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Kritik der verstehenden Vernunft Eine Grundlegung der Geisteswissenschaften
Kritik der verstehenden Vernunft
Eine Grundlegung der Geisteswissenschaften




Vittorio Hösle

Verlag C. H. Beck oHG
EAN: 9783406725883 (ISBN: 3-406-72588-0)
503 Seiten, hardcover, 14 x 22cm, Juli, 2018

EUR 38,00
alle Angaben ohne Gewähr

Umschlagtext
"Man kann nicht nur anders, man kann auch besser oder schlechter verstehen, ja, auch etwas völlig mißverstehen."

Die Beliebigkeit, die die Geisteswissenschaften zu Anfang des 21. Jahrhunderts kennzeichnet, hat viele Ursachen. Eine zentrale ist das Fehlen von Klarheit hinsichtlich grundlegender Begriffe, Methoden und Aufgaben dieser Wissenschaften. Die Beseitigung dieses Mankos unternimmt Vittorio Hösle in diesem wegweisenden Buch. Insbesondere geht es ihm darum, die Möglichkeit intersubjektiv gültigen Verstehens aufzuzeigen. Denn das Bestreiten dieser Möglichkeit, wie es postmodern gang und gäbe geworden ist, gefährdet die Geisteswissenschaften in ihrer Substanz.

"Eine suggestive und autoritative Studie."

George Steiner über Vittorio Hösles Der philosophische Dialog
Rezension
Was ist der Sinn und Zweck der Geisteswissenschaften? Welche Wissenschaften zählen zu dieser Wissenschaftsfamilie? Sind Geisteswissenschaften im postfaktischen Zeitalter obsolet? In welchem Verhältnis stehen Philosophie und Geisteswissenschaften zueinander? Welches sind die prinzipiellen Voraussetzungen des Verstehens? Welche Formen des Verstehens lassen sich unterscheiden? Lässt sich mithilfe der Begriffe mentale Akte, Noema, Intentionalität, Rationalität, Sprache und Verstehen die Strukturlogik der Geisteswissenschaften erfassen? Welcher Methodologie bedienen sich die Geisteswissenschaften? Welche reduktionistischen Auffassungen von Geisteswissenschaften lassen sich nachweisen? Wie sieht das Profil zukünftiger Geisteswissenschaften aus?
Wer Antworten auf diese Fragen sucht, wird sie finden in dem neuen Buch von Vittorio Hösle (*1960) „Kritik der verstehenden Vernunft. Eine Grundlegung der Geisteswissenschaften“, erschienen bei C. H. Beck. Schon mit der Titelwahl macht der Paul Kimball Professor of Arts and Letters an der University of Notre Dame deutlich, dass er sein Werk in der Tradition von Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“ und Wilhelm Diltheys „Kritik der historischen Vernunft“ verortet sieht. So verfolgt Hösle mit seiner Untersuchung das Ziel, Bedingungen der Möglichkeit, d. h. prinzipielle Grundlagen des Verstehens zu eruieren. Dieses sei notwendig, da seiner Diagnose nach die Geisteswissenschaften am Beginn des 21. Jahrhunderts in einer Krise stecken, was sich an ihrem defizitären wissenschaftstheoretischen, insbesondere ihrem unklaren begrifflichen Profil offenbare.
Dem möchte Hösle durch sein Werk abhelfen, das von Kants Erkenntnistheorie, Diltheys hermeneutischer Philosophie, William James` Psychologie, Edmund Husserls Phänomenologie, John Searles Sprechakttheorie, Paul Grices Bedeutungstheorie und David Davidsons Transzendentalphilosophie inspiriert ist. Auch wenn die von Hösle im Buch präsentierten philosophischen Einsichten überwiegend keinen Neuigkeitswert für sich reklamieren können, was er auch zugesteht, liegt seine Leistung darin, diese systematisch zu einer Grundlegung der Geisteswissenschaften zu verknüpfen. Hermeneutik begreift der Philosophieprofessor dabei als eine „Unterdisziplin der Erkenntnistheorie“, die den normativen Anspruch erhebt, Kriterien zu formulieren, um „richtiges Verstehen von Mißverstehen zu unterscheiden“ (S. 14).
Zu Recht identifiziert er im „Bestreiten der Möglichkeit intersubjektiv gültigen Verstehens“ (S. 13) einen Generalangriff auf die Geisteswissenschaften. Gegenüber erkenntnistheoretischen Relativismusvarianten, beispielsweise von postmodernen Denkern und radikalen Konstruktivisten, vertritt Hösle einen „objektiven Idealismus der Intersubjektivität“ (S. 16), dessen Fruchtbarkeit in Bezug auf die Fundierung der Geisteswissenschaften er überzeugend darzulegen weiß. Gerade sein Plädoyer für ein Festhalten am Wahrheitsanspruch der Geisteswissenschaften verdient in postfaktischen Zeiten besonderes Gehör. Hösle gelingt es in seiner Monographie produktiv, sprachphilosophische Einsichten Analytischer Philosophie mit Erkenntnissen ‚traditioneller‘ Philosophie zu verbinden.
Erwähnung verdient auch Hösles präzise Kritik an dem Traditionalismus der philosophischen Hermeneutik Hans-Georg Gadamers. Hösles Darstellung und Kritik von Diltheys Philosophie der Geisteswissenschaften wird allerdings der Komplexität der „erkenntnistheoretisch-logisch-methodologischen Grundlegung der Geisteswissenschaften“(Hans-Ulrich Lessing) nicht gerecht. Dilthey-Forscher wie Frithjof Rodi, Gunter Scholtz, Gudrun Kühne-Bertram oder Hans-Ulrich-Lessing haben eine deutlich differenzierte Sichtweise auf den Begründer moderner Geisteswissenschaften erarbeitet. Schriften zur hermeneutischen Logik u.a. von Georg Misch, Hans Lipps oder Josef König werden von Hösle in seiner „Grundlegung“ ebenfalls nicht berücksichtigt.
Fazit: Vittorio Hösles Buch „Kritik der verstehenden Vernunft“ leistet einen sprachanalytischen Beitrag zur Profilierung der Geisteswissenschaften, der in der philosophischen Community rezipiert und diskutiert werden sollte. Philosophielehrkräfte werden durch das Werk zudem angeregt, sich in ihrem Unterricht mit theoretischen Grundlagen der Geisteswissenschaften differenziert auseinander zu setzen.

Dr. Marcel Remme, für lehrerbibliothek.de
Verlagsinfo
Hösle, Vittorio
Kritik der verstehenden Vernunft

Eine Grundlegung der Geisteswissenschaften
Die Beliebigkeit, die die Geisteswissenschaften zu Anfang des 21. Jahrhunderts kennzeichnet, hat viele Ursachen. Eine zentrale ist das Fehlen von Klarheit hinsichtlich grundlegender Begriffe, Methoden und Aufgaben dieser Wissenschaften. Die Beseitigung dieses Mankos unternimmt Vittorio Hösle in diesem wegweisenden Buch. Insbesondere geht es ihm darum, die Möglichkeit intersubjektiv gültigen Verstehens aufzuzeigen. Denn das Bestreiten dieser Möglichkeit, wie es postmodern gang und gäbe geworden ist, gefährdet die Geisteswissenschaften in ihrer Substanz.
Vittorio Hösles grundlegendes Werk setzt mit der Erkenntnis ein, daß zwischen dem Verstehen von Aussagen in der eigenen Muttersprache und den akrobatischen Interpretationsleistungen, die etwa der Entzifferer einer verschollenen Schrift vollbringt, zwischen Lebenswelt und Geisteswissenschaft also, eine erstaunliche Kontinuität waltet. Dabei geht er davon aus, daß die Hermeneutik eine Unterdisziplin der Erkenntnistheorie und daher normativ ausgerichtet ist – es geht in ihr darum, richtiges Verstehen von Mißverstehen zu unterscheiden. Denn man kann nicht nur anders, man kann auch besser oder schlechter verstehen, ja, auch etwas völlig mißverstehen. Doch Hösles Buch bietet nicht nur eine ausführliche, von Kant inspirierte Analytik und Systematik der komplexen Akte des Verstehens unter Berücksichtigung etwa auch der Jurisprudenz und der Theologie. Ebenso unterzieht es einseitige hermeneutische Theorien der Kritik, darunter auch Freuds Psychoanalyse. Ein dritter und abschließender Teil schließlich liefert eine kurze Geschichte der Hermeneutik, von der Antike bis Gadamer und Davidson, mit einem Ausblick auf die Geisteswissenschaften der Zukunft.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort 13

1. Analytik des Verstehens 19
1.1. Formale Kennzeichen des Verstehens 20
1.2. Gegenstände und Akte des Verstehens 49
1.3. Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens. Transzendentalphilosophie und objektiver Idealismus 281

2. Dialektik des Verstehens 333
2.1. Behavioristische Hermeneutik. Die Fokussierung auf das Verhalten bei Quine 335
2.2. Noetische Hermeneutik. Die Fokussierung auf das Erleben bei Dilthey 340
2.3. Noematische Hermeneutik 370

3. Eine kurze Geschichte der Hermeneutik 403
3.1. Antike und Mittelalter: Wahrheit statt Sinn 404
3.2. Das Verstehen von Sinn unabhängig von seiner Wahrheit 440
3.3. Die Wiedergewinnung der Wahrheitsdimension der Hermeneutik bei Gadamer und Davidson 467
3.4. Die Geisteswissenschaften der Zukunft 476

Anhang 483
Bibliographie 483
Personenregister 497