„Verstehen reicht von dem Auffassen kindlichen Lallens bis zu dem des Hamlet oder der Vernunftkritik.“, lautet das berühmte Zitat von Wilhelm Dilthey, den Begründer (moderner) Geisteswissenschaften, aus seinem Aufsatz „Die Entstehung der Hermeneutik“(1900). Der Philosoph begriff Hermeneutik nicht nur als „Kunstlehre der Auslegung“ aller sprachlichen Äußerungen, sondern auch als hermeneutische Philosophie, als einen bestimmten Modus der Welterschließung. Angesichts eines in den Wissenschaften zunehmenden Gap zwischen den beiden großen Wissenschaftskulturen, den Kulturwissenschaften und den mathematisch-naturwissenschaftlich-technischen Wissenschaften, kann Hermeneutik ebenso verstanden werden als eine Reflexions- und Vermittlungsinstanz inter- und transdisziplinären Verstehens zwischen den Wissenschaftsfamilien.
Eine solche Auffassung von Hermeneutik lag dem von Rainer J. Kaus geleiteten interdisziplinären Symposium „Hermeneutik im Dialog der Methoden“ zugrunde. Es fand mit internationaler Beteiligung am 17./18.1.2020 an der Universität Köln statt. Die Beiträge der Veranstaltung erschienen in gedruckter Form in dem Band „Hermeneutik im Dialog der Methoden. Reflexionen über das transdisziplinäre Verstehen“. Herausgeber des im transcript Verlag publizierten Buches sind Rainer J. Kaus und Hartmut Günther. Die 12 aufschlussreichen Beiträge stammen von Wissenschaftler:innen unterschiedlicher Disziplinen, nämlich der Germanistik, Philosophie, Psychologie, Medizin und Physik. Naturwissenschaftler zeigen in ihren Aufsätzen die Bedeutung des Interpretierens für ihre Fachdisziplinen auf. Germanist:innen demonstrieren die Vielfalt hermeneutischer Methoden innerhalb ihrer Disziplin und ihre Relevanz für die Literaturdidaktik. Philosophen widmen sich Fragen der Wissenschaftstheorie der Hermeneutik und der Intersubjektivität. Psycholog:innen verdeutlichen in ihren Texten, dass die Methode der Psychoanalyse empirische, systemische und historische Dimensionen der Hermeneutik miteinander produktiv verbindet. Die kaleidoskopartige Beleuchtung des Profils der Hermeneutik von Wissenschaftler:innen unterschiedlicher Disziplinen kann zum Abbau von in der Öffentlichkeit und in manchen Fachdisziplinen noch immer verbreiteten Vorurteilen gegenüber dieser Reflexions- und Vermittlungsinstanz beitragen. Lehrkräfte der Fächer Philosophie, Deutsch und Psychologie werden durch die Aufsätze des Buches motiviert, in ihrem Unterricht über Hermeneutik und ihre Methoden zu reflektieren.
Fazit: Der Symposiumsband „Hermeneutik im Dialog der Methoden“ belegt eindrücklich die Aktualität der Hermeneutik im 21. Jahrhundert für alle Wissenschaften und für ihren transdisziplinären Austausch miteinander.

Dr. Marcel Remme, für lehrerbibliothek.de

Rainer J. Kaus / Hartmut Günther (Hg.)
Hermeneutik im Dialog der Methoden
Reflexionen über das transdisziplinäre Verstehen
Hermeneutik, die Kunst des methodisch geleiteten Verstehens, hat seit ihrem ersten Höhepunkt zu Beginn des 19. und einem zweiten im 20. Jahrhundert enorm an Bedeutung gewonnen. Die Akkumulation des Wissens und die wachsende Ausdifferenzierung der Wissenschaften lassen den Bedarf an gegenseitigem Verstehen sowohl innerhalb der einzelnen Wissenschaftsdisziplinen als auch zwischen ihnen, wie z.B. Kultur- und Naturwissenschaften, wachsen. Die Beiträger*innen des Bandes zeigen, dass das inter- wie transdisziplinäre Verstehen einer methodisch geleiteten Reflexion bedarf, also der Hermeneutik. Sie leisten somit einen Beitrag zur Verständigung zwischen den hermeneutischen Methoden selbst und zeigen, dass dabei auch das öffentliche wie zwischenmenschliche (Miss-)Verstehen von den Entwicklungen nicht unberührt bleibt.

Inhaltsverzeichnis