Inanspruchnahme
entstanden sind, sollen im Folgenden mit den inkongruenten,
amoralischen und fremden Blicken der Soziologie beobachtet und beschrieben
werden. Am Anfang des analytischen Reigens steht die Beantwortung der auf
den ersten Blick banal erscheinenden Frage, warum sich weltweit Millionen
Menschen regelmäßig als Zuschauer, Leser und Hörer für den Spitzensport begeistern.
Um die Untersuchung nicht vorzeitig durch alltagstheoretische Vermutungen,
psychologisierende Deutungen oder anthropologische Wesensannahmen
zu blockieren, ist der Befassungshorizont in typisch soziologischer
Manier erweitert und durch eine Stellgröße ergänzt worden, die das Leben der
Menschen in somatischer, psychischer und sozialer Hinsicht nachhaltig beeinflusst
und in besonderer Weise für die Erzeugung und Befriedigung von Bedürfnissen
zuständig ist: die moderne Gesellschaft mit ihrer funktionsorientierten
Differenzierungsmatrix und ihrer zentrifugalen Dynamik. Wichtige und bislang
unbemerkte Zusammenhänge lassen sich hierdurch zum Vorschein bringen
und für die modelltheoretische Durchleuchtung des Sportpublikums und
der Zuschauermotive nutzen: Der Sport konnte durch die Ausdifferenzierung
eigener Regeln und Organisationen sowie die Internationalisierung und mediale
Verbreitung seiner Sinnbezüge zum ersten Teilsystem der Weltgesellschaft reüssieren.
Als bedeutsam hat sich in diesem Zusammenhang der Umstand erwiesen,
dass der Sport vornehmlich ein sprachunabhängig wahrnehmbares Körper-
und Bewegungshandeln prozessiert und gesellschaftlich Exkludiertes und
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Marginalisiertes in einer modernen Weise einzubeziehen versteht, ohne dabei
auf eine krude Kompensation vernachlässigter oder verlorengegangener Bedürfnisse
und Motivlagen setzen zu müssen. Er ist in dieser Hinsicht ein »Parasit
«, der gleichzeitig sowohl von den Errungenschaften als auch von den Folgeproblemen
profitiert, die sich im personalen Erleben und Handeln nach dem
Wechsel der Gesellschaft von Stratifikation auf funktionale Differenzierung ergeben
haben. Diese doppelte Fundierung in den Ambivalenzen der Moderne
erklärt die Stabilität, die der Sport nach seiner Loslösung aus der diffusen Verschränkung
mit anderen Sozialsystemen – vornehmlich Religion, Erziehung,
Medizin, Politik und Militär – als soziokulturelles Phänomen erreichen konnte.
Unter Rückgriff auf vormoderne Körper-, Spiel- und Bewegungspraktiken hat
er eigene Selbstbezüglichkeiten ausgeprägt und sich als ein Sozialsystem etabliert,
das eine große Anzahl der Gesellschaftsmitglieder sowohl aktiv in Bewegung
setzt als auch passiv unterhält und fasziniert.
Die Mehrfachteilhabe des Sports an den sozietalen Umbauprozessen und deren
Wirkungen zeigt sich in der Analyse der Sportbegeisterung in besonderer
Weise: So ist die Inklusion in die Publikumsrollen des Sports erst auf der
Grundlage moderner Kommunikations- und Transporttechniken möglich geworden.
Menschen können in ihrer Freizeit unabhängig von Herkunft und Rang
hochverdichtet an wenigen Orten zusammenkommen, auf Massenbasis an
Wettkämpfen teilhaben und mit Hilfe der Medien über Sportereignisse informiert
werden, die jenseits des Horizontes stattfinden. Das spitzensportliche
Handeln, dass die Zuschauer hierbei zu sehen und zu hören bekommen, ist in
seinen charakteristischen Merkmalen hochgradig modern. Siegescode, Leistungskonkurrenz,
spezialisierte und verberuflichte Athleten- und Trainerrolle,
Organisationsbildung, Ökonomisierung, Verrechtlichung und Verwissenschaftlichung
sind nur einige der diesbezüglich unzweideutigen Merkmale. Der gesellschaftliche
Modernisierungsprozess schuf aber auch erst, und dies ist die
andere Seite der Medaille, den Bedarf, sich jenseits von Alltag und Routine,
von Körperdistanzierung, Affektdämpfung, Gemeinschaftsverlust und biografischer
Diskontinuität als Zuschauer durch den Sport unterhalten und zerstreuen
zu lassen. Aus der weltweit gestiegenen Nachfrage nach spannenden, affektiv
aufgeladenen, heldenerzeugenden und gemeinschaftsstiftenden Sportleistungen
durch das Publikum lässt sich in einem instruktiven Umkehrschluss ableiten,
wie weit die Durchrationalisierung des modernen Lebens fortgeschritten ist und
wie sehr die humanen Kollateralwirkungen des gesellschaftlichen Wandels bereits
im Alltag virulent geworden sind. Der Spitzensport gibt seinem Publikum
demgegenüber das Versprechen, dass alternative Erlebnismöglichkeiten abseits
der üblichen Routine und organisatorischen Zurichtung von Person, Körper und
Gemeinschaft noch existieren und nicht im Mahlwerk funktionaler Differenzierungsprozesse
zerrieben worden sind. Die Zuschauer schätzen am LeistungsVORWORT
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sport, dass er nicht so ist, wie der Rest der Gesellschaft. Sie goutieren die Differenz
zwischen Wettkampf und Alltag. Da soziale Enklaven, die gegen das
alltägliche Einerlei gerichtet sind, in Gefahr stehen, durch Routinisierung unterlaufen
und ihrer schöpferischen Kraft beraubt zu werden, drohen Paradoxien,
die es organisatorisch zu bewältigen gilt. Die Trennung von Vorderbühne und
Hinterbühne und die permanente Generierung von Spannung und Zerstreuung
durch ergebnisoffene Wettkampfserien und eine auf kommunikative Begleitung,
Kommentierung und Begeisterungssteigerung spezialisierte Medienindustrie
helfen dabei, entparadoxierende und langeweileverhindernde Wirkungen
beim Publikum zu erzielen.
Der zweite Themenschwerpunkt hinterfragt die Helden des Sports und ergänzt
das bereits in der Analyse der Sportbegeisterung als Motivbaustein bedeutsam
gewordene Thema der Heldenverehrung durch wichtige Einsichten.
Wenn die in Publikumsrollen inkludierten Zuschauer spätestens in Momenten
nationaler Euphorie, etwa nach gewonnenen olympischen Medaillen oder Weltmeisterschaften
heimischer Athleten, von affektiver Kontrolle auf lautstarke
Devotion umschalten und ihre Helden in einem Freudentaumel auf öffentlichen
Straßen und Plätzen feiern, ist abzuklären, was hinter diesen kollektiven Huldigungsritualen
und Achtungserweisen steckt. Welche Leistungen werden hier
eigentlich belohnt? Offensichtlich sind es nicht nur die aus der Ferne heimgebrachten
»Beutestücke«, Trophäen, die bewundert werden. Es geht vielmehr
um Ehre, Identität und die Teilhabe der Zuschauer an imaginierten Gemeinschaften,
um einen identifikatorischen Schulterschluss zwischen Akteuren und
Beobachtern. Vor allem: Was lässt sich über die Gesellschaft lernen, in der das
kollektive Bejubeln von Sporthelden wahrscheinlich geworden ist? Und warum
sind es gerade Athleten und Athletinnen, und nicht etwa Wirtschaftsführer, Politiker,
Priester, Wissenschaftler, Soldaten oder als Nothelfer bekanntgewordene
Alltagsakteure, die in der öffentlichen Heldenrhetorik eine dauerhafte Monopolstellung
einnehmen und den Status parasozialer Figuren erwerben konnten?
Um all diese Fragen komplexitätsangemessen zu beantworten, sollen zunächst
die Rahmenbedingungen und Präsentationsformen unter die Lupe genommen
werden, die entscheidend dazu beigetragen haben, dass der Spitzensport
zum zentralen Heldensystem der modernen Gesellschaft avancieren konnte.
Da Personen und Personengruppen mit ihren Leistungen letztlich erst durch
Beobachtung sowie durch Begleit- und Folgekommunikation und das Vorhandensein
von Vergleichsstandards zu Helden deklariert werden können, und die
hymnische Fremdpreisung insofern zum Heldengeschäft gehört, ist es in einem
Folgeschritt unverzichtbar, die narrativen Verlaufsfiguren von Sportheldengeschichten
nachzuzeichnen und die verschiedenen Heldentypen zu benennen, die
der Spitzensport als schnell erkennbare »Charaktermasken« in seinen Wettkampfepisoden
ausprägt und als Personenthemen in das gesellschaftliche Kom10
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munikationspanorama einschleust. In funktional differenzierten Gesellschaften
ist der auf Konkurrenz, Erfolg und Leistungssteigerung ausgerichtete Spitzensport
offensichtlich der einzige Sozialbereich, der real existierende Helden
noch in einer ungefährlichen und sozial weithin akzeptierten Weise zu produzieren
vermag. Eben weil er im Ensemble der verschiedenen gesellschaftlichen
Funktionsfelder eine entbehrliche Größe darstellt und ihm keine Bedeutung für
die basale Reproduktion der Gesellschaft zukommt, sind seine Hauptakteure
für konsens- und identitätsstiftende Heldenattributionen freigesetzt. Sporthelden
irritieren und polarisieren ihre Zuschauer nicht durch ein geld-, macht-,
wahrheits- oder glaubensorientiertes Handeln; sie erzeugen vielmehr Bewunderung
und Faszination durch hochstehende physische, psychische und technischtaktische
Kompetenzen.
Nach diesem Ausflug in die Welt der exemplarischen Sozialfiguren und der
kollektiven Heldenadoration durchleuchtet der dritte Themenschwerpunkt die
Sinnmotive, mit denen Menschen dazu gebracht werden, ihr Leben und ihre
Gesundheit im Rahmen riskanter Praktiken aufs Spiel zu setzen. Die Grenzgänger
und Abenteuervirtuosen, die als Extrembergsteiger, Big-wave-Surfer, Ultramarathonläufer,
Apnoetaucher, Freerider oder Basejumper bewusst die Konfrontation
mit naturalen Dynamiken und Gesetzmäßigkeiten suchen, um sich zu
erproben und zu bewähren, werden in Kap. 3 und 4 mit der nüchternen und
überindividuell ausgerichteten soziologischen Frage konfrontiert: Für welche
im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess hervorgerufenen psychischen,
physischen und sozialen Probleme signalisieren diese Selbstgefährdungspraktiken
eine Lösung zu sein? Die Ausführungen über die Angstlust und das Lebendigkeitsbegehren
der Abenteuer- und Risikoakteure, über ihre Suche nach Einzigartigkeit,
Gewissheit, Lebendigkeit, Körper- und Selbsterfahrung sowie nach
Raum- und Gegenwartserlebnissen zeigen, dass man sehr viel von der Wirkungsweise
funktionaler Differenzierung und der Durchrationalisierung der unterschiedlichen
Lebenswelten zu sehen bekommt, wenn man extreme Betätigungen
nicht isoliert auf Instinkte, Triebe, Gene, hormonal gesteuerte Bedürfnisse,
frühkindliche Traumata, anthropologische Gesetzmäßigkeiten oder autonome
psychische Befindlichkeiten zurückführt, sondern hierfür vielmehr die
moderne Gesellschaft mit ihrem Möglichkeits- und Wirkungsreichtum in Rechnung
stellt.
Der vierte Themenschwerpunkt analysiert in drei Einzelstudien ein Problemfeld,
das für den Sport eine systemgefährdende Sprengkraft besitzt: das Dopingphänomen.
Wenn immer mehr Beobachter den Spitzensport pauschal als
Spritzensport ansehen und nicht mehr bereit sind, über die weit verbreiteten devianten
Praktiken hinwegzusehen, steht nicht nur der gute Ruf des Sports auf
dem Spiel, auch die Ressourcenzuweisungen relevanter Umfeldakteure stehen
in Gefahr, eingestellt oder erheblich reduziert zu werden. Eine Ahnung, welche
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Konsequenzen hieraus für den Sport resultieren können, lässt sich durch einen
Blick in die Entwicklung der System-Umwelt-Beziehungen notorisch dopingfreundlicher
Sportarten gewinnen. So haben sich wichtige Sponsoren nach den
zahlreichen Skandalen der letzten Jahre gänzlich aus der Unterstützung der
Profiteams im Radrennsport zurückgezogen, um durch die medial verbreiteten
Negativschlagzeilen nicht mitgeschädigt zu werden und eigene Investitionen
ohne einen entsprechenden »return of investment« abschreiben zu müssen.
Vormals klassische Radrennen sind eingestellt worden, weil Kommunen und
lokale Finanzgeber nicht mehr bereit sind, knappe Geldmittel in eine dopingverseuchte
und entsprechend schlecht beleumundete Sportart zu investieren.
Die Möglichkeiten nationaler Athleten, in eigenen Profiteams eine Anstellung
zu erhalten, sind hierdurch erheblich reduziert worden, was einer massiven Deprofessionalisierung
des nationalen Radsports gleichkommt. Als besonders folgenreich
für die Beziehungsgestaltung zwischen Spitzensport und Wirtschaft
erwies sich der tatsächliche oder auch nur angedrohte Rückzug des öffentlichrechtlichen
Fernsehens aus der Life-Berichterstattung bei den großen Rennen.
Eine ähnliche Situation bahnt sich in anderen Sportarten an. Den Veranstaltern
klassischer Turniere im Reitsport drohen die öffentlich-rechtlichen Medien mit
einem Rückzug aus der Fernsehberichterstattung, wenn der internationale Verband
weiterhin darauf verzichtet, die hohen Standards der europäischen Tierschutzverordnungen
anzuerkennen. Auch den Profi-Boxställen wird ein medialer
Rückzug angedroht, wenn die Promoter keine überraschend durchgeführten
Trainingskontrollen bei ihren Athleten zulassen.
Am Anfang der Dopinganalyse steht in Kap. 5 eine soziologische Beobachtung
zweiter Ordnung. Wie wird Doping beobachtet und rekonstruiert? Eine
Abklärung dieses Sachverhalts ist wichtig und unverzichtbar, weil der Umgang
mit Doping in maßgeblicher Weise davon abhängt, wie der organisierte Sport
und wichtige Umfeldakteure das Problemfeld beobachten und beschreiben und
auf welcher Erkenntnisgrundlage sie ihre Maßnahmen gegen die Dopingdevianz
organisieren. Als problemverschärfend hat sich bis heute der personalisierende
und singularisierende Umgang mit Doping in Sport, Recht, Pädagogik
und Massenmedien erwiesen. Dopingvergehen werden in den dort ablaufenden
Diskursen nahezu ausschließlich dem Fehlverhalten einzelner Menschen zugerechnet.
Damit kommt eine Technik zur Reduktion von Komplexität zum Einsatz,
die weniger der analytischen Durchdringung der Dopingrealität dient, als
vielmehr dem Latenzschutz des organisierten Sports. Die Wirkungen multipler
Akteurverstrickungen zwischen Sport, Wirtschaft, Politik, Massenmedien und
Publikum werden dabei nachhaltig ausgeblendet. Auch der immer wieder zu
hörende Ruf, doch endlich den Hintermännern das Handwerk zu legen, stellt
nichts anderes als den Versuch dar, die strukturellen Dynamiken, die zum Doping
führen, weiterhin zu missachten und Doping in einer penetrant simplifizie12
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renden Weise kontrafaktisch an einzelnen Personen festzumachen. Entsprechend
täter- und personenorientiert fallen die Maßnahmen des organisierten
Sports aus, Doping als illegitime Innovation zu eliminieren. Alle Versuche, die
in Hochkostensituationen stehenden Athleten mit ethisch-moralischen Argumenten
gegen »böse Mächte« aufzurüsten oder durch eine Kontrollintensivierung
von ihrer Devianz abzubringen, sind bislang fehlgeschlagen, weil Doping,
wie Kap. 6 verdeutlicht, als eine Mehrzweckwaffe auf der Mikroebene des
Spitzensports zum Einsatz kommt, um die typischen biografischen Risiken der
Athletenrolle zu kontern. Nimmt man die Makro- und Mesoebene des Geschehens
zusätzlich ins Visier, erscheint Doping als ein transintentionales Phänomen
(Kap. 7), dass sich durch Akteurverstrickungen hartnäckig in der Gegenwartsgesellschaft
festgesetzt hat und strukturell immer wieder neu angeheizt
wird. Permanenz und Renitenz in der Nutzung illegitimer Verfahren und Mittel
deuten darauf hin, dass im Spitzensport überindividuelle Dynamiken am Werk
sind, die sich nicht linear aus den Handlungsabsichten einzelner Personen ableiten
lassen.
Die in diesem Band vorgestellten Studien zur globalen Sportbegeisterung,
zur Soziologie der Sporthelden, zu den diversen Sinnmotiven des Abenteuerund
Risikosports sowie zur Dopingproblematik zielen alle darauf ab, ausgewählte
Erscheinungsweisen des Sports vor dem Hintergrund der Gegenwartsgesellschaft
zu durchleuchten. Mit dieser Erweiterung der Perspektive lassen
sich Blicke auf den Sport werfen, die komplexer und variantenreicher ausfallen
als rein personen-, daten- oder wesensorientierte Zugriffsweisen. So kann mit
Hilfe einer theoretisch interessierten Soziologie ein Weltausschnitt in einer erfrischend
anderen Weise erhellt und auf den Punkt gebracht werden, der trotz
des großen öffentlichen Zuspruchs in vielen Bereichen intransparent geblieben
ist. Schließlich verfolgen die hauptsächlichen Beobachter des Sports, das
Sportpublikum und die Massenmedien, keine wissenschaftlich-analytischen
Interessen, wenn sie dem Geschehen in den Arenen und Hallen beiwohnen oder
darüber in immer wieder neu anschwellenden Wörter- und Bilderfluten berichten.
Die einen wollen, schlicht formuliert, einfach nur ihren Spaß haben und
sich amüsieren; die anderen sind darauf aus, Informationen zu übermitteln,
Aufmerksamkeit zu erzielen und eigene Einschaltquoten und Auflagen zu erhöhen.
All dies ist legitim und in der Gegenwartsgesellschaft sozialstrukturell tief
verankert. Gründe, sich akademisch mit den von Zuschauern oder Medien generierten
Einsichten zufriedenzugeben, gibt es allerdings nicht. Demgegenüber
lassen sich viele Gründe finden, um den Sport und dessen Beobachter und Nutzer
zusätzlich mit dem Theorieinventar der Soziologie zu durchleuchten. Denn
offensichtlich hat die moderne Gesellschaft durch die Ausgliederung sowohl
des Zuschauer- als auch des Teilnehmersports auf Errungenschaften und Probleme
reagiert, die sie durch ihr funktionales Differenzierungsprinzip selbst herVORWORT
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vorgerufen und hinter dem Rücken der Akteure auf Dauer gestellt hat (Bette
2010: 5ff., 87ff.). Hieraus lässt sich eine wichtige Forderung ableiten: Wer die
Moderne im Rahmen soziologischer Gesellschaftsdiagnosen umfassend auf den
Begriff bringen möchte, darf über den Sport nicht schweigen!
Eine sportsoziologische Aufklärung hat allerdings nicht nur die verschiedenen
Erscheinungs- und Nutzungsformen des Sports zu analysieren; sie hat ihr
Aufklärungsgeschäft vielmehr auch auf jene Instanz auszudehnen, die mit einem
derartigen Begehren an die Öffentlichkeit tritt. Eine sportsoziologische
Aufklärung muss, anders formuliert, sich selbst zum Thema machen und reflexive
und rekursive Schleifen in ihre Beobachtungen und Beschreibungen einbauen.
Eine derartige Vorgehensweise ist spätestens dann unverzichtbar, wenn
eine Disziplin wie die Sportsoziologie bereits Wirkungen im Sport hinterlassen
hat, und dieser Sozialbereich infolge dessen nicht mehr als eine vollkommen
wissenschaftsfreie Zone angesehen werden kann. Dringen Beobachtungen
zweiter Ordnungen in die Beobachtungen erster Ordnung vor und übernehmen
dort eventuell sogar Orientierungs- und Steuerungsfunktionen, hat sich dies im
Selbstverständnis der betreffenden Wissenschaftsdisziplin entsprechend niederzuschlagen.
Man denke nur an die »Versozialwissenschaftlichung« der Sportsprache,
das Hineindiffundieren sportsoziologischer Erkenntnisse in die Sportlehrer-
und Trainerausbildung, die Irritationen der korporativen Sportakteure
durch sportsoziologische Doping- und Hooliganstudien oder an die empirischen
Daten, die durch Kommissionsberichte und Bestandsanalysen in den organisierten
Sport hineingelangt sind. Das letzte Kapitel stellt deshalb die Sportsoziologie
selbst in den Mittelpunkt der analytischen Bemühungen und nimmt
damit in einem abschließenden Schwerpunkt eine Abklärung der sportsoziologischen
Aufklärung vor.

Darmstadt, im November 2010 Karl-Heinrich Bette